Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 17.01.2008, Az.: 13 A 7029/05
Beamter; Beihilfe; Eigentanteil; Hilfsmittel; Orthesen; Orthesenschuhe; orthopädische Schuhe
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 17.01.2008
- Aktenzeichen
- 13 A 7029/05
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 45479
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGHANNO:2008:0117.13A7029.05.0A
Verfahrensgang
Rechtsgrundlagen
- § 5 Abs. 1 Satz 1 BhV
- § 6 Abs. 1 Nr. 4 BhV
- § 6 Abs. 1 Nr. 4 BhV
- § 87c NBG
Amtlicher Leitsatz
Orthesenschuhe sind Hilfsmittel im Sinne der Beihilfevorschriften, die im Zusammenhang mit Beinorthesen direkt dem Ausgleich der krankheitsbedingten Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Beine dienen und zudem zum Gebrauch von Beinorthesen notwendig sind. Sie sind - unter Beachtung eines Eigenanteils - beihilfefähig.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Beihilfe zu den Aufwendungen für die Orthesenschuhe seiner minderjährigen Tochter.
Der Kläger ist Beamter des Landes Niedersachsen und grundsätzlich beihilfeberechtigt mit einem Bemessungssatz von 70 % bzw. 80 % hinsichtlich seiner berücksichtigungsfähigen minderjährigen Tochter I..
Die Tochter des Klägers leidet unter einer Cerebralparese. Infolge der damit verbundenen Fehlstellung der Beine und Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Beine ist die Tochter auf Beinorthesen angewiesen. Die Beinorthesen umfassen an beiden Beinen den Unterschenkel und den Fuß und am rechten Bein auch den Oberschenkel. Aufgrund der Geometrie der Orthesen können diese nicht mit handelsüblichen Schuhen getragen werden. Zum Gebrauch der Beinorthesen sind besondere Orthesenschuhe erforderlich. Durch die Beinorthesen und die Orthesenschuhe wird eine Fixierung der Beine und Füße erreicht und der Tochter des Klägers ein geringfügiges Gehen ermöglicht.
Am 25.07.2005 beantragte der Kläger u.a. die Gewährung einer Beihilfe zu den Aufwendungen für Orthesenschuhe seiner Tochter. Hierzu legte er die Rechnung eines Orthopädiefachgeschäftes über die Anschaffung von (serienmäßigen) Orthesenschuhen zum Preis von 238, 90 Euro (inkl. Mwst.) und ein Rezept des behandelnden Facharztes für Orthopädie über ein Paar Orthesenschuhe (Diagnose Cerebralparese) vor.
Mit Bescheid vom F. und G. lehnte der Beklagte die Gewährung einer Beihilfe ab.
Den dagegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom H. zurück und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, die Aufwendungen für die Orthesenschuhe seien nicht beihilfefähig, weil es sich um serienmäßig hergestellte Orthesenschuhe handele. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf den Inhalt des Widerspruchsbescheides Bezug genommen.
Der Kläger hat am J. Klage erhoben.
Unter dem K. hat er eine Stellungnahme des behandelnden Facharztes für Orthopädie überreicht in der ausgeführt wird:
"E. ist aufgrund ihrer Cerebralparese ständig auf Beinorthesen angewiesen. Aufgrund der Geometrie der Orthesen können diese nicht mit handelsüblichen Schuhen getragen werden, zum Gebrauch der Orthesen sind Orthesenschuhe unbedingt erforderlich."
Weiter hat der Kläger Fotomaterial zu den Beinorthesen und den Orthesenschuhen seiner Tochter vorgelegt. Die Orthesenschuhe verfügen danach und nach den unstreitigen Erläuterungen des Klägers über keinerlei Fußbett und sind in ihrer Geometrie auf den Gebrauch durch Träger von Bein- und Fußorthesen ausgerichtet.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger eine weitere Beihilfe für die Aufwendungen für die Orthesenschuhe seiner Tochter - I. - in Höhe von 191,12 Euro zu gewähren und die Bescheide vom F. und G. sowie den Widerspruchsbescheid vom H. aufzuheben, soweit sie dem entgegenstehen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Im Termin der mündlichen Verhandlung hat das Gericht den Kläger nochmals zu den Folgen der Erkrankung seiner Tochter und den Gebrauch der Beinorthesen und Orthesenschuhe gehört.
Hinsichtlich der Einzelheiten der Erläuterungen des Klägers wird auf die Niederschrift des Sitzungsprotokolls, hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
In der Sache entscheidet die Berichterstatterin als Einzelrichterin, denn die Kammer hat ihr die Sache zur Entscheidung übertragen (§ 6 Abs. 1 VwGO).
Die zulässige Klage ist in der Sache teilweise begründet.
Für die Beurteilung beihilferechtlicher Streitigkeiten ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Entstehens der Aufwendungen maßgeblich, für die Beihilfe begehrt wird (vgl. BVerwG, Urteile vom 28. Juni 1965 - BVerwG 8 C 80.64 - BVerwGE 21, 264 [BVerwG 28.06.1965 - BVerwG VIII C 80.64] (265 ff.); 24. März 1982 - BVerwG 6 C 95.79 - BVerwGE 65, 184 (187)[BVerwG 24.03.1982 - BVerwG 6 C 95.79]; vom 15. Dezember 2005 - BVerwG 2 C 35.04 - Buchholz 270 § 5 BhV Nr. 17 (Rn. 11)).
Danach steht dem Kläger - dem Grunde nach - ein Anspruch auf die Gewährung der begehrten Beihilfe auf der Grundlage der Regelung des § 87c NBG in Verbindung mit §§ 5 Abs. 1 Satz 1, 6 Abs. 1 Nr. 4 der Beihilfevorschriften für die Beamten und Versorgungsempfänger des Bundes, in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. November 2001, zuletzt geändert durch Art. 1 der 28. AVwV zur Änderung der BhV vom 30. Januar 2004 (Rundschreiben des Bundesministers des Inneren vom 30. Januar 2004 (GMBl S. 379) zu.
Nach der Regelung des § 87c Abs. 1 NBG erhalten Beamte und Versorgungsempfänger des Landes nach den Beihilfevorschriften für die Beamten und Versorgungsempfänger des Bundes, in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. November 2001, zuletzt geändert durch Art. 1 der 28. AVwV zur Änderung der BhV vom 30. Januar 2004 (Rundschreiben des Bundesministers des Inneren vom 30. Januar 2004 (GMBl S. 379), Beihilfen in Krankheits-, Pflege- und Geburtsfällen.
Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 BhV sind die Aufwendungen beihilfefähig, die dem Grunde nach notwendig und der Höhe nach angemessen sind, und deren Beihilfefähigkeit nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist. § 6 Abs. 1 Nr. 4 BhV bestimmt, dass aus Anlass einer Krankheit u.a. Aufwendungen für die Anschaffung der vom Arzt schriftlich verordneten Hilfsmittel, Geräte zur Selbstbehandlung zur Selbstkontrolle, Körperersatzstücke sowie die Unterweisung in den Gebrauch dieser Gegenstände beihilfefähig sind.
Ob Aufwendungen aus Anlass einer Krankheit entstanden sind und notwendig waren, bestimmt sich maßgeblich nach der ärztlichen Diagnose.
Die Aufwendungen für die Orthesenschuhe der Tochter des Klägers sind in diesem Sinne aus Anlass einer Krankheit entstanden und waren dem Grunde nach notwendig.
Ausweislich der ärztlichen Stellungnahme, und dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig, leidet die Tochter des Klägers an einer Cerebralparese, in deren Folge es zu einer Fehlstellung der Beine und Füße und einer dadurch bedingten Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit ihrer Beine und Füße gekommen ist.
Zur Linderung dieser Krankheitsfolgen ist die Tochter des Klägers auf die Beinorthesen und die zu ihrem Gebrauch notwendigen Orthesenschuhe angewiesen.
Begrifflich handelt es sich bei "Orthesen" (Kurzwort aus Prothese und Orthopädie) um ein industriell oder durch einen Orthopädietechniker hergestelltes medizinisches Hilfsmittel, das zur Unterstützung von eingeschränkt funktionsfähigen Körperteilen zum Einsatz gebracht wird.
Die Beinorthesen der Tochter des Klägers umfassen am linke Bein den Unterschenkel und den Fuß und am rechten Bein den Ober- und Unterschenkel und den Fuß. Durch die mittels der Orthesen erreichte Führung und Fixierung der Beine und Füße werden die Folgen der Cerebralparese, nämlich die Fehlstellung der Beine und Füße und die dadurch bedingte Beeinträchtigung ihrer Funktionsfähigkeit gelindert und eine Verschlimmerung der Krankheitsfolgen bzw. zusätzliche Krankheitsfolgen verhindert. Die Orthesenschuhe
Zum Gebrauch der Orthesen ist die Tochter unstreitig und dies ergibt sich auch aus der schriftlichen Verordnung des behandelnden Facharztes auf besondere Orthesenschuhe angewiesen. Mit herkömmlichen Schuhen ist der bestimmungsgemäße Gebrauch der Beinorthesen aufgrund ihrer Konzeption und ihres Umfangs nicht möglich. Die Orthesenschuhe sind in besonderem Maß auf den Gebrauch durch Träger von Bein- und Fußorthesen abgestimmt. In Ergänzung zu den Orthesen führen sie zu einer zusätzlichen Fixierung und ermöglichen hier der Tochter des Klägers - nach dessen nachvollziehbaren und glaubhaften Schilderungen im Termin der mündlichen Verhandlung - ein geringfügiges Gehen, das ihr ohne die Orthesenschuhe - allein mit den Bein- und Fußorthesen nicht möglich wäre.
Die Orthesenschuhe sind damit als ein Hilfsmittel zu qualifizieren, das direkt der Behandlung/Linderung der krankheitsbedingten Folgen dient, indem sie die Funktionsfähigkeit der Beine und Füße direkt unterstützt und die als solche notwendig sind.
Dessen ungeachtet handelt es sich bei Orthesenschuhe um ein Hilfsmittel, das dem bestimmungsgemäßen Gebrauch von Beinorthesen dient und zu deren Unterstützung notwendig ist.
Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die Beihilfefähigkeit der Orthesenschuhe nicht aufgrund der Bestimmungen der Anlage 3 zu § 6 Abs. 1 Nr. 4 BhV ausgeschlossen.
Ein Ausschluss der Beihilfefähigkeit ergibt sich insbesondere nicht daraus, dass in der Anlage 3 Nr. 1 zu § 6 Abs. 1 Nr. 4 BhV u.a. ausgeführt wird, dass dem Grunde nach (nur) orthopädische Maßschuhe beihilfefähig sind, die nicht serienmäßig herstellbar sind.
Orthesenschuhe fallen bereits begrifflich nicht unter diese Bestimmung, denn die Bestimmung bezieht sich nach ihrem Wortlaut auf allgemeine orthopädische Maßschuhe.
Bereits aus dem Begriff "Orthesenschuhe" (als Kurzwort aus Prothese und Orthopädie) ergibt sich, dass es sich bei "Orthesenschuhen" nicht um allgemeine "orthopädische" Maßschuhe, sondern um besondere Schuhe zum Gebrauch von Orthessen handelt.
Aufgrund ihrer vorrangigen Zweckrichtung, als besonderes Hilfsmittel zum Gebrauch von Beinorthesen und im Zusammenhang mit diesen zum direkten Ausgleich der durch eine schwerwiegende Erkrankung bedingten Beeinträchtigung der Funktionstüchtigkeit der Beine und Füße sind Orthesenschuhe nicht den in der Anlage 3 Nr. 1 zu § 6 Abs. 1 Nr. 4 BhV genannten (allgemeinen) orthopädischen Schuhen zuzuordnen.
Nach ihrer vorrangigen Zweckrichtung sind Orthesenschuhe vielmehr den in der Anlage 3 Nr. 1 zu § 6 Abs. 1 Nr. 4 BhV genannten spezielleren Bereichen der beihilfefähigen Fixationshilfen, Gehhilfen und/oder dem nicht abschließenden Katalog der Orthesenprodukte (Orthoprothesen, Korrekturschienen, u.ä., Haltemanschetten usw.) zuzuordnen.
Die Beihilfefähigkeit der Aufwendungen ist auch nicht nach Nr. 9 der Anlage 3 zu § 6 Abs. 1 Nr. 4 BhV ausgeschlossen. Zwar zählen danach zu den beihilfefähigen Hilfsmitteln nicht die Gegenstände, die nicht notwendig und angemessen (§ 5 Abs. 1 BhV), von geringem oder umstrittenen therapeutischen Nutzen oder geringerem Abgabepreis (§ 6 Abs. 4 Nr. 3 BhV) sind oder der allgemeinen Lebenshaltung unterliegen.
Entgegen der Auffassung des Beklagten sind Orthesenschuhe indes aufgrund ihrer dargelegten vorrangigen Zweckrichtung nicht - vorrangig - den Gegenständen der allgemeinen Lebenshaltung zuzurechnen.
Die Aufwendungen für die Orthesenschuhe sind auch der Höhe nach angemessen.
Der Höhe nach erachtet das Gericht die Kosten indes nur insoweit als beihilfefähig, soweit sie einen Betrag von 64 Euro übersteigen. In Höhe von 64 Euro ist dem Kläger ein Eigenanteil zu den Aufwendungen zuzumuten. Dieser Eigenanteil rechtfertigt sich daraus, dass Orthesenschuhe als Schuhwerk - wenn auch nachrangig - auch zu den Gegenständen der allgemeinen Lebenshaltung zählen, für die zum Ausgleich der ersparten Aufwendungen ein Eigenanteil angemessen erscheint. Den Eigenanteil bemisst das Gericht in Anlehnung an die beihilferechtlichen Vorschriften (Anlage 3 Nr. 1 zu § 6 Abs. 1 Nr. 4 BhV) mit 64 Euro.
Die weitergehende Klage bleibt damit ohne Erfolg, weil das Gericht die weitergehenden Aufwendungen für die Orthesenschuhe in Höhe von 64 Euro unter dem Gerichtspunkt der ersparten Aufwendungen für Gegenstände des allgemeinen Lebensbedarfs als nicht beihilfefähig erachtet.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO. Danach sind die Kosten des Verfahrens entsprechend dem wechselseitigen Unterliegen und Obsiegen der Beteiligten, dem Beklagten zu drei Vierteln und dem Kläger zu einem Viertel aufzuerlegen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.