Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 17.01.2008, Az.: 13 A 2300/05

Zur Beihilfefähigkeit nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel der Homöopathie und Anthroposophie bei schwerwiegender Erkrankung -Multiple Sklerose-; Anthroposophie; Arzneimittel; Arzneimittelrichtlinie; Beamter; Beihilfe; Homöopathie; Multiple Sklerose; Schulmedizin; schwerwiegende Erkrankung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
17.01.2008
Aktenzeichen
13 A 2300/05
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2008, 45477
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2008:0117.13A2300.05.0A

Fundstelle

  • NVwZ-RR 2008, 632-634 (Volltext mit amtl. LS)

Amtlicher Leitsatz

Wäre bei einer schwerwiegenden Erkrankung (hier Multiple Sklerose) ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel der Schulmedizin beihilfefähig, kann der Arzt auch Arzneimittel der Homöopathie und Anthroposophie verordnen, die bei der schwerwiegenden Erkrankung als Therapiestandard in der Therapierichtung angezeigt sind. Die Anerkennung der Beihilfefähigkeit der Arzneimittel der Homöopathie und Anthroposophie ergibt sich in diesem Fall aus einer programmkonformen Auslegung der Beihilferegelungen und einer entsprechenden Anwendung des Rechtsgedankens der Arzneimittelrichtlinie, Abschnitt F, Nummer 16.5

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Gewährung einer Beihilfe zu den Aufwendungen für nicht verschreibungspflichtige homöopathische/anthroposophische Arzneimittel für seine Ehefrau, die an Multiple Sklerose erkrankt ist.

2

Der Kläger ist Ruhestandsbeamter des Landes Niedersachsen. Er und seine berücksichtigungsfähige Ehefrau sind beihilfeberechtigt mit einem Bemessungssatz von 70 %.

3

Die Ehefrau des Klägers leidet an einer - schubweise verlaufenden - multiplen Sklerose. Nach dem Ausbruch der Erkrankung wurde sie im Jahr 1990 zunächst im Krankenhaus schulmedizinisch mit Cortison behandelt. Im Zusammenhang mit der Cortisonbehandlung traten Nebenwirkungen (Diabetes mellitus, Übelkeit, Magenprobleme, Erschöpfung) auf, die dazu führten dass die Ehefrau des Klägers die Behandlung abbrach und sich für eine homöopathische/anthroposophische Behandlung entschied. Im Rahmen der homöopathische/anthroposophische Behandlung verordnete die behandelnde Ärztin, Dr. med.W.u.a. die nicht verschreibungspflichtigen homöopathischen/anthroposophischen Präparate Skorodit, Viscum, Basosyx, Chamomilla, Phosphorus, Apis ex animale, Stannum mellitum, Primula comp., Strophantus/Nicotina, Plumbum mellitum, Solutio alcalina, Medulla spinalis, Berthierit, Formica, Medulla spinalis, Arnica, Apis regina.

4

Seit der Behandlung hat sich der Gesundheitszustand der Ehefrau des Klägers erheblich verbessert. Während es zu Beginn der Erkrankung zu drei bis vier Schüben pro Jahr kam, die je nach Schwere mit erheblichen Störungen z.B. Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Beine, Lähmungserscheinungen in den Beine und in der Rückenmuskulatur, Beeinträchtigung der Wahrnehmungsfähigkeit (Benommenheit), Missempfindungen im Körper (z.B. Kribbeln, Taubheitsgefühle), physische und psychische Erschöpfung und Niedergeschlagenheit verbunden waren, kommt es seit einigen Jahren nur noch zu etwa ein Mal pro Jahr zu einem (leichten) Schub. Die Versuche der behandelnden Ärzte, die Medikation zu verringern, haben regelmäßig zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes geführt.

5

Unter dem G. beantragte der Kläger die Gewährung einer Beihilfe zu den Aufwendungen für die genannten nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel. Dem Antrag fügte er eine Bescheinigung der behandelnden Ärztin, Dr. med.W. bei, nach der es sich bei den Arzneimitteln um Standardtherapeutika der Homöopathie/Anthroposophie zur Behandlung der Multiplen Sklerose handelt.

6

Mit Bescheid vom E. lehnte der Beklagte die Gewährung einer Beihilfe ab und führte zur Begründung aus, es handele bei den nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln zwar um Standardtherapeutika der Homöopathie/Anthroposophie zur Behandlung von Multiple Sklerose. Die nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel seien aber nicht beihilfefähig, weil es sich bei der Erkrankung "Multiple Sklerose" nicht um eine schwerwiegende Erkrankung handele.

7

Den dagegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom F. zurück und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel, die nach dem 31.08.2004 gekauft worden seien, seien grundsätzlich nicht mehr beihilfefähig. Eine Ausnahme gelte nur dann, wenn die Arzneimittel bei der Behandlung bestimmter schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard anzusehen seien. Eine Krankheit sei nach der maßgeblichen Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Arzneimitteln (AMR) schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich sei oder wenn sie aufgrund der Schwere und der durch sie verursachten Gesundheitsstörungen die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtige. Nr. 16.4. ff. der Arzneimittelrichtlinie (AMR) enthalte eine abschließende Liste der als schwerwiegend anerkannten Erkrankungen und der verordnungsfähigen Wirkstoffe. Für die dort aufgeführten Indikationsgebiete könne der Arzt oder Heilpraktiker bei schwerwiegenden Erkrankungen auch Arzneimittel der Anthroposophie oder Homöopathie verordnen, sofern die Anwendung dieser Arzneimittel für diese Indikationsgebiete nach dem allgemein anerkannten medizinischen Erkenntnisstand als Therapiestandard in der jeweiligen Therapierichtung angezeigt sei (Nr. 16.5 der AMR).

8

Da die Multiple Sklerose in der Liste nicht aufgeführt sei, scheide die Gewährung einer Beihilfe zu den Aufwendungen für die genannten Arzneimittel aus.

9

Der Kläger hat am 20.04.2005 Klage erhoben.

10

Er ist der Auffassung, dass die Aufwendungen für die anthroposophischen / homöopathischen Arzneimittel beihilfefähig sind. Bei der Erkrankung seiner Ehefrau handele es sich um eine schwerwiegende Erkrankung, zu deren Behandlung die verordneten Arzneimittel, die zum in der Anthroposophie/Homöopathie zum Therapiestandard gehörten, notwendig und angemessen seien. Im Zusammenhang mit der Beschaffung der Arzneimittel seien ihm Aufwendungen von 348,57 Euro entstanden.

11

Der Kläger beantragt,

  1. den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger auf seinen Antrag vom G. Beihilfe zu den Aufwendungen für die Arzneimittel Skorodit, Viscum, Basosyx, Chamomilla, Phosphorus, Apis ex animale, Stannum mellitum, Primula comp., Strophantus/Nicotiana, Plumbum mellitum, Solutio alkalina, Medulla spinalis, Berthierit, Formica, Medulla spinalis, Arnica und Apis regina unter Zugrundelegung eines Bemessungssatzes von 70 Prozent zu gewähren und den Bescheid vom E. und den Widerspruchsbescheid vom F. aufzuheben, soweit sie dem entgegenstehen.

12

Der Beklagte beantragt,

  1. die Klage abzuweisen.

13

Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein Vorbringen im Verwaltungsverfahren.

14

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

15

Das Gericht hat eine fachärztliche Stellungnahme der behandelnden Ärztin, Dr. med.W. eingeholt. In ihrer Stellungnahme vom H. - auf die im Übrigen Bezug genommen wird - hat die Ärztin, alternativ zu den von ihr verordneten homöopathischen/anthroposophischen Arzneimitteln, als verordnungsfähige allopathische (schulmedizinische) Arzneimittel, die verschreibungspflichtigen Arzneimittel Prednisolon, Azathioprin, Interferon Beta 1A und Mitoxantron genannt. Der Beklagte hat dazu erklärt, dass die Aufwendungen für diese Arzneimittel beihilfefähig gewesen wären und der Klägerin eine Beihilfe gewährt worden wäre.

16

Ferner hat das Gericht eine Stellungnahme des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Frage des abschließenden Charakters der Aufzählungen der Arzneimittelrichtlinie (Nr. 16.4) und der Beihilfefähigkeit homöopathischer Arzneimittel eingeholt. Hinsichtlich der Einzelheiten der Anfrage wird auf die gerichtliche Verfügung vom 24.04.2004 und hinsichtlich der Antwort wird auf die Stellungnahme des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 13.07.2006 nebst Anlagen Bezug genommen.

17

Die Kammer hat den Rechtsstreit zur Entscheidung auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen (§ 6 Abs. 1 VwGO).

18

Im Termin der mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme hat die Einzelrichterin durch Vernehmung der behandelnden Ärztin, Dr. med.W. als sachverständige Zeugin Beweis erhoben. Hinsichtlich der Einzelheiten des Beweisthemas und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift des Sitzungsprotokolls Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

19

Die Klage ist zulässig und in der Sache begründet.

20

Dem Kläger steht gegenüber dem Beklagten ein Anspruch auf die Gewährung der begehrten Beihilfe zu.

21

Rechtsgrundlage des Anspruchs ist die Regelung des § 87c Abs. 1 NBG i.V.m §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 5 Abs. 1 und 2, 6 Abs. 1 BhV.

22

Nach § 87c NBG erhalten Beamte und Versorgungsberechtigte des Landes Niedersachsen nach den Beihilfevorschriften (BhV) für die Beamten und Versorgungsempfänger des Bundes, in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. November 2001, zuletzt geändert durch Rundschreiben des Bundesministers des Inneren vom 30. Januar 2004 (GMBl S. 379), Beihilfen in Krankheits-, Pflege- und Geburtsfällen.

23

Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 BhV sind die Aufwendungen beihilfefähig, die 1. dem Grunde nach notwendig und 2. der Höhe nach angemessen sind und 3. deren Beihilfefähigkeit nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist.

24

Grundsätzlich sind aus Anlass einer Krankheit die Aufwendungen für Arzneimittel, die vom Arzt, Zahnarzt oder Heilpraktiker schriftlich verordnet worden sind, beihilfefähig (§ 6 Abs. 1. Zif. 2 BhV). Nicht beihilfefähig sind aber nach § 6 Abs. 1 Satz 2b) BhV die Aufwendungen für Arzneimittel die nicht verschreibungspflichtig sind. Ausgenommen sind aber solche Arzneimittel, die nach den Arzneimittelrichtlinien des Gemeinsamens Bundesausschusses (AMR) nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V auf Grund von § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V ausnahmsweise verordnet werden dürfen.

25

Die Arzneimittelrichtlinie bestimmt in diesem Zusammenhang, dass nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel - ausnahmsweise - dann beihilfefähig sind, wenn sie bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten (AMR, Abschnitt F Ziffer 16.1.).

26

Nach der Begriffsbestimmung der Arzneimittelrichtlinie - AMR, Abschnitt F Ziffer 16.2. - ist eine Krankheit schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich ist, oder wenn sie auf Grund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörung die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt.

27

Die Beihilfevorschriften konkretisieren die Fürsorgepflicht des Dienstherrn, die zu den durch Artikel 33 Abs. 5 GG verfassungsrechtlich gewährleisten hergebrachten Grundsätzen des Beamtenrechts gehört.

28

Die Fürsorgepflicht verpflichtet den Dienstherrn dafür Sorge zu tragen, dass der amtsangemessene Lebensunterhalt des Beamten bei Eintritt besonderer finanzieller Belastungen durch Krankheits-, Pflege-, Geburts- und Todesfälle nicht gefährdet wird (vgl. Urteil vom 3. Juli 2003 - BVerwG 2 C 36.02 - zitiert nach Juris.). Dabei steht es ihm frei, entweder die Dienstbezüge des Beamten so zu bemessen, dass er in der Lage ist, die ihm und seiner Familie entstehenden Kosten medizinischer Heilbehandlungen durch eigene Vorsorge abzudecken, oder dem Beamten freie Heilfürsorge oder Zuschüsse zu gewähren oder aber verschiedene Möglichkeiten miteinander zu kombinieren. Entscheidet sich der Dienstherr für eine kombinierte Lösung d.h. bemisst er die Dienstbezüge entsprechend und gewährt er dem Beamten ergänzend finanzielle Beihilfen im Krankheits-, Pflege-, Geburtsfall, so muss er sicher stellen, dass der Beamte nicht mit erheblichen Aufwendungen belastet bleibt, die er auch über eine ihm zumutbare Eigenbeteiligung nicht absichern kann (vgl. BVerfGE 106, 225 (232) [BVerfG 07.11.2002 - 2 BvR 1053/98][BVerfG 07.11.2002 - 2 BvR 1053/98]).

29

Die für die Ausgestaltung der Beihilfe erlassenen Vorschriften dienen damit der Konkretisierung der Fürsorgepflicht. Art, Ausmaß und Begrenzung der Hilfe, die der Dienstherr dem Beamten in Erfüllung seiner Fürsorgepflicht gewährt, müssen sich aus dem Gesamtzusammenhang der Beihilfenvorschriften als "Programm" ergeben. Soweit zur Ausgestaltung der Beihilfe Verwaltungsvorschriften oder Erlasse ergehen, dürfen diese auch die Ausübung eines etwa vorhandenen Ermessens- oder Beurteilungsspielraums lenken, sie müssen sich aber ihrerseits im Rahmen des die Fürsorgepflicht konkretisierenden normativen Programms halten (vgl. auch BVerwG, Urteile vom 12. Juni 1985 - BVerwG 6 C 24.84 - BVerwGE 71, 342[BVerwG 12.06.1985 - 6 C 24.84] (347 ff.) und vom 29. Juni 1995 - BVerwG 2 C 15.94 - Buchholz 271 LBeihilfeR Nr. 15 S. 6).

30

Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung beihilferechtlicher Entscheidungen erstreckt sich im Wesentlichen darauf, ob der Verwaltungsakt mit den Beihilfevorschriften im Einklang steht und ob sich die Beihilfevorschriften, in ihrer Auswirkung auf den konkreten Einzelfall, in den Grenzen des dem Dienstherrn eingeräumten Konkretisierungsermessen halten, insbesondere ob eine Beschränkung oder ein Ausschluss der Beihilfe mit der Fürsorgepflicht und dem Gleichbehandlungsgrundsatz vereinbar ist (vgl. BVerwG, Urt.v. 20.08.1969 - 2 C 130.67 - BVerwGE 32, 352 (354)[BVerwG 20.08.1969 - BVerwG VI C 130.67]; BVerwG, Urt.v. 18.12.1974 - BVerwG 6 C 46.72 -). Die Verwaltungsgerichte sind berechtigt eine in der Form einer allgemeinen Verwaltungsvorschrift getroffene Beihilferegelung daraufhin zu überprüfen, ob der Dienstherr das bei der Schaffung der Regelung zugrundegelegte Programm einhält, soweit dies dazu dient, die Fürsorgepflicht zu konkretisieren (vgl. BVerwG, Urt. vom 12.06.1985 - BVerwG 6 C 24.84 -, ZBR 1985, 344 [BVerwG 12.06.1985 - 6 C 24.84]).

31

Ausgehend von diesen rechtlichen Erwägungen ergibt sich ein Anspruch des Klägers auf die Gewährung der begehrten Beihilfe aus einer programmkonformen Auslegung der Beihilfevorschriften.

32

Entgegen der Auffassung des Beklagten sind die Aufwendungen für die nicht verschreibungspflichtigen homöopathischen/anthroposophischen Arzneimittel im vorliegenden Fall beihilfefähig.

33

Die Aufwendungen für die Arzneimittel sind aus Anlass einer Erkrankung entstanden und waren dem Grunde nach notwendig und der Höhe nach angemessen (§ 87c NBG i.V.m. §§ 6 Abs. 1 Nr. 1, 5 Abs. 1 Nr. 1. und 2. BhV). Zweifel daran, dass die ärztlich verordneten Arzneimittel zur Behandlung der Erkrankung der Multiplen Sklerose notwendig sind, bestehen nicht.

34

Die Beihilfefähigkeit der nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel war auch nicht nach § 6 Abs. 1 Satz 2b) BhV ausgeschlossen. Nach den Arzneimittelrichtlinien des Gemeinsamens Bundesausschusses (AMR) durften die nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel ausnahmsweise verordnet werden, weil die Arzneimittel im Sinne der Arzneimittelrichtlinie bei der Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankungen als Therapiestandard gelten (AMR, Abschnitt F Ziffer 16.1.).

35

Bei der Erkrankung an Multiple Sklerose handelt es sich grundsätzlich um eine lebensbedrohliche Erkrankung die als schwerwiegende Erkrankung im Sinne der Begriffsdefinition der Abschnitt 6 AMR, Absatz F, Ziffer 16.2. zu qualifizieren ist (vgl. Bundessozialgericht , Urteil vom 27.03.2007 - B 1 Kr 17/06 R -, Rz. 15, zitiert nach juris; ähnlich Bundessozialgericht , Urteil vom 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R - Rz. 28, zitiert nach Juris).

36

Ungeachtet der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist die Einzelrichterin auch im vorliegenden Einzelfall davon überzeugt, dass es sich bei der Erkrankung der Ehefrau des Klägers an Multiple Sklerose um eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne der Begriffsdefinition der Abschnitt 6 AMR, Absatz F , Ziffer 16.2.handelt.

37

Ihre Überzeugung stützt die Einzelrichterin dabei auf den im Termin der mündlichen Verhandlung, nach dem Vortrag des Klägers und den Bekundungen der als sachverständige Zeugin vernommenen behandelnden Ärztin, gewonnen Gesamteindruck.

38

Der Kläger hat im Termin der mündlichen Verhandlung im einzelnen geschildert, welche Gesundheitsstörungen im Verlauf der Erkrankung aufgetreten sind und wie sich diese auf die Lebensqualität der Ehefrau auswirken. Auch die behandelnde Ärztin hat diese Schilderungen letztlich bestätigt und aus ihrer fachärztlichen Sicht nachvollziehbar dargestellt, in welcher Form und in welchem Ausmaß bei der Ehefrau des Klägers infolge der Multiple Sklerose Gesundheitsstörungen aufgetreten sind, wie sich diese Störungen auf die Lebensqualität eines MS-Patienten im Allgemeinen und der Ehefrau im Besonderen auswirken.

39

An der Glaubwürdigkeit der Zeugin hat die Einzelrichterin auch unter Berücksichtigung der Nähe und des Vertrauensverhältnisses zwischen ihr als behandelnder Ärztin und der Ehefrau des Klägers als Patientin, keine durchgreifenden Zweifel.

40

Aufgrund des im Termin der mündlichen Verhandlung gewonnen Gesamteindrucks ist die Einzelrichterin davon überzeugt, dass die Lebensqualität durch die Erkrankung an Multiple Sklerose, nicht nur in den Phasen eines akuten Schubes mit den dann ggf. auftretenden schweren Gesundheitsstörungen sondern auch außerhalb der Schübe auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt wird. Durch Unberechenbarkeit der Multiple Sklerose, ihrer Schübe und ihres Verlaufs ist das Leben des Erkrankten ständig maßgeblich davon geprägt, alles zu vermeiden, was einen neuen Schub auch nur auslösen oder fördern könnte.

41

Die verordneten Arzneimittel gelten auch als Therapiestandard im Sinne der Arzneimittelrichtlinie (AMR , Abschnitt F. 16.3.).

42

Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig und ergibt sich auch aus dem Bescheid des Beklagten vom E..

43

Dessen ungeachtet hat auch die behandelnde Ärztin glaubhaft und nachvollziehbar geschildert, dass die Arzneimittel, unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Therapierichtungen der Anthroposophie und Homöopathie, zu den Standardtherapeutika zur Behandlung von Multiple Sklerose zu zählen sind. Nach ihren Bekundungen ist die Behandlung des Patienten in den Therapierichtungen der Anthroposophie und Homöopathie zwar verstärkt auf den Patienten, sein individuelles Persönlichkeits- und Körperprofil und sein jeweiliges Krankheitsbild abgestimmt, so dass die Qualifizierung als Therapiestandard im schulmedizinischen Sinne Schwierigkeiten begegnet. Gleichwohl setzt sich die Standardtherapie der anthroposophischen Therapierichtung neben der Komponente der individuell abgestimmten Arzneimitteln auch aus der weiteren Komponente der für eine Erkrankung bzw. eine Indikation "typischen" Heilmittel zusammen. In diesem Sinne sind die verordneten Arzneimittel nach den Bekundungen der behandelnden Ärztin als Standardtherapeutika der Anthroposophie und Homöopathie zur Behandlung von Multiple Sklerose zu qualifizieren.

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Die Beihilfefähigkeit der Arzneimittel ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Erkrankung nicht in der Arzneimittelrichtlinie / Katalog der schwerwiegenden Erkrankungen und Standardtherapeutika zu deren Behandlung (Bestimmung der Ziffer 16.4. des Abschnitt F) aufgeführt ist.

45

Zwar bestimmt AMR, Abschnitt F , Ziffer 16.5. das der Arzt für die im Abschnitt F aufgeführten Indikationsgebiete bei schwerwiegenden Erkrankungen auch Arzneimittel der Homöopathie und Anthroposophie verordnen, sofern die Anwendung dieser Arzneimittel für diese Indikationsgebiete als Therapiestandard in der jeweiligen Therapierichtung angezeigt ist. Und in dem Indikationskatalog der Ziffer 16.4 ff ist die Multiple Sklerose als schwerwiegende Erkrankung nicht aufgeführt.

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Gleichwohl ist die Beihilfefähigkeit der Arzneimittel im vorliegenden Fall nicht ausgeschlossen.

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Dies ergibt sich schon aus der Systematik der Regelungen.

48

Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass im Fall der Klägerin nach der Schulmedizin als "Standardtherapeutika zur Behandlung der Multiple Sklerose" nur die Arzneimittel in Betracht kämen, die sämtlich zu den "verschreibungspflichtigen Arzneimitteln" gehören, und beihilfefähig wären. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig.

49

Demgegenüber bezieht sich die Bestimmung des § 6 Abs. 1 Nr. 2b) BhV und die daran anknüpfenden Bestimmungen der Arzneimittelrichtlinie (Abschnitt F Ziffer 16) aber auf den Bereich der Beihilfefähigkeit der apothekenpflichtigen "nicht verschreibungspflichtigen" Arzneimittel.D.h. auch die daran anschließende Bestimmung des 16.5. knüpft systematisch an die "nicht verschreibungspflichtigen" Arzneimittel an.

50

Für die beihilfefähigen bzw. verordnungsfähigen verschreibungspflichtigen Arzneimittel besteht - soweit ersichtlich - eine der Bestimmung der Ziffer 16.5. entsprechende Regelung über die alternative Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln der Anthroposophie und Homöopathie nicht.

51

Diese offensichtliche Lücke ist im Wege der programmkonformen Auslegung der Beihilferegelungen, unter Berücksichtigung der Fürsorgepflicht des Dienstherrn und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu schließen.

52

Erachtet das Programm der Beihilfe bei "nicht verschreibungspflichtigen" Arzneimittel die Verordnung von Standardtherapeutika der Anthroposophie und Homöopathie bei schwerwiegenden Erkrankungen im Sinne der Arzneimittelrichtlinie (Abschnitt F Ziffer 16.4.) ausnahmsweise für beihilfefähig, so erschient es programmkonform, den dieser Regelung zugrundeliegenden Gedanken - entsprechend - auch auf die Fälle der Verordnung von Standardtherapeutika der Anthroposophie und Homöopathie zur Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung, wie der Multiplen Sklerose zu übertragen, wenn die anderenfalls verordnungsfähigen schulmedizinischen Arzneimittel beihilfefähig wären.

53

Ein sachlicher Grund, der eine - entsprechende - Anwendung des Rechtsgedanken der Regelung der Ziffer 16.5. der AMR verbietet ist nicht ersichtlich.

54

Die der Regelung der Ziffer 16.5. der AMR zugrundeliegenden Erwägungen, so wie sie sich aus der Stellungnahme des Gemeinsamen Bundesausschuss vom 24.04.2006 ergeben, sprechen vielmehr für eine Übertragung des Rechtsgedankens der Bestimmung.

55

Zu den Hintergründen und der Entstehungsgeschichte der Bestimmung hat der Gemeinsame Bundesausschuss in seiner Stellungnahme vom 24.04.2006 und unter Bezugnahme auf ein beigefügtes Schreiben des Bundesministerium für Gesundheit vom 08.03.2004 u.a. ausgeführt:

"Diese Regelung hat ihren Grund in einem im Gesetz selbst angelegten Spannungsfeld zwischen dem Gebot der Berücksichtigung der Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen, insbesondere der Anthroposophie und Homöopathie.

einerseits und den Voraussetzungen zur Einbeziehung dieser Arzneimittel in die Leistungspflicht der GKV über die Tatbestandsmerkmale "schwerwiegende Erkrankung" und "Therapiestandard" andererseits. Das Spannungsfeld erhält sich vor folgendem Hintergrund: Im Rahmen der Anhörung zum Entwurf der Richtlinie wurde von den Vertretern der besonderen Therapierichtungen der Homöopathie die Auffassung vertreten, dass aufgrund deren Lehrmeinung die vom Gesetzgeber geforderte konkrete Zuordnung von Arzneimitteln zu Indikationen nicht möglich sei, weil insbesondere in der Homöopathie die Therapien nicht diagnosebezogen, sondern ausschließlich patientenindividuell nach dem so genannten "Arzneimittelbild" erfolgen. Ähnliches gelte auch für die Anthroposophie, die eine geisteswissenschaftliche Wesensverwandtschaft zwischen den verschiedenen Bereichen der Natur und dem Menschen postuliere.

Auf dieses im Gesetz angelegte Spannungsverhältnis zwischen dem Gebot der Berücksichtigung der Arzneimittel der Anthroposophie und Homöopathie einerseits und den Einschlusskriterien "schwerwiegende Erkrankung" und "Therapiestandard" andererseits hatte der GBA das für die Rechtsaufsicht zuständige Bundesministerium für Gesundheit (BMG; vgl. §§ 99 Abs. 10, 94 SGB V) im Vorfeld der Beschlussfassung vom 16.03.2004 hingewiesen. Im Wege einer schriftlichen Auskunft teilte das GMG dem G-BA daraufhin mit, dass eine ermächtigungskonforme, den Tatbestandsvoraussetzungen des § 34 Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB V gerecht werdende Aufnahme der Arzneimittel der Anthroposophie und Homöopathie in die AMR dadurch erfolgen könne, dass die Verordnungsfähigkeit der in Rede stehenden Arzneimittel auf die für die allopathischen Arzneimittel bestimmten Indikationsgebiete festgelegt wird."...

56

Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die Möglichkeit der Verordnung der Arzneimittel der Anthroposophie und Homöopathie nach dem Sinn und Zweck der Bestimmung an die Verordnungsfähigkeit und damit Beihilfefähigkeit der allopathischen Arzneimittel anknüpft. Ist ein allopathisches Arzneimittel verordnungsfähig, so soll der therapeutischen Vielfalt Rechnung tragend, die Möglichkeit bestehen, bei schwerwiegenden Erkrankungen auch Arzneimittel der Homöopathie und Anthroposophie zu verordnen, sofern die Anwendung dieser Arzneimittel für das Indikationsgebiet als Therapiestandard in der jeweiligen Therapierichtung gelten.

57

Dieser Gedanke ist auch auf die hier vorliegende Fallkonstellation übertragbar.

58

In dem hier vorliegenden Einzelfall kommt zudem hinzu, dass die Ehefrau des Klägers die Behandlung mit schulmedizinischen Standardtherapeutika, die beihilfefähig gewesen wären, wegen der erheblichen Nebenwirkungen und Unverträglichkeit der Medikamente abbrechen musste und sich die Erkrankung unter der Behandlung mit den anthroposophischen/homöopathischen Arzneimitteln erheblich verbesserte.

59

Vor diesem Hintergrund gebietet die Fürsorgepflicht des Dienstherrn, der sich schützend vor die Rechtsgüter der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 GG) zu stellen hat, erst recht die Anerkennung der Beihilfefähigkeit der Arzneimittel.

60

Liegen mithin die Voraussetzungen für die Anerkennung der Beihilfefähigkeit der Arzneimittel dem Grunde nach vor, so ist der Beklagte verpflichtet, dem Kläger auf seinen Antrag vom G. Beihilfe zu den Aufwendungen für die nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel Skorodit, Viscum, Basosyx, Chamomilla, Phosphorus, Apis ex animale, Stannum mellitum, Primula comp., Strophantus/Nicotiana, Plumbum mellitum, Solutio alkalina, Medulla spinalis, Berthierit, Formica, Medulla spinalis, Arnica und Apis regina unter Zugrundelegung eines Bemessungssatzes von 70 Prozent zu gewähren.