Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 07.01.1997, Az.: 5 U 138/96

Anspruch der Klägerin auf Ersatz immaterieller Schäden und Feststellung der Ersatzpflicht für immaterielle und materielle Zukunftsschäden wegen einer fehlerhaften Behandlung ihres rechten Beins ; Thromboserisiko bei oberflächlicher Phlebitis; Einer Einzelrichterübertragung entgegenstehende besondere Anforderungen in Arzthaftungssachen hinsichtlich Beweisaufnahme und Tatsachenfeststellung; Gerichtliche Kontrolle der vom Sachverständigen getroffenen Feststellungen anhand von Kopien der Krankenunterlagen

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
07.01.1997
Aktenzeichen
5 U 138/96
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1997, 21791
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:1997:0107.5U138.96.0A

Amtlicher Leitsatz

Kein erhöhtes Thromboserisiko bei oberflächlicher Phlebitis - Keine Einzelrichterübertragung in Arzthaftungssachen.

Tatbestand

1

Die Kl. begehrt Ersatz immaterieller Schäden und Feststellung der Ersatzpflicht für immaterielle und materielle Zukunftsschäden wegen einer fehlerhaften Behandlung ihres rechten Beins, die zu einer tiefen Becken-Beinvenenthrombose geführt habe. Seit Juli 1993 befand sich die Kl. u.a. wegen einer Sehnenscheidenentzündung im Bereich der rechten Achillessehne und ab November 1993 zusätzlich wegen einer Venenentzündung (Phlebitis) im Bereich der rechten Wade in Behandlung des Chirurgen X. Nach einem plötzlichen Schmerz in der rechten Wade beim Treppensteigen am 22.11.1993 mit anschließender Schwellung und Druckschmerz wurde die Behandlung mit entzündungshemmenden Medikamenten, örtlichen Heparinsalbenverbänden und Unterarmgehstützen fortgesetzt. Als die Beschwerden nicht zurückgingen, überwies X sie in die orthopädische Praxis des Bekl. Die nach klinischer einschließlich sonographischer Untersuchung diagnostizierte Achillodynie mit Verdacht auf Muskelfaserriss behandelte er zunächst medikamentös und mit einem Salbenverband und ab 2.12.1993 zusätzlich durch Anlegen einer offenen Unterschenkelgipsschiene. Am 241/412. 1993 wurde die Kl. wegen einer Schwellung des ganzen rechten Beins und starker Schmerzen notfallmäßig in das Kreiskrankenhaus A. eingewiesen. Die dort festgestellte vollständige Thrombose des tiefen Bein-Beckenvenensystems rechts wurde stationär bis zum 28.1.1994 behandelt. Die Kl. hat dem Bekl. vorgeworfen, er habe wegen des bestehenden Thromboserisikos keine Gipsschiene anlegen dürfen. Auf dieses Risiko habe ihn der Chirurg X auch hingewiesen. Sie habe den Bekl. bei den Arztbesuchen alle zwei Tage auf die Druckstellen und zunehmenden Schmerzen aufmerksam gemacht. Der Bekl. habe darauf und auf die seit 20.12.1993 vorhandene ,,Beule" unter dem rechten Fuß nicht richtig reagiert und dadurch sowie durch die unterlassene Thromboseprophylaxe die Thrombose verursacht. Mit einer Schmerzensgeldvorstellung i. H. von 15000 DM und der Behauptung, ihren Beruf als Fleischverkäuferin nicht mehr ausüben zu können, hat sie beantragt,

  1. (1)

    den Bekl. zu verurteilen, an sie ein Teilschmerzensgeld i. H. von 15000 DM nebst Zinsen zu zahlen, und

  2. (2)

    festzustellen, dass der Bekl. verpflichtet ist, ihr sämtlichen immateriellen und materiellen Schaden, soweit vom Klageantrag zu 1 nicht erfasst, zu ersetzen, soweit Ansprüche nicht auf öffentlich-rechtliche Versicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

2

Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Kl. hatte keinen Erfolg.

Entscheidungsgründe

3

Der Kl. stehen keine Ersatzansprüche im Zusammenhang mit der Behandlung durch den Bekl. zu. Sie hat weder den Nachweis einer unzureichenden Behandlung noch den einer darauf beruhenden Thrombose führen können. Einer weitere Sachverhaltsaufklärung, insbesondere durch zusätzliche sachverständige Beratung, erneuter Anhörung des Sachverständigen oder Vernehmung des vorbehandelnden Chirurgen bedarf es dafür nicht. Die von der Berufung an sich zu Recht angesprochenen Verfahrensmängel der ersten Instanz werden durch die Prüfung der Krankenunterlagen durch den Senat im Zusammenhang mit dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme geheilt. Trotz des Einverständnisses der Parteien war es bereits fehlerhaft, die Sache dem Einzelrichter zu übertragen. Die besonderen Anforderungen, die in Arzthaftungssachen vor allem die Beweisaufnahme und das Beweisrecht zur Tatsachenermittlung und -feststellung an das Gericht stellen, stehen in aller Regel der Einzelrichterübertragung entgegen. Das ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, der sich auch der erkennende Senat seit langem angeschossen hat, einhellig anerkannt (vgl. nur Senat, NJW-RR 1990, 863; BGH, VersR 1985, 343; NJW 1980, 2751 =VersR 1980,940; OLG Köln, VersR 1987, 164 [OLG Köln 18.03.1985 - 7 U 163/84]; OLG Karlsruhe, AHRS Kz 6180/33; OLG Stuttgart, AHRS Kz 6180/36; OLG Celle, VersR 1993,483 [OLG Celle 17.02.1992 - 1 U 6/91]; OLG Karlsruhe, VersR 1994, 860 [OLG Karlsruhe 03.03.1993 - 7 U 180/91]).

4

Diese schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe wird erfahrungsgemäß von einem nach dem Geschäftsverteilungsplan ständig damit betrauten Richterkollegium (Fachkammer, Fachsenat) am besten bewältigt (Steffen, Neue Entwicklungslinien der BGH-Rspr. zum ArzthaftungsR, 6. Aufl., S.231). Es ist kein Anhalt ersichtlich, der hier ein Abweichen von der gebotenen Behandlung durch das Kollegialgericht zu Gunsten des Einzelrichters rechtfertigen könnte. Im Gegenteil setzt sich die zu geringe Bedeutung, die das LG unter Verstoß gegen § 348 1 Nr. 1 ZPO der Sache zugemessen hat, in der weiteren, ebenfalls nicht fehlerfreien Behandlung fort. Zunächst durfte das Gericht nicht entscheiden, ohne sich über die vom Sachverständigen herangezogenen und ausgewerteten Krankenunterlagen zu unterrichten und den Parteien dazu ebenfalls Gelegenheit zu geben. Zwar besteht keine generelle Pflicht des Gerichts, sich anhand aller Unterlagen vorab ein ,,vorläufiges Bild" zu machen (Senat, OLG-Report Oldenburg 1996, 18). Es verletzt aber die ihm gem. § 286 ZPO zugewiesene Pflicht zur Sachverhaltsfeststellung, wenn es die Grundlagen einer sachverständigen Begutachtung selbst nicht zur Kenntnis nimmt. Insoweit handelte es sich um vom Sachverständigen getroffene Feststellungen, die ohne Überprüfung durch das Gericht der Entscheidungsfindung nicht zu Grunde gelegt werden dürfen. Allerdings kann diese gerichtliche Kontrolle grundsätzlich auch anhand von Kopien der Krankenunterlagen erfolgen, solange kein Anhalt für ein Abweichen von den Originalen bzw. für einen dadurch bedingten geringeren Erkenntniswert besteht (Senat, OLG-Report Oldenburg 1996, 18).

5

Sofern es dem LG - wie es die Verfahrensweise bei der Beweisaufnahme vom 11.6. 1996 nahe legt - darauf ankam, dass der Sachverständige bei seinen mündlichen Erläuterungen die Aussagen der Zeugen mit einbeziehen sollte, hätte es ihm zumindest die schriftliche Aussage des Chirurgen X zur Kenntnis bringen müssen. dass dieses geschehen ist, ist dem Protokoll nicht zu entnehmen. Auch die Hinweise in dem offenbar für Zivilrechtsstreite jedweder Art verwandten Anschreiben an den Sachverständigen sind jedenfalls für den Arzthaftungsprozess zum Teil irreführend und insgesamt weniger geeignet. Das Abraten von einer "einseitigen Fühlungnahme mit einer Partei" kann natürlich nicht bedeuten, dass ein medizinischer Gutachter, der das Beschwerdebild eines Patienten nachzuzeichnen hat, mit diesem Patienten nicht in Verbindung treten soll. Im Gegenteil ist i. d. R. eine persönliche Untersuchung durch den Gutachter angebracht, die dieser von sich aus mit ihm persönlich verabredet. Eine Anwesenheit anderer Verfahrensbeteiligter scheidet insoweit ohnehin aus. Trotz dieser Verfahrensfehler kann der Senat, nachdem er die Überprüfung der Krankenunterlagen nachgeholt hat, in der Sache entscheiden. Das Ergebnis des LG hält den Angriffen der Berufung insgesamt statt. Der Sachverständige hat in seinem schriftlichen Gutachten die herangezogenen Krankenunterlagen einzeln und mit detaillierten Zusammenfassungen des Behandlungsgeschehens aufgeführt. Ein Vergleich mit den Unterlagen zeigt, dass er durch die völlig ordnungsgemäße Auswertung das maßgebliche Behandlungsgeschehen erkannt und beanstandungsfrei seinen überzeugenden schriftlichen und mündlichen gutachterlichen Erläuterungen zu Grunde gelegt hat. Bereits aus dem schriftlichen Gutachten S.4 ergibt sich, dass dem Gutachter die wichtigen Originalbilder der Sonographie vom 30.1.1993 vorgelegen haben. Das bestätigt auch der handschriftliche Übersendungsvermerk auf den vom Bekl. selbst vorgelegten Kopien. Der Gutachter ist auch zu Recht von einer Achillessehnenbehandlung seit Juli 1993 ausgegangen. Die Krankenkarteikarte des Chirurgen X weist unter dem 6.7.1993 erstmalig ,,Sehnenscheidenentzündung re-Achillessehne" und danach durchgängig eine entsprechende Behandlung bis zur Überweisung an den Bekl. aus.

6

Zutreffend hat der Sachverständige auch die Ergebnisse der Untersuchung des Kardiologen Y vom 3. und 9.11.1993, wie sie sich aus dem nachrichtlich an den Chirurgen gegangenen Arztbrief vom 10.11.1993 ergeben, zu Grunde gelegt. Die Krankenunterlagen dieses Arztes brauchten nicht beigezogen zu werden, da auch die nachbehandelnden Ärzte von diesen Untersuchungsergebnissen ohne weitere eigene Überprüfung auszugehen hatten. Der Gutachter hat auf der Grundlage der gesamten maßgeblichen ihm zugegangenen Unterlagen exakt nachvollziehbar dargelegt, dass die Behandlung des Bekl. einschließlich der Verwendung einer Gipsschiene nicht zu beanstanden ist. Es überzeugt, wenn er eingedenk der vorangegangenen Phiebitis ein erhöhtes Thromboserisiko insbesondere auf Grund der eingehenden kardiologischen Untersuchungen im November 1993 und der Ergebnisse der Patientenbefragung durch seinen Oberarzt verneint hat. Auch wenn der überweisende Chirurg Bedenken gegenüber einem Ruhigstellen in Gips gehabt und dies mit dem Bekl. erörtert hatte, war nach dem Krankheitsverlauf und insbesondere der Art des Verbands (halb offen, elastische Befestigung, Auspolsterung) und der Dauer die von dem Bekl. eigenverantwortlich zu treffende Behandlungsentscheidung jedenfalls nicht fehlerhaft. Die gestellte Diagnose "Muskelfaserriss" wird durch die Sonographie und den von der Kl. bei ihrer informatorischen Anhörung selbst beschriebenen schlagartig beim Treppensteigen aufgetretenen Schmerz erhärtet. Anzeichen für eine sich abzeichnende oder gar beginnende Thrombose hat der Sachverständige klar verneint. Gerade die plötzliche Schmerzentstehung bei einer nicht unerheblichen Bewegungsbelastung deutet unmissverständlich auf eine Verletzung der Muskelpartien hin, nicht aber auf den schleichenden Beginn einer tiefen Venenthrombose. Krankenunterlagen und auch die Aussage der Arzthelferin, die die Eintragung bei dem Patientengespräch auf Mitteilung des Arztes vornimmt, belegen einen erfolgreichen Behandlungsverlauf. Das wird durch die Schmerzbeschreibungen des Ehemanns, der Mutter und der Tochter der Kl. nicht ernsthaft in Frage gestellt. dass die in der Krankenkartei eingetragenen Behandlungstermine zutreffen, wird durch die Aussage des Ehemanns der Kl., sie seien infolge seines Schichtdienstes alle zwei Tage zu dem Bekl. gefahren, ebenfalls nicht in Zweifel gezogen. Insoweit handelt es sich erkennbar nur um eine ungefähre Erinnerungsangabe und nicht um eine genaue Angabe der einzelnen Arzttermine. Soweit die Berufung über Anzeichen und Entstehen von Thrombosen bloße andere Behauptungen aufstellt, vermag das die sorgsam begründete Beurteilung des Sachverständigen nicht in Frage zu stellen. Einer weiteren Begutachtung bedarf es dafür nicht.

7

Da auch ein erhöhtes Thromboserisiko zumindest von der Kl. nicht bewiesen ist, stützen die von der Berufung erhobenen Rügen, eine frühzeitige Mobilisation des Beins und die Anwendung von Heparin unterlassen zu haben, nicht den Vorwurf eines Behandlungsfehlers. Eine Thromboseprophylaxe gehörte bei dem bestehenden Beschwerdebild in dem Behandlungszeitraum noch nicht zu dem geschuldeten Behandlungsstandard; sie war vielmehr erst in der wissenschaftlichen Diskussion. Hinweise, die trotzdem auf die Erforderlichkeit einer Prophylaxe hindeuten könnten, lagen dem Bekl. - wie ausgeführt- nicht vor. Es muss daher davon ausgegangen werden dass die Thrombose erst nach dem 20.12.1993 unbeeinflusst von einer unzureichenden medizinischen Versorgung durch den Bekl. entstanden ist.