Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 17.08.2017, Az.: L 8 AY 17/17 B ER

Anspruchseinschränkung; Asylbewerberleistung; Dublin-III; Relokationsbeschluss; unzureichende Sachverhaltsaufklärung; Verfassungsmäßigkeit des § 1a AsylbLG; Wert des Beschwerdegegenstands

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
17.08.2017
Aktenzeichen
L 8 AY 17/17 B ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 54261
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG - 30.05.2017 - AZ: S 33 AY 18/17 ER

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 4 Satz 1 AsylbLG setzt eine abweichende Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats oder Drittstaats aufgrund eines Relokationsbeschlusses der Europäischen Union voraus und ist tatbestandlich nicht bereits dann einschlägig, wenn nach der sog. Dublin III-VO (EU) 604/2013 ein anderer Staat zuständig ist, weil in diesem erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde (Anschluss an LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19.05.2016 - L 15 AY 23/16 B ER - juris Rn. 6 und LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.04.2016 - L 15 AY 15/16 B ER - juris Rn. 17).

2. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 1a Abs. 2 AsylbLG in der ab 24. Oktober 2015 geltenden Fassung (BGBl. I 2015, 1722) ist auch mit Rücksicht auf die Entscheidung des BSG vom 12.05.2017 (- B 7 AY 1/16 R -) nach wie vor ungeklärt.

3. Bei der Bestimmung des Wertes des Beschwerdegegenstandes iS des § 144 Abs 1 S 1 Nr 1 SGG ist, soweit es um die Bewilligung von laufenden lebensunterhaltssichernden Leistungen geht, jedenfalls im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes grundsätzlich von einer Leistungsdauer von (maximal) zwölf Monaten auszugehen (Fortführung von LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 12.12.2016 - L 8 AY 51/16 B ER - juris Rn. 8).

4. Eine ggf. unzureichende Sachverhaltsaufklärung des Leistungsträgers kann - angesichts der gravierenden Folgen einer Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG - im Rahmen einer gerichtlichen Kostenentscheidung zu seinen Lasten gehen.

Tenor:

Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Nach Beendigung des Beschwerdeverfahrens durch Rücknahme des Rechtsmittels - Hintergrund ist die Abschiebung des Antragstellers nach Italien am 19. Juni 2017 - ist noch über die Kosten in zweiter Instanz und den Prozesskostenhilfeantrag zu entscheiden. Dies obliegt dem Berichterstatter, § 155 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und 5, Abs. 4 SGG.

Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Die Kostenentscheidung ergeht nach Erledigung des Rechtstreits gemäß § 193 Abs. 1 Satz 1 und 3 SGG auf Antrag des Antragstellers und steht im Ermessen des Gerichts ohne Rücksicht auf die Anträge der Beteiligten Sie berücksichtigt nach der Beendigung des Verfahrens alle relevanten Umstände des Einzelfalls, insb. die Erfolgsaussichten nach dem bisherigen Sach- und Streitstand und die Gründe für die Rechtsverfolgung und die Erledigung (vgl. zu dem Inhalt der Kostenentscheidung B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 193 Rn. 12 ff., 13).

Die Beschwerde ist nach dem bisherigen Sach- und Streitstand zulässig gewesen, insbesondere mit einer im laufenden Leistungsbezug monatlichen Beschwer von ca. 175,00 € statthaft (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Nach der Rechtsprechung des Senats ist bei der Bestimmung des Wertes des Beschwerdegegenstandes i.S. des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG, soweit es um die Bewilligung von laufenden lebensunterhaltssichernden Leistungen geht, jedenfalls im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes grundsätzlich von einer Leistungsdauer von (maximal) zwölf Monaten auszugehen (Senatsbeschluss vom 12. Dezember 2016 - L 8 AY 51/16 B ER - juris Rn. 8), hier mithin von einem Beschwerdewert, der den nach § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG maßgeblichen Wert von 750,00 € deutlich übersteigt. Dass der Antragsteller am 19. Juni 2017 abgeschoben worden ist, ist dabei ohne Belang, weil für die Beurteilung der Statthaftigkeit der Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels maßgeblich ist, hier also der 13. Juni 2017. Die bevorstehende Abschiebung ist zwar absehbar gewesen, aber als ein ungewisses, in der Zukunft liegendes Ereignis nicht in die Berechnung des Beschwerdewertes einzubeziehen.

Die Beschwerde gegen den Eilrechtsschutz versagenden Beschluss des Sozialgerichts (SG) Stade vom 30. Mai 2017 hat bis zur Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers in Deutschland hinreichende Aussicht auf Erfolg geboten und ist auch nicht mutwillig gewesen. Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage spricht Überwiegendes dafür, dass das SG den Eilantrag zu Unrecht abgelehnt hat.

Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber der Antragsgegnerin besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Sowohl die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Nach diesen Maßgaben ist es überwiegend wahrscheinlich, dass dem Antragsteller, wäre er nicht abgeschoben worden, im Eilverfahren höhere Leistungen nach dem AsylbLG zuzusprechen gewesen wären, als ihm mit Bescheid vom 20. Februar 2017 nach § 1a AsylbLG in monatlicher Höhe von 151,11 € bewilligt worden sind.

Der Antragsteller, nach eigenen Angaben sudanesischer Staatsangehöriger, ist nach Ablehnung seines Asylantrags als vollziehbar Ausreisepflichtiger nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG leistungsberechtigt gewesen. Zur Bestreitung seines Lebensunterhalts hat ihm grundsätzlich ein Anspruch auf Grundleistungen nach § 3 Abs. 2 AsylbLG zugestanden, weil er sich noch nicht 15 Monate in Deutschland aufgehalten hat (vgl. § 2 Abs. 1 AsylbLG) und er außerhalb einer Aufnahmeeinrichtung i.S. des § 44 AsylG untergebracht gewesen ist.

Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage haben die Voraussetzungen für eine Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG für die Zeit ab 1. März 2017 nicht vorgelegen.

Dies gilt zunächst für den Tatbestand des § 1a Abs. 4 Satz 1 AsylbLG. Danach erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 oder 5 AsylbLG, für die in Abweichung von der Regelzuständigkeit nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29. Juni 2013, S. 31) nach einer Verteilung durch die Europäische Union ein anderer Mitgliedstaat oder ein am Verteilmechanismus teilnehmender Drittstaat, der die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 anwendet, zuständig ist, nur Leistungen nach § 1a Abs. 2 AsylbLG. Die Anwendbarkeit der Norm setzt also voraus, dass der Leistungsberechtigte von einem Relokationsbeschluss der Europäischen Union betroffen ist, was bei dem Antragsteller nicht der Fall. Für sein Asylverfahren ist - nach Aktenlage - Italien nach dem sog. Dublin-III-Verfahren zuständig, weil er dort erstmals registriert worden ist. Dieser Sachverhalt einer abweichenden Zuständigkeit aufgrund der Dublin III-VO (EU) 604/2013 ist allerdings nicht vom Wortlaut des § 1a Abs. 4 Satz 1 AsylbLG erfasst (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Mai 2016 - L 15 AY 23/16 B ER, L 15 AY 26/16 B ER PKH - juris Rn. 9 und vom 28. April 2016 - L 15 AY 15/16 B ER, L 15 AY 16/16 B ER PKH - juris Rn. 20; Oppermann in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 1a AsylbLG, 2. Überarbeitung Rn. 96.1).

Ob tatbestandlich eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 2 AsylbLG eingetreten ist, lässt sich nach dem bisherigen Sach- und Streitstand nicht abschließend beurteilen. Danach haben Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG, für die ein Ausreisetermin und eine Ausreisemöglichkeit feststehen, ab dem auf den Ausreisetermin folgenden Tag keinen Anspruch auf Leistungen nach den §§ 2, 3 und 6 AsylbLG, es sei denn, die Ausreise konnte aus Gründen, die sie nicht zu vertreten haben, nicht durchgeführt werden. Diese Voraussetzungen sind vom Antragsgegner bislang nicht (abschließend) von Amts wegen geprüft worden. Nach Aktenlage ist keine Aussage darüber möglich, ob für den Antragsteller ein konkreter Ausreisetermin festgestanden hat oder Umstände vorgelegen haben, die einer (sofortigen) Ausreise des Antragstellers entgegengestanden haben könnten. Dem in der Verwaltungsakte des Antragsgegners enthaltenen Schreiben der Ausländerbehörde vom 20. März 2017 (Bl. 66 d. VA Bd. 1) ist entgegen der Auffassung des SG ein Ausreisetermin gerade nicht zu entnehmen, sondern lediglich die an den Antragsteller gerichtete Bitte um Mitteilung bis zum 3. April 2017, ob eine freiwillige Ausreise aus dem Bundesgebiet für ihn in Betracht komme. Ob dem Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18. Januar 2017 ein konkreter Ausreisetermin i.S, des § 1a Abs. 2 AsylbLG zu entnehmen ist, lässt sich nach Aktenlage nicht sicher beantworten, weil in der Verwaltungsakte des Antragsgegners nur die Ablichtung der ersten Seite des Bescheids enthalten ist (Bl. 34 d. VA Bd. 1) und dort keine Ausreisefrist genannt wird. Nach der internen Prüfung durch die Ausländerbehörde haben die Voraussetzungen für eine Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 2 AsylbLG jedenfalls nicht vorgelegen (vgl. Bl. 46 d. VA Bd. 1). Unter diesen Umständen geht eine ggf. unzureichende Sachverhaltsaufklärung des für die Leistungen nach dem AsylbLG zuständigen Fachdienstes - angesichts der gravierenden Folgen einer Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG - im Rahmen der gerichtlichen Kostenentscheidung zu Lasten des Antragsgegners.

Überwiegende Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung wären aber selbst dann anzunehmen gewesen, wenn ein Einschränkungstatbestand des § 1a AsylbLG einschlägig gewesen wäre. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 1a Abs. 2 AsylbLG bzw. seiner Rechtsfolge ist nach Auffassung des Senats nach wie vor ungeklärt. Dies gilt auch mit Rücksicht auf das Urteil des BSG vom 12. Mai 2017 (- B 7 AY 1/16 R -), das die bis zum 23. Oktober 2015 geltende Fassung des § 1a Nr. 2 AsylbLG betrifft, die eine andere Rechtsfolge als die Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 2 AsylbLG in der ab 24. Oktober 2015 geltenden Fassung vom 20. Oktober 2015 (BGBl. I 1722) enthalten hat. Außerdem sind die schriftlichen Entscheidungsgründe des Urteils des BSG vom 12. Mai 2017 sind noch nicht veröffentlicht worden.

Schließlich führen die Umstände der Beendigung des Verfahrens nicht zu einer anderen Kostenentscheidung. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners hat sich der Antragsteller nicht „aus freien Stücken“ in die Rolle des Unterlegenen begeben. Vielmehr ist die Rücknahme des Rechtsmittels auf die Beendigung seines Aufenthalts in Deutschland zurückzuführen, die unter Anwendung von Zwang erfolgt ist und insoweit der Sphäre des Antragstellers entzogen war.

Der Antrag des Antragstellers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe ist mangels Rechtsschutzinteresses abzulehnen, weil der Antragsgegner aufgrund dieser Entscheidung unanfechtbar zur Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers verpflichtet ist (st. Rspr. des Senats; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 25. August 2015 - 1 BvR 3474/13 - juris Rn. 9).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.