Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 15.01.1997, Az.: 2 U 128/96

Vorsätzliches Herbeiführen einer Krankheit; Eingreifen eines Leistungsausschlusses bei der vorsätzlichen Herbeiführung einer Krankheit; Eingeschränkte Auslegung der Vorsatzklausel bei Suchterkrankungen; Definition des Vorsatzbegriffs; Krankhafte Einschränkung des Steuerungsvermögens bezüglich des Essverhaltens

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
15.01.1997
Aktenzeichen
2 U 128/96
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1997, 21753
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:1997:0115.2U128.96.0A

Fundstellen

  • Chefarzt 1999, 3
  • KVuSR 1999, 18
  • VersR 1997, 952-953 (Volltext mit amtl. LS)

Amtlicher Leitsatz

Übergewicht: Psychogene Esssucht und "auf Vorsatz beruhende Krankheit". Eingeschränkte Auslegung der Vorsatzklausel bei Suchterkrankungen. Entziehungs- und Behandlungsmaßnahmen. Medizinische Notwendigkeit.

Gründe

1

1.

Der Beklagte ist entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht gemäß §§ 5 Nr. 1 b MBKK 76, 5 Nr. 1 b MBKT 78 wegen vorsätzlicher Herbeiführung der Krankheit leistungsfrei.

2

a.

Zweifelhaft ist bereits, ob überhaupt ein vorsätzliches Handeln des Klägers vorliegt oder eine Verantwortlichkeit des Klägers nicht wegen Unzurechnungsfähigkeit gemäß §§ 276 Abs. 1 Satz 3, 827 BGB ausgeschlossen ist.

3

Vorsatz im Sinn des Gesetzes ist bereits der bedingte Vorsatz.

4

Auch dieser setzt jedoch als sogenanntes Willensmoment voraus, dass der Handelnde die Verwirklichung des Erfolgs zumindest billigend in Kauf nimmt (Bach/Moser, Private Krankenversicherung, 2. Aufl., § 5 MBKK, Rdnr. 5; MüKo-Hanau, BGB, 3. Aufl., § 276 Rdnr. 61 m.w.N.).

5

Die Aussagen des vom Landgericht eingeschalteten Sachverständigen S begründen Zweifel daran, ob von einem derartigen Willen des Klägers ausgegangen werden kann. Der Sachverständige hat zunächst eine schwere, krankhafte Esssucht des Klägers festgestellt. Aus dem Gutachten ergibt sich, dass der Kläger unter regelrechten Essattacken leidet. Der Sachverständige hat dazu u.a. ausgeführt: "Neurotische Verhaltens- und Erlebnisweisen, zu denen auch die hier vorliegende psychogene Esssucht zählt, sind als zumindest teilweise unbewusste Prozesse nicht ausschließlich dem bewussten Willen eines Patienten unterworfen." Zwar hat der Sachverständige dann das Vorliegen eines die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustands verneint, andererseits jedoch ausgeführt: "Auf Grund der Esssucht und der zugrundeliegenden neurotischen depressiven Erkrankung ist Herr K krankheitsbedingt, über eine bloße Willensschwäche oder Beeinflussbarkeit hinausgehend, nicht in der Lage gewesen, vor dem 18.08.1994 seine Entscheidungen im Bereich der Nahrungsaufnahme ausschließlich von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen.

6

Sein Steuerungsvermögen ist durch die neurotische Grunderkrankung zum damaligen und auch zum jetzigen Zeitpunkt, sein Essverhalten betreffend, stark eingeschränkt." Diese Aussagen sprechen dafür, dass der Kläger zeitweise sein Essverhalten steuern kann, er dazu jedoch während der vom Sachverständigen festgestellten psychogenen Essattacken, die für das extreme Übergewicht gerade kausal sind, nicht in der Lage ist.

7

b.

Letztlich kann die Frage, ob der Kläger in zurechenbarer Weise vorsätzlich sein Übergewicht herbeigeführt hat, offen bleiben.

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Die Leistungsausschlüsse gemäß §§ 5 Nr. 1 b MBKK 76 und 5 Nr. 1 b MBKT 78 greifen nämlich schon deshalb nicht ein, weil das Übergewicht des Klägers suchtbedingt ist und für diesen Fall die genannten Klauseln so auszulegen sind, dass lediglich die Kosten für Entziehungsmaßnahmen einschließlich Entziehungskuren nicht erstattet werden. Nach gefestigter Rechtsprechung sind Allgemeine Versicherungsbedingungen so auszulegen, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit - auch auf seine Interessen an (BGHZ 123, 83, 85[BGH 23.06.1993 - IV ZR 135/92]; BGH r+s 1995, 45; BGH r+s 1996, 169). Zwar könnte man die §§ 5 Nr. 1 b MBKK 76 und 5 Nr. 1 b MBKT 78 so verstehen, dass nur bei unvorsätzlich suchtbedingten Gesundheitsbeschädigungen eine Eintrittspflicht des Versicherers besteht. Näher liegt es jedoch, sie dahin zu verstehen, dass Suchtkrankheiten eine eigene Kategorie von Krankheiten bilden sollen, für die nur der Ausschluss bei Entziehungsmaßnahmen gilt, ansonsten aber alle Krankheitsfolgen vom Versicherungsschutz umfasst werden sollen (Prölss/Martin, VVG, 25. Aufl., § 5 MBKK Anm. 3; so wohl auch Bach/Moser, a.a.O., § 5 Rdnr. 12). Diese Auslegung drängt sich auf Grund des Verständnisses eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers auf, da bei typischen Suchterkrankungen wie Alkoholismus, dem Gebrauch sogenannter harter Drogen oder Medikamentenmissbrauch den Versicherungsnehmer zumindest bei Beginn der Sucht in der Regel ein Vorsatzvorwurf trifft (Prölss/Martin a.a.O.). Träte aber schon allein auf Grund eines solchen Vorsatzvorwurfs Leistungsfreiheit des Versicherers ein, wäre der zusätzlich formulierte Leistungsausschluss für die Kosten von Entziehungsmaßnahmen für einen durchschnittlichen Versicherungsnehmer unverständlich, da dieser jedenfalls im Regelfall überflüssig wäre.

9

Anders kann die Frage des Eingreifens des Leistungsausschlusses dann zu beurteilen sein, wenn der von seiner Sucht befreite Versicherungsnehmer sich vorsätzlich nicht abstinent verhält, ohne der Sucht - erneut - zu verfallen (Prölss/Martin a.a.O.; vgl. auch Senat VersR 1989, 242). So liegt es hier indes nicht, da nicht feststellbar ist, dass der Kläger zumindest zeitweise zu Beginn seiner neuerlichen Gewichtszunahme von seiner Esssucht befreit gewesen ist. Dagegen spricht vielmehr, dass der Kläger nach seiner Fettschürzenoperation, die zu einer Gewichtsreduzierung auf ca. 15O kg geführt hatte, alsbald wieder ein Gewicht von etwa 225 kg erreicht hat.

10

c.

Bei der in der Zeit vom 18.08. bis zum 22.11.1994 erfolgten Behandlung handelt es sich nicht um eine Entziehungsmaßnahme. Von einer solchen kann nur gesprochen werden, wenn die Zielrichtung der Behandlung in der Entwöhnung des Patienten vom Suchtmittel liegt. Zu unterscheiden ist sie von der Behandlung, die notwendig ist, um krankhafte Zustände zu beseitigen, die durch die Sucht hervorgerufen worden sind (BGH r+s 1988, 116; OLG Hamm r+s 1991, 28O; OLG Köln r+s 1995, 193). Vorliegend ergibt sich aus den Berichten des B-Hospitals vom 23.11.1994 und 24.07.1995, dass der Kläger wegen dekompensierter Herzinsuffizienz mit Luftnotbeschwerden und Beinödemen behandelt worden ist. Die während des stationären Aufenthalts durchgeführte Diät führte zudem zu einer Gewichtsreduzierung von rund 4O kg. Damit lag zumindest der Schwerpunkt der Behandlung in der Verringerung der negativen körperlichen Suchtfolgen und nicht etwa in einer psychotherapeutischen Behandlung der neurotischen Esssucht und der depressiven neurotischen Grunderkrankung des Klägers.

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2.

Ein Anspruch des Klägers besteht gleichwohl nicht. Gemäß §§ 2 Abs. 2 Satz 1 MBKK 78 und 1 Abs. 2 Satz 1 MBKT 78 muss die durchgeführte Heilbehandlung "medizinisch notwendig" gewesen sein. Beweispflichtig für diese Voraussetzung ist der Versicherungsnehmer (BGH r+s 1991, 319; BGH r+s 1996, 457, 458). Diesen Beweis hat der Kläger nicht erbracht. Auf Grund des vom Senat eingeholten fachinternistischen Gutachtens des Sachverständigen H ist vielmehr davon auszugehen, dass die stationäre Behandlung vom 01.09. bis zum 22.ll.l994 nicht medizinisch notwendig gewesen ist.

12

a.

Das Sachverständigengutachten ist verwertbar. Es handelt sich bei dem Gutachten um eine eigenverantwortliche Tätigkeit des durch den Beweisbeschluss des Senats vom l4.08.l996 bestellten Sachverständigen. Zwar erfolgte die Untersuchung des Klägers durch einen vom Sachverständigen bestimmten Assistenzarzt. Dieser hat auch das schriftliche Gutachten zunächst abgefasst. Diese Vorgehensweise begründet jedoch keinen Verstoß gegen § 4O7 a Abs. 2 ZPO, wonach ein Sachverständiger nicht befugt ist, den ihm vom Gericht erteilten Auftrag auf einen anderen zu übertragen. Dem beauftragten Sachverständigen ist es nämlich gestattet, andere Personen als Hilfskräfte hinzuzuziehen, soweit nur die volle persönliche Verantwortung des vom Gericht ausgewählten Sachverständigen gewahrt bleibt und die Feststellung erlaubt ist, dass eine eigenverantwortliche gutachterliche Tätigkeit des bestellten Sachverständigen vorliegt (BGH VersR l972, 927, 929; BVerwG NJW l984, 2645, 2646; OLG Frankfurt VersR l994, 610). dass dies hier der Fall ist, ergibt sich aus der Tatsache, dass der Sachverständige H die zunächst von seinem Assistenzarzt gefertigten Ausführungen am Ende des Gutachtens mit folgendem Zusatz versehen hat: "Einverstanden auf Grund persönlicher Untersuchung und eigener Urteilsbildung." Es folgt sodann die Unterschrift des Sachverständigen H.

13

.....

14

b.

Aus dem Sachverständigengutachten ergibt sich, dass die stationäre Behandlung des Klägers ab dem 0l.09.l994 nicht mehr medizinisch notwendig gewesen ist. Für die Frage der medizinischen Notwendigkeit ist ein objektiver Maßstab anzulegen. Es kommt nicht auf die Auffassung des Versicherungsnehmers und des behandelnden Arztes an. "Medizinisch notwendig" i.S. der §§ 1 Abs. 2 Satz 1 MBKK 76 und 1 Abs. 2 Satz 1 MBKT 78 ist eine Heilbehandlung dann, wenn es nach den objektiv medizinischen Befunden und Erkenntnissen im Zeitpunkt der Vornahme der ärztlichen Behandlung vertretbar war, diese als notwendig anzusehen (BGH r+s 1991, 319; BGH r+s l996, 457). Dies hat der Sachverständige eindeutig verneint.

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16

c.

Die Auffassung der Berufung, bei der Frage der Notwendigkeit der Heilbehandlung handele es sich um eine bloße Rechtsfrage, welche bereits höchstrichterlich entschieden sei, ist nicht richtig. Die Beurteilung, ob eine ärztliche Behandlung vertretbarerweise als notwendig anzusehen ist, ist - selbstverständlich - durch ein medizinisches Sachverständigengutachten zu klären (BGH r+s 1996, 457). Die Frage der medizinischen Notwendigkeit der stationären Behandlung des Klägers ab dem 0l.09.l994 ist auch nicht durch das von der Berufung zitierte Urteil (BGH VersR l979, 22l) bereits entschieden. Zum einen ist grundsätzlich die Notwendigkeit einer ärztlichen Behandlung individuell auf Grund der Erkrankung des Versicherungsnehmers zu entscheiden; das bedarf keiner weiteren Begründung, da es ersichtlich selbstverständlich ist. Zum anderen ist der Sachverhalt, der der vom Kläger zitierten Entscheidung zugrundeliegt, mit dem vorliegenden - ebenfalls ersichtlich - hinsichtlich der Frage der Notwendigkeit der Heilbehandlung nicht vergleichbar.

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In der damaligen Entscheidung war anhand der medizinischen Erkenntnisse im Jahre l975 zu beurteilen, ob eine stationäre Behandlung für die Dauer von 27 Tagen bei Durchführung einer Null-Diät als medizinisch notwendig angesehen werden konnte.

18

Vorliegend geht es darum, ob nach den medizinischen Erkenntnissen Ende l994 im Anschluss an eine l4-tägige stationäre Behandlung der Kläger zur Durchführung einer weiteren kalorienreduzierten Diät notwendigerweise stationär behandelt werden musste, dass sich zur Beurteilung dieser hier maßgeblichen Frage aus der vom Kläger zitierten Entscheidung nichts herleiten lässt, liegt auf der Hand.