Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 09.05.2008, Az.: 2 A 24/07

Ausnahme; Ausweisung; Ausweisungsgrund; Entwicklung; familiär; Kind; Kindeswohl; Kontakt; Lebensgemeinschaft; Regel; Strafhaft

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
09.05.2008
Aktenzeichen
2 A 24/07
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2008, 55080
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Der am … geborene Kläger ist libanesischer Staatsangehöriger und reiste gemeinsam mit seiner Familie am 19. April 1985 in die Bundesrepublik Deutschland ein. 1998 heiratete er die deutsche Staatsangehörige G. H.. Aus der mittlerweile geschiedenen Ehe gingen eine im Februar 1999 geborene Tochter und ein im April 2002 geborener Sohn hervor. Die frühere Ehefrau lebt mit den Kindern des Klägers in I.. Seit etwa Mitte 2004 lebte der Kläger in E. mit der deutschen Staatsangehörigen J. K. zusammen, mit der er eine am 29. November 2004 geborene Tochter hat.

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Seit dem 10. Dezember 1990 erteilte die Beklagte dem Kläger aufgrund der Bleiberechtsregelung für libanesische Flüchtlinge vom 18. Oktober 1990 fortlaufend Aufenthaltserlaubnisse. Nach der Eheschließung mit Frau H. erhielt er Aufenthaltserlaubnisse (nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes fortgeltend als Niederlassungserlaubnisse) aufgrund der Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen, zuletzt bis zum 4. November 2003.

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Seit seinem 14. Lebensjahr ist der Kläger regelmäßig straffällig geworden. Zuletzt ist er durch rechtskräftiges Urteil vor dem Landgericht E. vom 18. Juli 2006 (6 Ks 9/05) wegen zweier, am 21. November 2004 und am 26. Mai 2005 begangenen Straftaten wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden. Das Gericht bezog eine rechtskräftige Verurteilung durch Urteil des Amtsgerichts E. vom 17. Januar 2005 (37 Ds 45 Js 8626/04-320/04) wegen vorsätzlicher Körperverletzung, begangen am 10. Januar 2004 zu 6 Monaten Freiheitsstrafe, die zur Bewährung bis zum 16. Januar 2008 ausgesetzt war, ein. Der Kläger befand sich seit dem 10. Juni 2005 in Untersuchungshaft und hat seine Strafe am 13. Oktober 2006 angetreten. Das Strafende ist auf den 13. März 2011 festgesetzt, der Termin für die Verbüßung von 2/3 der Haft auf den 11. September 2009. Er hält aus der Haft heraus sowohl zu seinen I. lebenden Kindern wie auch zu seiner in E. lebenden jüngsten Tochter regelmäßigen Kontakt. Mit den Kindern in I. telefoniert er regelmäßig und sie besuchen ihn etwa einmal jährlich. Seine jüngste Tochter und seine Lebensgefährtin besuchen ihn einmal im Monat im gesetzlich vorgesehenen Höchstumfang. Derzeit nimmt der Kläger an einer Qualifizierungsmaßnahme “Garten- und Landschaftsbau“ teil. Während der Haft hat er schon in der JVA L. an einem sozialen Training „Soziale Kompetenz“ und in der JVA M. an einer Gruppe „Ohne Gewalt“ teilgenommen. Von den Betreuern des Psychologischen Dienstes der JVA M. wurde ihm unter dem 8. Mai 2008 eine aktive und konstruktive Mitarbeit in der Gruppe bescheinigt. Sobald in der JVA M. ein soziales Training eingerichtet werden wird, soll der Kläger ausweislich des Vollzugsplans der JVA M. vom 11. Dezember 2007 daran teilnehmen. Eine Teilnahme an der Gewaltstraftätergruppe ist nach Aussage des psychologischen Dienstes aufgrund der fortgeschrittenen Tataufarbeitung nicht angezeigt. Alle 14 Tage führt die Mitarbeiterin des psychologischen Dienstes der JVA M., Frau Dipl. Psychologin N., eine Gesprächstherapie mit dem Kläger durch. Ausweislich deren Berichts vom 6. März 2008 habe eine ausführliche Tataufarbeitung stattgefunden. Der Kläger nehme eigeninitiativ und über die ausgesprochenen Behandlungsempfehlungen hinaus die Behandlungsangebote des psychologischen Dienstes in Anspruch, wie dies auch schon aus L. berichtet worden sei. Zudem hält er regelmäßigen, etwa vierzehntägigen Kontakt mit seinem ehemaligen Psychotherapeuten, dem Zeugen O., von der Kontakt- und Beratungsstelle für Jugendliche und junge Erwachsene der Universität E.. Mit diesem Dipl. Psychologen arbeitet er als wichtigstes Thema seine Aggressionsbereitschaft auf, erarbeitet sozial verträgliche Konfliktstrategien und versucht, die Steuerungsfähigkeit seines Verhaltens zu verbessern. Auch geht es um eine realistische Zukunftsplanung. Aus Sicht des Zeugen, dargelegt in seinem psychotherapeutischen Bericht vom 25. April 2008, bestehe die berechtigte Annahme, dass der Kläger aus seinem bisherigen Leben die wichtigen und notwendigen Lehren gezogen habe (und auch noch weiter daran arbeite), um ein sozial verantwortliches Leben zu führen. Schließlich ist der Kläger durch Schmerzensgeldzahlungen an das Opfer seiner Straftat um finanzielle Wiedergutmachung bemüht.

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Die Beklagte hatte den Kläger in der Vergangenheit mehrfach schriftlich und eindringlich mündlich ermahnt sich künftig straffrei zu führen, andernfalls er ausgewiesen und sein Aufenthaltstitel nicht verlängert werde.

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Nach Erlass des Urteils vom 18. Juli 2006 und vorheriger Anhörung wies die Beklagte den Kläger mit Bescheid vom 11. Januar 2007 aus der Bundesrepublik Deutschland aus. Gleichzeitig lehnte sie seinen am 30. Oktober 2003 gestellten Antrag auf Verlängerung seines Aufenthaltstitels ab und forderte ihn auf, das Bundesgebiet innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheides freiwillig zu verlassen. Für den Fall, dass er bis zum Ablauf der Ausreisefrist das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nicht verlassen haben würde, drohte die Beklagte ihm die Abschiebung in den Libanon oder einen anderen aufnahmebereiten Staat an, wobei sei ankündigte, die Abschiebung erfolge im unmittelbaren Anschluss an die zu verbüßende Haft, wenn er zum Zeitpunkt des Ablaufs der Ausreisefrist noch inhaftiert sei.

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Zur Begründung dieses Bescheides führte die Beklagte aus:

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Durch die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten liege ein zwingender Ausweisungsgrund nach § 53 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz - AufenthG - vor. Da der Kläger als Minderjähriger in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei und sich länger als fünf Jahre rechtmäßig hier aufgehalten habe, könne er sich auf den besonderen Ausweisungsschutz des § 56 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG berufen. Aufgrund der Verurteilung liege ein Regelfall eines schwerwiegenden Grundes der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor. Einen atypischen Fall, der ein Abweichen von dieser Regelung begründen könnte, vermochte die Beklagte nicht zu erkennen. Der Kläger sei nicht integriert, was sich daran zeige, dass er seit seinem Jugendalter straffällig gewesen ist. Diese Straftaten hätten an Intensität zugenommen, obwohl Anfang 2005 eine Haftstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden sei und er auch von ihr, der Beklagten, mehrfach wegen dieser Straftaten verwarnt worden sei. Ungeachtet der Tatsache, dass ihm das Sorgerecht für minderjährige Kinder im Bundesgebiet zustehe, sei davon auszugehen, dass es nach einer Haftentlassung zu weiteren Straftaten kommen werde. Trotz dieser Verwarnungen und obwohl er eine Vielzahl pädagogischer Maßnahmen (z. B. Antiaggressionstraining) erhalten habe, habe er bislang eine Verhaltensänderung nicht erkennen lassen. Sein Interesse am Verbleib in Deutschland sowie das Wohl seiner in Deutschland lebenden Kinder müssten gegenüber dem Interesse der Allgemeinheit an einer Aufenthaltsbeendigung zurücktreten.

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Zudem habe er einen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nicht. Zwar käme ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach §§ 28 Abs. 1 Nr. 3 und 31 AufenthG in Betracht; die ihm zur Last gelegten Straftaten rechtfertigten jedoch ungeachtet der verfügten Ausweisung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG die Ablehnung seines Verlängerungsantrages. Aus dem gleichen Grunde könne er sich auch nicht auf eine Bleiberechtsregelung (§ 23 Abs. 1 AufenthG) berufen. Aus dem Umstand, dass er nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels sei, rechtfertige sich die Abschiebungsandrohung.

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Hiergegen hat der Kläger am 9. Februar 2007 Klage erhoben.

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Zu deren Begründung beruft er sich auf seine Beziehung zu seinen deutschen Kindern, insbesondere zu der am 29. November 2004 geborenen Tochter P.. Ergänzend trägt er vor, er wolle während der Haft seinen Hauptschulabschluss nachholen und eine Ausbildung machen. Außerdem habe er an einem Antiaggressionstraining teilgenommen und sei in ständiger psychologischer Behandlung. Die Haftstrafe habe in seinem Verhalten eine deutliche Zäsur bewirkt. Er wolle seinen Kindern ein guter Vater sein. Zum Zeitpunkt der Straftaten habe er unter einer Persönlichkeitsstörung gelitten, der er aber durch zahlreiche Maßnahmen während der Haft entgegenwirke. Mit einer erneuten Straffälligkeit nach Verbüßung der Strafhaft sei nicht zu rechnen.

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Der Kläger beantragt,

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die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 11. Januar 2007 zu verpflichten, dem Kläger eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie hält ihren Bescheid in dem nach ihrer Ansicht maßgeblichen Zeitpunkt seines Erlasses für rechtmäßig. Trotz mehrfacher Verwarnungen sei der Kläger weiter straffällig geworden. Weder seine Familie noch sein Bewährungshelfer hätten ihn von weiteren Straftaten abhalten können. Daraus ließe sich der Schluss ziehen, dass dem Kläger diese Bindungen nicht wichtig genug seien. Ein atypischer Fall der Ausweisungstatbestände liege nicht vor. Zwei seiner Kinder lebten weit weg und die Erziehungsleistung des Klägers für sein jüngstes Kind sei infolge der Haft gering. Zudem sei er wirtschaftlich nicht verwurzelt; er habe weder einen Schulabschluss noch eine Ausbildung. Arabische Sprachkenntnisse seien vorhanden, da seine Eltern nur arabisch sprächen und er mit ihnen deshalb diese Sprache sprechen müsse. Zudem lebe in Libanon ein Bruder, der dorthin abgeschoben worden sei.

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Das Gericht hat zu den Inhalten der Gespräche des Klägers mit dem Diplom Psychologen O. durch Vernehmung des Therapeuten als Zeugen Beweis erhoben. Wegen der Einzelheiten seiner Aussagen wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist im Wesentlichen begründet.

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Der Bescheid der Beklagten vom 11. Januar 2007 ist rechtswidrig, soweit der Kläger mit ihm ausgewiesen wird, sein Antrag auf Verlängerung seines Aufenthaltstitels abgelehnt wird und soweit er aufgefordert wird, das Bundesgebiet zu verlassen und für den Fall der Nichtbefolgung die Abschiebung angedroht wird.

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Die in dem Bescheid des Beklagten vom 11. Januar 2007 verfügte Ausweisung ist rechtswidrig.

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Entgegen der Ansicht der Beklagten kommt es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts an (BVerwG, Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - AuAS 2008, 40).

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Zwar hat die Beklagte zu Recht erkannt, dass der Kläger einen zwingenden Ausweisungsgrund nach § 53 Nr. 1 AufenthG erfüllt hat und gem. § 56 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz genießt, so dass er gem. § 56 Abs. 1 S. 4 AufenthG in der Regel ausgewiesen werden kann. Die Beklagte hat jedoch zu Unrecht einen atypischen Fall, der eine Ausnahme von dieser Regel rechtfertigt, verneint. Hieraus folgt, dass die Beklagte die Ausweisung ermessensfehlerhaft verfügt hat.

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Die Kammer folgt der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, das einen Ausnahmefall von der Regelausweisung - und damit die Notwendigkeit einer behördlichen Ermessensentscheidung - bereits dann als gegeben erachtet, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten. Der bisherige Maßstab, der ergebnisbezogen auf die Unvereinbarkeit der Ausweisung mit höherrangigem Recht abstellte, reicht nach den Erfahrungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht aus, um den von Artikel 6, Artikel 2 Abs. 1 GG und Artikel 8 EMRK geschützten Belangen in der Praxis zu einer ausreichenden Berücksichtigung zu verhelfen. Insbesondere bei der im Laufe der Zeit angewachsenen Gruppe im Bundesgebiet geborener und/oder aufgewachsener Ausländer bedarf es bei der Entscheidung über eine Ausweisung einer individuellen Würdigung, inwieweit der Ausländer im Bundesgebiet verwurzelt ist und dies angesichts der konkreten Ausweisungsgründe bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalles nach Ausweisung entgegensteht. Dem könne nicht entgegengehalten werden, dass diese Auslegung unter Umständen dazu führe, dass es mehr Ausnahmefälle als Regelfälle gebe und dies dem Willen des Gesetzgebers widerspreche. Denn für die Abgrenzung von Regel- und Ausnahmefall kommt es nicht auf das quantitative Verhältnis der Fallgruppen an, sondern auf eine wertende Betrachtung unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Vorgaben. Allerdings ist mit der Absenkung der Schwelle für das Vorliegen eines Ausnahmefalles die Ermessensentscheidung über die Ausweisung nicht etwa negativ präjudiziert. Bei Annahme eines von der Regel abweichenden Falles fehlt den Ausweisungsgründen nur das von vornherein ausschlaggebende Gewicht, dass ihnen der Gesetzgeber im Regelfall zugemessen hat. Liegt ein Ausnahmefall vor, sind die Ausweisungsgründe mit dem Gewicht, das in dem gestuften System der Ausweisungstatbestände zum Ausdruck kommt, in die Ermessensentscheidung einzubeziehen (BVerwG, Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 -, AuAS 2008, 28).

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Die Beklagte hat Ermessen nicht ausgeübt, sondern ist von dem Vorliegen eines Regelfalles ausgegangen. Dies macht die Ausweisung rechtswidrig. Zum einen deshalb, weil bestimmte Gesichtspunkte nicht in die Entscheidung der Beklagten eingeflossen sind, zum anderen, weil andere nicht mit dem ihnen zukommenden Gewicht in die Entscheidung eingestellt wurden.

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Die Beklagte hat die fortdauernde psychologische Betreuung des Klägers durch den Zeugen Hellwig ebenso wenig berücksichtigt wie seine Gespräche mit der Psychologin N. der JVA M.. Deren positive Aussagen zu der Möglichkeit, dass der Kläger nach Verbüßung der Strafhaft werde straffrei leben können, blieben ohne Auswirkung auf die Entscheidung der Beklagten. Ferner blieben seine Teilnahme an Anti-Gewalt-Projekten und seine begonnene Ausbildung unberücksichtigt. Vom Rechtsstandpunkt der Beklagten aus gesehen, für die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung komme es auf den Zeitpunkt des Bescheiderlasses an, geschah dies folgerichtig. Indes kann dieser Ansatz nach der von der Kammer geteilten, zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht geteilt werden. Vielmehr muss die weitere Entwicklung des Klägers während der Strafhaft bei der von der Beklagten zu treffenden Ermessensentscheidung Beachtung finden. Eine Nachholung derartiger Erwägungen im gerichtlichen Verfahren gemäß § 114 Satz 2 VwGO ist nicht möglich, so dass das Gericht die Beklagte hierzu auch nicht aufgefordert hat. Denn Ermessenserwägungen hat die Beklagte ausdrücklich in dem angefochtenen Bescheid vom 11. Januar 2007 nicht angestellt. Es ginge daher nicht um die Ergänzung von Ermessenserwägungen, sondern um die, von § 114 Satz 2 VwGO nicht gedeckte, erstmalige Ausübung von Ermessen. Um hier die Möglichkeit ergänzender Ermessenserwägungen bis zum Zeitpunkt der letzten Tatsachenentscheidung zu eröffnen, rät das Bundesverwaltungsgericht den Ausländerbehörden, von einem Ausnahmefall auszugehen oder zumindest hilfsweise nach Ermessen zu entscheiden. Diese Vorgehensweise mache eine Ausweisungsverfügung nicht rechtsfehlerhaft, auch wenn die spätere Prüfung ergeben sollte, dass ein Regelfall vorlag (BVerwG, Urteil vom 23.10.2007, a.a.O.). Ein solches Vorgehen würde es der Ausländerbehörde auch ermöglichen, auf aktuelle Entwicklungen bis zur letzten Tatsachenentscheidung ermessensfehlerfrei zu reagieren.

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Zudem hat die Beklagte in rechtlicher Hinsicht verkannt, dass der Kläger zumindest mit seiner am 29. November 2004 geborenen Tochter P. eine familiäre Lebensgemeinschaft führt, die durch Artikel 6 Abs. 2 S. 1 GG und Artikel 8 EMRK geschützt ist.

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Er hat für seine Tochter gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin, Frau K., das Sorgerecht. Soweit die Beklagte ausführt, zwei seiner Kinder lebten in I. und auch für das in E. lebende Kind sei seine Erziehungsleistung als gering einzustufen, weil er sich in Haft befinde, wird dies verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 8. Dezember 2005 (Aktenzeichen 2 BvR 1001/04, DVBl. 2006, 247) ausgeführt, dass eine familiäre Lebensgemeinschaft auch vorliegen könne, wenn eine Hausgemeinschaft nicht bestehe. Auch unabhängig von der Übertragung des Sorgerechts sei der persönliche Kontakt mit dem Kind in Ausübung eines Umgangsrechts Ausdruck und Folge des natürlichen Elternrechts und der damit verbundenen Elternverantwortung und daher unter den Schutz des Artikels 6 Abs. 2 S. 1 GG gestellt. Dabei sei jeweils im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt werde und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl habe. Regelmäßige Kontakte des getrennt lebenden Elternteils mit seinem Kind und die Übernahme elterlicher Erziehungs- und Betreuungsverantwortung sowie eine emotionale Verbundenheit könnten das Vorliegen einer familiären Lebensgemeinschaft zum Ausdruck bringen. Diese sei getragen von tatsächlicher Anteilnahme am Leben und Aufwachsen des Kindes.

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Gemessen an diesen Grundsätzen muss hier von einer familiären Lebensgemeinschaft des Klägers sowohl mit seinen in I. lebenden Kindern wie auch insbesondere mit seiner in E. lebenden Tochter gesprochen werden. Wie der Kläger, bestätigt durch eine schriftliche Äußerung der Mutter der Kinder, dargelegt hat, pflegt er regelmäßigen, vor allem telefonischen Kontakt mit seinen Kindern in I., soweit dies aus der Haft heraus möglich ist. Noch intensiver ist der Kontakt mit seiner Tochter P., für die er das Sorgerecht hat. Solange der Kläger noch nicht in Haft war, also etwa ein dreiviertel Jahr lang nach der Geburt des Kindes, hat er mit seiner Tochter zusammen gelebt und es gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin betreut. Die damit bestehende familiäre Lebensgemeinschaft wird durch die Verbüßung seiner Haftstrafe nicht unterbrochen. Ebenso wie eine ihrer Natur nach nur vorübergehende unfreiwillige Trennung von Ehegatten durch die Verbüßung einer Strafhaft, wird auch die familiäre Lebensgemeinschaft mit einem Kind unabhängig von der konkreten Dauer der durch die Haft bedingten Trennung grundsätzlich nicht beendet. Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn der Kontakt zwischen dem Elternteil und seinem Kind aufgrund der erzwungenen Unterbrechung in einer Form abreißt, dass nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass die familiäre Lebensgemeinschaft nach Beendigung der Strafhaft wieder gelebt werden könnte. Dies ist hier erkennbar nicht der Fall. Der Kläger hat die Absicht nach Verbüßung der Strafhaft mit seiner Lebensgefährtin und seinem Kind wieder zusammen zu leben. Dies entspricht dem Wunsch der Kindesmutter. Regelmäßige Besuche seiner Lebensgefährtin und seines Kindes in der Strafhaft finden statt. Der Kläger hat in Anbetracht der begrenzt zur Verfügung stehenden Zeit sogar auf andere Besuche als die seiner Lebensgefährtin und seiner Tochter verzichtet, um die zur Verfügung stehende Zeit vollständig mit seiner Familie zu verbringen. Wenn die Beklagte demgegenüber ausführt, die Erziehungsleistung des Klägers sei als gering einzustufen, verkennt sie die verfassungsrechtlichen Vorgaben, wie dargelegt.

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Ob die dargelegten Ermessensgesichtspunkte dazu führen, dass eine Ausweisung gegen den Kläger rechtmäßig nicht verfügt werden kann, hat das Gericht nicht zu entscheiden. Denn bisher sind derartige Ermessenserwägungen von der Beklagten nicht angestellt worden, so dass die Ausweisung ermessensfehlerhaft verfügt worden ist, weil eine Ermessensreduzierung auf Null im Sinne einer zwingenden Ausweisung nicht zu erkennen ist.

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Soweit es um den Schutz der familiären Lebensgemeinschaft des Klägers mit seinen Kindern geht, leidet der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 11. Januar 2007 auch insoweit an einem Rechtsfehler als die Versagung der Verlängerung des Aufenthaltstitels (Niederlassungserlaubnis) nicht ermessensfehlerfrei ausgesprochen worden ist.

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Zutreffend hat die Beklagte erkannt, dass der Kläger die Tatbestandsvoraussetzungen des § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG ebenso erfüllt wie diejenigen des § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG. Soweit die Beklagte allerdings für die Versagung der Verlängerung der Niederlassungserlaubnis auf § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG und die Straftaten des Klägers abhebt, greift dies aus verfassungsrechtlicher Sicht zu kurz.

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Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsgrund vorliegt. Da das objektive Vorliegen des Ausweisungsgrundes für die Anwendbarkeit der Bestimmung ausreicht und es nicht erforderlich ist, dass der Ausländer ermessensfehlerfrei ausgewiesen werden könnte, findet diese Vorschrift auf den Kläger grundsätzlich Anwendung. Ein atypischer Sonderfall, der eine Ausnahme von der in § 5 Abs. 1 S. 1 AufenthG genannten Regel rechtfertigt, liegt jedoch vor, wenn die Versagung der Aufenthaltserlaubnis oder Niederlassungserlaubnis mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen nicht vereinbar wäre. Dazu gehört vor allem der nach Artikel 6 Abs. 1 GG grundrechtlich gebotene Schutz von Ehe und Familie (BVerwG, Beschluss vom 26.03.1999 - 1 B 28.99 -, InfAusR 1999, 332; OVG Lüneburg, Beschlüsse vom 02.11.2006 - 11 ME 197/06 - und vom 29.11.2006 - 11 LB 127/06 -, jeweils zitiert nach der Internetentscheidungssammlung des Gerichts). Auf diesen Schutz kann sich der Kläger, wie im Zusammenhang mit der Ausweisung dargelegt, berufen. Die Beklagte hat mithin nach Ermessen über die Verlängerung der Niederlassungserlaubnis des Klägers zu entscheiden. Eine derartige Ermessensbetätigung fehlt dem angefochtenen Bescheid. Er ist deshalb rechtswidrig. Ob der Kläger im Ergebnis tatsächlich einen Anspruch auf Verlängerung seiner Niederlassungserlaubnis hat, vermag das Gericht nicht zu entscheiden. Das Ermessen der Beklagten ist auch insoweit jedenfalls nicht auf Null reduziert, so dass eine Verpflichtung der Beklagten zur Verlängerung der Niederlassungserlaubnis nicht ausgesprochen werden kann. Vielmehr ist die Beklagte, wie tenoriert, zur Neubescheidung des Verlängerungsantrages unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verpflichten.

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Da der Kläger nach dem vorstehend Gesagten nicht vollziehbar ausreisepflichtig ist, sind auch die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung gem. §§ 58, 59 AufenthG rechtswidrig und deshalb aufzuheben.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO. Dabei gewichtet das Gericht die Aufhebung der Ausweisung und die Verlängerung des Aufenthaltstitels je mit der Hälfte des Streitwertes. Von der auf die Verlängerung des Aufenthaltstitels entfallenen Hälfte hat die Klage nur zur Hälfte Erfolg, weil eine Verpflichtung zur Verlängerung des Aufenthaltstitels vom Gericht nicht auszusprechen ist, sondern nur eine solche zur Neubescheidung.

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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.