Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 23.08.2017, Az.: L 13 AS 133/17
Statthaftigkeit einer formgerechten und fristgerechten eingelegten Berufung i.R.e. Antrags auf mündliche Verhandlung über einen Leistungsanspruch; Unstatthaftigkeit eines Antrags auf mündliche Verhandlung im sozialgerichtlichen Verfahren bei berufungsfähigem Gerichtsbescheid
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 23.08.2017
- Aktenzeichen
- L 13 AS 133/17
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2017, 22742
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Oldenburg - 17.02.2017 - AZ: S 37 AS 309/16
Rechtsgrundlagen
- § 105 Abs. 2 S. 2 SGG
- § 105 Abs. 3 2. Hs. SGG
- § 125 SGG
- § 151 Abs. 1 SGG
- § 172 Abs. 1 SGG
- § 105 Abs. 3 Hs. 2 SGG
- § 143 SGG
- § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG
Redaktioneller Leitsatz
1. Nach § 105 Abs. 2 Satz 2 SGG kann mündliche Verhandlung (nur) beantragt werden, wenn die Berufung nicht gegeben ist; damit wird von Gesetzes wegen eine mündliche Verhandlung vor dem SG bei einem berufungsfähigen Gerichtsbescheid gerade nicht eröffnet.
2. § 105 Abs. 3 Hs. 2 SGG kann nur in Zusammenschau mit § 105 Abs. 2 Satz 2 SGG gelesen werden, so dass bevor sich die Frage der Wirkung des Antrags auf mündliche Verhandlung überhaupt stellt, zunächst dessen Statthaftigkeit gegeben sein muss.
3. Ob der Gerichtsbescheid als nicht ergangen gilt, ist deshalb erst nach festgestellter Statthaftigkeit des Antrags zu klären, wobei hierfür dann mit dem BSG zu fordern sein dürfte, dass dieser fristgerecht gestellt und auch im Übrigen zulässig ist.
4. Nach der Systematik des § 105 SGG wirkt der berufungsfähige Gerichtsbescheid als Urteil.
5. Bei einem berufungsfähigen Gerichtsbescheid liegt damit als Instanz beendende Entscheidung bereits ein Urteil vor, so dass eine weitere Entscheidung des SG über die Klage durch Urteil (vgl. § 125 SGG) nicht möglich ist.
Tenor:
Die Berufung wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich mit seiner Berufung gegen einen Beschluss des Sozialgerichts (SG) Oldenburg vom 17. Februar 2017, mit welchem dieses den Antrag des Klägers auf mündliche Verhandlung nach Erlass eines Gerichtsbescheides zurückgewiesen hat. Der 1992 geborene Kläger steht im laufenden Leistungsbezug nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bei dem Beklagten. Mit Bescheid vom 23. Juli 2015 bewilligte der Beklagte dem Kläger und den weiteren Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit von August 2015 bis Januar 2016, wobei er bei dem Kläger für die Monate August 2015 bis Oktober 2015 eine mit Bescheid vom 10. Juli 2015 festgestellte Minderung des Leistungsanspruchs berücksichtigte. Das SG wies seine auf die Auszahlung von weiteren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 960 EUR gerichtete allgemeine Leistungsklage mit Gerichtsbescheid vom 21. November 2016 ab und belehrte den Kläger darüber, dass gegen den Gerichtsbescheid die Berufung zulässig sei. Der Gerichtsbescheid wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 23. November 2016 zugestellt. Dieser beantragte beim SG am 14. Dezember 2016 die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Berufung gegen den Gerichtsbescheid wurde nicht eingelegt. Auf einen Hinweis des SG vom 15. Dezember 2016, dass gegen den Gerichtsbescheid aufgrund des Beschwerdewertes entsprechend der erfolgten Rechtsmittelbelehrung die Berufung statthaft sein dürfte, erfolgte keine Reaktion. Mit Beschluss vom 17. Februar 2017 hat das SG den Antrag auf mündliche Verhandlung zurückgewiesen und den Kläger dahingehend belehrt, dass gegen den Beschluss die Beschwerde an das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen gegeben sei. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Antrag unzulässig sei, weil gegen den Gerichtsbescheid das Rechtsmittel der Berufung gegeben gewesen sei. Der Antrag auf mündliche Verhandlung als Rechtsbehelf könne nur gestellt werden, wenn die Berufung nicht statthaft sei. Gemäß § 143 i. V. m. § 144 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sei die Berufung gegen ein Urteil das statthafte Rechtsmittel, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 750 EUR übersteige. Der Kläger habe mit seiner Klage die Auszahlung von monatlich 320 EUR Regelbedarf für die Monate August, September und Oktober 2015 begehrt (insgesamt 960 EUR), so dass die Beschwer des Klägers den Wert für eine zulassungsfreie Berufung übersteige. Gegen den seinem Prozessbevollmächtigten am 22. Februar 2017 zugestellten Beschluss hat der Kläger ohne Begründung am 16. März 2017 Berufung eingelegt.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Beschluss des SG Oldenburg vom 17. Februar 2017 aufzuheben und festzustellen, dass der Gerichtsbescheid vom 21. November 2016 als nicht ergangen gilt.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und den Verwaltungsvorgang des Beklagten verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und die Gegenstand der Beratung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegte Berufung ist unzulässig, da sie nicht statthaft ist. Gegen den Beschluss des SG vom 17. Februar 2017 war gemäß § 172 Abs. 1 SGG die Beschwerde statthaft. Danach findet gegen die Entscheidungen der Sozialgerichte mit Ausnahme der Urteile und gegen Entscheidungen der Vorsitzenden dieser Gerichte die Beschwerde an das Landessozialgericht statt, soweit nicht in diesem Gesetz anderes bestimmt ist. Das SG hat den Antrag auf mündliche Verhandlung zu Recht durch Beschluss zurückgewiesen, da der Antrag auf mündliche Verhandlung gegen den Gerichtsbescheid nicht statthaft war. Gemäß § 105 Abs. 2 SGG können die Beteiligten innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids das Rechtsmittel einlegen, das zulässig wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte. Ist die Berufung nicht gegeben, kann mündliche Verhandlung beantragt werden. Wird sowohl ein Rechtsmittel eingelegt als auch mündliche Verhandlung beantragt, findet mündliche Verhandlung statt. Der Gerichtsbescheid wirkt als Urteil; wird rechtzeitig mündliche Verhandlung beantragt, gilt er als nicht ergangen, § 105 Abs. 3 SGG. Soweit in Rechtsprechung und Literatur vor dem Hintergrund von § 105 Abs. 3 2. Hs. SGG umstritten ist, ob das SG über die Zurückweisung eines Antrags auf mündliche Verhandlung durch Beschluss oder nur durch Urteil entscheiden kann (vgl. zum Streitstand: B.Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 105 Rn. 24 m. w. N.), kommt diesem Streit in Fällen des offensichtlich unstatthaften Antrags auf mündliche Verhandlung nach der Systematik des § 105 SGG keine Bedeutung zu. Denn die Regelung des § 105 Abs. 3 2. Hs. SGG ist nur einschlägig, wenn der Rechtsbehelf des § 105 Abs. 2 Satz 2 SGG gegeben ist. Entsprechend geht auch das Bundessozialgericht (BSG) davon aus, dass die Wirkung des § 105 Abs. 3 2. Hs. SGG nur eintritt, wenn der Antrag auf mündliche Verhandlung fristgerecht erfolgt und im Übrigen zulässig ist (vgl. BSG, Urteil vom 12. Juli 2012 - B 14 AS 31/12 B - Rn. 6). Ist aber wie vorliegend gegen den Gerichtsbescheid die Berufung gegeben gewesen, worüber das SG auch zutreffend belehrt hat und woran angesichts des eindeutigen Beschwerdewertes auch keine Zweifel bestehen konnten (vgl. zu einem Fall des vom SG nicht ermittelten Beschwerdewertes: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. Mai 2016 - L 9 AS 1782/ 14 B -), ist der Antrag auf mündliche Verhandlung nicht statthaft, weil das Gesetz ihn in diesem Fall nicht als Rechtsbehelf gegen einen Gerichtsbescheid vorsieht. Denn nach § 105 Abs. 2 Satz 2 SGG kann mündliche Verhandlung (nur) beantragt werden, wenn die Berufung nicht gegeben ist. Damit wird von Gesetzes wegen eine mündliche Verhandlung vor dem SG bei einem berufungsfähigen Gerichtsbescheid gerade nicht eröffnet. § 105 Abs. 3 2. Hs. SGG kann nur in Zusammenschau mit § 105 Abs. 2 Satz 2 SGG gelesen werden, so dass bevor sich die Frage der Wirkung des Antrags auf mündliche Verhandlung überhaupt stellt, zunächst dessen Statthaftigkeit gegeben sein muss (a. A: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 28. August 2014, - L 13 AS 3162/14 - Rn. 20). Ob der Gerichtsbescheid als nicht ergangen gilt, ist deshalb erst nach festgestellter Statthaftigkeit des Antrags zu klären, wobei hierfür dann mit dem BSG (a. a. O.) zu fordern sein dürfte, dass dieser fristgerecht gestellt und auch im Übrigen zulässig ist. Nach der Systematik des § 105 SGG wirkt der berufungsfähige Gerichtsbescheid als Urteil. Bei einem berufungsfähigen Gerichtsbescheid liegt damit als Instanz beendende Entscheidung bereits ein Urteil vor, so dass eine weitere Entscheidung des SG über die Klage durch Urteil (vgl. § 125 SGG) nicht möglich ist. Insoweit verfängt deshalb auch der von Teilen der Rechtsprechung gezogene Vergleich mit einer Vergleichsanfechtung oder einem Streit über eine wirksame Klagerücknahme (LSG Baden-Württemberg a. a. O.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 7. September 2016 - L 15 BK 6/13 B -) nicht, denn in diesen Fällen liegt gerade kein Instanz beendendes Urteil vor. Bei unstatthaftem Antrag auf mündliche Verhandlung kann dem Beschluss des SG, mit welchem der Antrag abgelehnt oder als unzulässig verworfen wird, gerade keine Instanz beendende Bedeutung zukommen, da bereits ein Instanz beendendes Urteil vorliegt. Damit erweist sich jedenfalls bei einem unzweifelhaft unstatthaften Antrag auf mündliche Verhandlung eine Verwerfung durch Beschluss als einzig richtige Entscheidungsform. Es wäre zudem überhaupt nicht einzusehen, dass die Beteiligten eine mündliche Verhandlung vor dem SG erzwingen könnten, obwohl der Gesetzgeber diesen Rechtsbehelf bei einem berufungsfähigen Gerichtsbescheid ausdrücklich nicht vorgesehen hat. Insoweit ist für den Senat in Fällen des offensichtlich unstatthaften Antrags auf mündliche Verhandlung auch die z.T. für den Fall des verfristeten Antrags auf mündliche Verhandlung angenommene Regelungslücke (vgl. Merold, NVwZ 2017, 827, 829 m. w. N.) nicht ersichtlich. Ob etwas anderes gilt, wenn Streit über den Wert des Beschwerdegegenstands besteht, also die Statthaftigkeit des Antrags auf mündliche Verhandlung bzw. der Berufung gegen den Gerichtsbescheid gerade zweifelhaft ist (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, a. a. O.), braucht der Senat nicht zu entscheiden, da der vorliegende Fall hierfür aufgrund des eindeutigen Beschwerdewertes, hinsichtlich dessen der Kläger auch keine Einwände erhoben hat, keine Veranlassung bietet. Es besteht auch keine Möglichkeit zur Umdeutung der Berufung in eine Beschwerde (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, Vor § 143 Rn. 15a f.). Denn das SG hat in der korrekten Form über die Verwerfung des Antrags auf mündliche Verhandlung entschieden und den rechtskundig vertretenen Kläger auch zutreffend über das Rechtsmittel der Beschwerde belehrt. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.