Finanzgericht Niedersachsen
Beschl. v. 27.05.2010, Az.: 12 V 58/10
Verfassungsgemäßheit des Solidaritätszuschlags; Aussetzung der Vollziehung eines Einkommensteuerbescheides wegen eventueller Verfassungswidrigkeit des Solidaritätszuschlags; Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an einer geordneten Haushaltsführung gegenüber dem Individualinteresse auf vorläufige Steuerverschonung; Begegnung des Spannungsverhältnisses zwischen dem Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts und der Rechtsschutzgarantie bei Geltendmachung der Verfassungswidrigkeit einer Norm im vorläufigen Rechtsschutz
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 27.05.2010
- Aktenzeichen
- 12 V 58/10
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 17314
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2010:0527.12V58.10.0A
Rechtsgrundlagen
- § 69 Abs. 2 S. 2 FGO
- § 69 Abs. 3 FGO
- Art. 19 Abs. 4 GG
- Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG
Fundstellen
- BB 2010, 1630 (Pressemitteilung)
- DB 2010, 11
- DStRE 2010, 1407-1411
- EFG 2010, 1438-1443
- FR 2010, 6
- NVwZ 2010, 7 (Pressemitteilung)
- StBW 2010, 552 (Pressemitteilung)
Solidaritätszuschlag 2007 Solidaritätszuschlag-Vorauszahlung 2008 und 2009 (Aussetzung der Vollziehung)
Keine Aussetzung der Vollziehung wegen eventueller Verfassungswidrigkeit des Solidaritätszuschlags
Gründe
I.
Die Antragsteller begehren die Aussetzung der Vollziehung, weil sie die Festsetzung des Solidaritätszuschlags für verfassungswidrig halten.
Die Antragsteller sind Ehegatten, die ihre Einkommensteuererklärung für das Jahr 2007 zunächst nicht abgaben. Daraufhin schätzte der Antragsgegner mit Einkommensteuer-bescheid 2007 vom 24. September 2009 die Besteuerungsgrundlagen.
Gegen den "Bescheid für 2007 über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag" legten die Antragsteller am 13. Oktober 2009 Einspruch ein und reichten die ausstehende Steuererklärung ein. Daraufhin änderte der Antragsgegner die bisherige Festsetzung mit Bescheid vom 2. November 2009 ab. Das zu versteuernde Einkommen betrug 200.351 EUR; die festgesetzte Einkommensteuer betrug 68.222 EUR. Der Solidaritätszuschlag wurde mit 3.752,21 EUR festgesetzt. Die Zahllast wegen des Solidaritätszuschlags betrug 2.764,21 EUR.
Am 5. November 2009 erging ein an beide Antragsteller gerichteter Vorauszahlungsbescheid über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag für das Jahr 2008. Dabei ging der Antragsgegner - entsprechend der Angaben der Antragsteller - von einem zu versteuernden Einkommen in Höhe von 136.986 EUR aus, in dem erhebliche außerordentliche Einkünfte enthalten waren. Er forderte eine nachträgliche Einkommensteuervorauszahlung in Höhe von 12.149 EUR und eine nachträgliche Solidaritätszuschlagsvorauszahlung in Höhe von 668 EUR an.
Gegen diese Bescheide legten die Antragsteller am 27. November 2009 mit der Begründung Einspruch ein, dass die Erhebung des Solidaritätszuschlags nach dem Vorlagebeschluss des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 25. November 2009 ab dem Veranlagungszeitraum 2007 verfassungswidrig sei. Gleichzeitig wurde insoweit Aussetzung der Vollziehung beantragt.
Der Vorauszahlungsbescheid über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag für das Jahr 2009 vom 2. November 2009 wurde von dem Antragsteller zunächst mit der Begründung angefochten, dass die festgesetzten Vorauszahlungsbeträge wegen geringerer Einkünfte zu hoch angesetzt worden seien. Gleichzeitig wurde Aussetzung der Vollziehung beantragt. Mit Schreiben vom 27. November 2009 wandte der Antragsteller auch die Verfassungswidrigkeit des Solidaritätszuschlags ein und erweiterte den Aussetzungsantrag - zumindest konkludent - auf diesen Streitpunkt. Am 17. Dezember 2009 erging ein nur an den Antragsteller gerichteter geänderter Vorauszahlungsbescheid für das Jahr 2009, mit dem der Antragsgegner antragsgemäß ein zu versteuerndes Einkommen in Höhe von 48.679 EUR berücksichtigte. Dies führte unter Anwendung der Grundtabelle zu einer Einkommensteuervorauszahlung in Höhe von 12.364 EUR und einer Solidaritäts-zuschlagsvorauszahlung in Höhe von 680 EUR.
Mit Bescheiden vom 6. Januar 2010 lehnte der Antragsgegner die Anträge auf Aussetzung der Vollziehung des Solidaritätszuschlags 2007 sowie der Vorauszahlungen für den Solidaritätszuschlag 2008 und 2009 ab.
Mit dem hiergegen erhobenen Einspruch führten die Antragsteller aus, dass der Solidaritätszuschlag spätestens ab dem Jahr 2007 verfassungswidrig sei. Der für die Finanzierung der Kosten der deutschen Einheit bestehende langfristige Bedarf könne nicht durch eine Ergänzungsabgabe gedeckt werden, die nach der Intention des Gesetzgebers nur der Deckung vorübergehender Bedarfsspitzen dienen dürfe. Im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung müsse das ausschließlich fiskalisch begründete Interesse des Staates, eine in verfassungswidriger Weise festgesetzte Forderung einziehen zu dürfen, hinter dem grundgesetzlich geschützten Anspruch der Betroffenen, nur im Rahmen verfassungsgemäßer Verpflichtungen für die Deckung der fiskalischen Bedürfnisse des Staates herangezogen zu werden, zurücktreten. Es widerspreche der ratio legis, dass ein Betroffener zunächst eine verfassungswidrige Leistung zu erbringen habe, um zu einem zeitlich ungewissen Rückzahlungszeitpunkt den Betrag unverzinst und ohne Inflationsausgleich zurück zu erhalten. Die öffentliche Haushaltsführung sei durch die Nichtzahlung einer verfassungswidrigen Forderung nicht gefährdet.
Mit Einspruchsbescheid vom 3. Februar 2010 wies der Antragsgegner den Einspruch als unbegründet zurück. Es beständen schon keine ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags. Diese Auffassung sei durch das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 28. August 2009 (2 K 108/08) bestätigt worden. Der Gesetzgeber habe bei der Erschließung von Steuerquellen einen weit reichenden Gestaltungsspielraum. Die Entscheidung des Gesetzgebers, welche staatlichen Zwecke er verfolge und wie er sie finanziere, sei nicht justitiabel. Der Gesetzgeber habe seinen Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Erhebungsdauer des Solidaritätszuschlags nicht überschritten. Der Solidaritätszuschlag diene der allgemeinen Einnahmeverbesserung zur Abdeckung der im Zusammenhang mit der deutschen Einheit entstandenen finanziellen Belastungen. Dieser Gesetzeszweck wäre ohne die Erhebung des Solidaritätszuschlags nicht erreicht worden. Das gewählte Mittel stehe daher in einem vernünftigen Verhältnis zu dem angestrebten Zweck. Außerdem würden die individuellen Belange des Steuerpflichtigen gegenüber den fiskalischen Interessen nachrangig sein. Es würden den Antragstellern keine wesentlichen Nachteile drohen.
Hiergegen richtet sich der bei Gericht gestellte Antrag auf Aussetzung der Vollziehung. Die Antragsteller verweisen auf die Argumentation des Niedersächsischen Finanzgerichts in dem Vorlagebeschluss vom 25. November 2009. Da gerade das Zeitmoment von entscheidender Bedeutung sei, sei die Rechtsansicht des Finanzgerichts München, die sich auf die Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags im Veranlagungszeitraum 2005 bezogen habe, überholt. Es bestehe kein schützenswertes Interesse des Staates, eine verfassungswidrige Ergänzungsabgabe vorläufig zu erheben, um sie dann - nach Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das Bundesverfassungsgericht - an die Antragsteller wieder zurückzuzahlen.
Die Antragsteller beantragen,
die Vollziehung der Bescheide betreffend Solidaritätszuschlag 2007 vom 2. November 2009, 2008 vom 5. November 2009 - insoweit betreffend die Antragsteller zu 1. und 2. - sowie 2009 gemäß Bescheid vom 17. Dezember 2009 - insoweit nur betreffend den Antragsteller zu 1. - auszusetzen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Der Antragsgegner verweist auf den Einspruchsbescheid.
II.
Der Antrag ist unbegründet.
1.
Gemäß § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO in Verbindung mit § 69 Abs. 3 Satz 1 zweiter Halbsatz FGO soll das Gericht auf Antrag des Steuerpflichtigen die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
a)
Die Bewilligung und die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung sind grundsätzlich gerichtliche Ermessensentscheidungen (vgl.§ 69 Abs. 3 Satz 1 erster Halbsatz FGO "kann"). Der Ermessensspielraum ist allerdings dadurch stark reduziert, dass nach§ 69 Abs. 3 Satz 1 zweiter Halbsatz FGO in Verbindung mit § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO die Aussetzung der Vollziehung erfolgen "soll", wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen oder die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige Härte darstellt. Liegen die Voraussetzungen des§ 69 Abs. 2 Satz 2 FGO vor, hat das Gericht grundsätzlich die Vollziehung auszusetzen. Lediglich in Ausnahmefällen ist das Gericht befugt, aufgrund des eingeräumten Entscheidungsspielraums eine von den Tatbestandsmerkmalen des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO losgelöste Ermessensentscheidung zu treffen. Ein solcher atypischer Fall ist aber nur dann gegeben, wenn die Gewährung der Aussetzung der Vollziehung zu schwerwiegenden Nachteilen für den Staat führen würde, so dass das Interesse des Antragstellers auf vorläufige Verschonung von der strittigen Steuerforderung gegenüber vorrangigen öffentlichen Belangen zurücktreten muss (Gräber/ Koch, Finanzgerichtsordnung, 6. Auflage, § 69 Rz. 110 bis 112; Beermann/ Gosch, Abgabenordnung/ Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO Rz. 179; Birkenfeld in Hübschmann/ Hepp/ Spitaler, Abgabenordnung/ Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO, Rz. 898; Dumke in Schwarz, Finanzgerichtsordnung, § 69 Rz. 91 und 93).
b)
Eine solche besondere Fallkonstellation hat die Rechtsprechung angenommen, wenn sich die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts aus der behaupteten Verfassungswidrigkeit der zugrunde liegenden Norm ergeben. Die Besonderheit dieser Fallkonstellation liegt in dem Umstand, dass allein dem Bundesverfassungsgericht die Verwerfungskompetenz für ein nachkonstitutionelles Gesetz zukommt (vgl.Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG) und einem solchen Gesetz bis zu einer anders lautenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ein Geltungsanspruch innewohnt. Vor diesem Hintergrund hat die Rechtsprechung die Aussetzung der Vollziehung auch bei vorliegenden ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit der Norm für problematisch erachtet, weil eine Aussetzungsentscheidung - insbesondere wenn sie vom BFH getroffen wird - in der praktischen Auswirkung zu einem zeitweiligen Außerkraftsetzen der verfassungsrechtlich umstrittenen Norm führt. Dadurch können die mit der Norm verfolgten Ziele schon vorab vereitelt werden, ohne dass eine verwerfende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorliegt (vgl.BFH-Urteil vom 10. Februar 1984 III B 40/83, BStBl II 1984, 454; BFH-Beschluss vom 6. November 1987 III B 101/86, BStBl II 1988, 134; BFH-Beschluss vom 21. Mai 1992 X B 106/91, BFH/NV 1992, 721; BFH-Beschluss vom 9. November 1992 X B 137/92, BFH/NV 1994, 324;BFH-Beschluss vom 1. April 2010 II B 168/09, BFH/NV 2010, 1033).
c)
Dieser Befund bedeutet allerdings nicht, dass keine Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts zu erreichen wäre, wenn der Steuerpflichtige vorträgt, dass die zugrunde liegende Vorschrift verfassungswidrig ist. Die Fachgerichte sind durch Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG nicht gehindert, schon vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des BVerfG auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten ist und die Hauptsache dadurch nicht vorweggenommen wird (BFH-Beschluss vom 22. Dezember 2003 IX B 177/02, BStBl II 2004, 367 ; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung/ Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO Rz. 96). Die Rechtsprechung hat es aber für erforderlich gehalten, in diesen Fällen nach der Bejahung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO im Rahmen der gerichtlichen Ermessensentscheidung eine Abwägung der widerstreitenden Interessen des Antragstellers und der öffentlichen Hand vorzunehmen. Eine Aussetzung der Vollziehung wird danach nur gewährt, wenn das (besondere) berechtigte Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Umsetzung eines formell gültigen Gesetzes überwiegt (vgl. BFH-Beschluss vom 6. November 1987 III B 101/86, BStBl II 1988, 134; BFH-Beschluss vom 20. Juli 1990 III B 144/89, BStBl II 1991, 104; BFH-Beschluss vom 25. Juli 1991 III B 555/90, BStBl II 1991, 876; BFH-Beschluss vom 29. Oktober 1991 III B 83/91, BFH/NV 1992, 246; BFH-Beschluss vom 21. Mai 1992 X B 106/91, BFH/NV 1992, 721; BFH-Beschluss vom 9. November 1992 X B 137/92, BFH/NV 1994, 324; BFH-Beschluss vom 17. März 1994 VI B 154/93, BStBl II 1994, 567; BFH-Beschluss vom 19. August 1994 X B 318/93 und X B 319/93, BFH/NV 1995, 143; BFH-Beschluss vom 30. Januar 2001 VII B 291/00, BFH/NV 2001, 1031; BFH-Beschluss vom 6. November 2001 II B 85/01, BFH/NV 2002, 508; BFH-Beschluss vom 27. August 2002 IX B 94/02, BStBl II 2003, 18; BFH-Beschluss vom 1. April 2010 II B 168/09, BFH/NV 2010, 1033).
d)
Die Rechtsprechung befindet sich allerdings insoweit im Fluss, als das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung in der Vergangenheit regelmäßig als vorrangig gegenüber dem Individualinteresse auf vorläufige Steuerverschonung angesehen wurde, während in der jüngerer Rechtsprechung die staatlichen Haushaltsinteressen in der Abwägung weniger stark berücksichtigt wurden (BFH-Beschluss vom 31. Januar 2007 VIII B 219/06, BFH/NV 2007, 914; BFH-Beschluss vom 23. August 2007 VI B 42/07, BStBl II 2007, 799; BFH-Beschluss vom 25. August 2009 VI B 69/09, BStBl II 2009, 826). So hat der BFH das rein fiskalisch begründete Interesse an dem Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts als nicht (mehr) erheblich eingestuft (BFH-Beschluss vom 5. März 2001 IX B 90/00, BStBl II 2001, 405; BFH-Beschluss vom 22. Dezember 2003 IX B 177/02, BStBl II 2004, 367) und die Interessenabwägung aufgrund einer differenzierteren Betrachtungsweise vermehrt zu Gunsten des Antragstellers ausfallen lassen (vgl. BFH-Beschluss vom 15. Dezember 2000 IX B 128/99, BStBl II 2001, 411; BFH-Beschluss vom 11. Juni 2003 IX B 16/03, BStBl II 2003, 663; BFH-Beschluss vom 22. Dezember 2003 IX B 177/02, BStBl II 2004, 367; BFH-Beschluss vom 30. November 2004 IX B 120/04, BStBl II 2005, 287; BFH-Beschluss vom 31. Januar 2007 VIII B 219/06, BFH/NV 2007, 914; BFH-Beschluss vom 2. August 2007 IX B 92/07, BFH/NV 2007, 2270; BFH-Beschluss vom 23. August 2007 VI B 42/07, BStBl II 2007, 799; BFH-Beschluss vom 25. August 2009 VI B 69/09, BStBl II 2009, 826). In jüngerer Zeit haben es einzelne Senate des BFH sogar offen gelassen, ob sie das Erfordernis des berechtigten Interesses des Antragstellers noch als gerechtfertigt ansehen. Insbesondere wird bezweifelt, ob für das Merkmal eine ausreichende Grundlage im Gesetz existiert (BFH-Beschluss vom 5. März 2001 IX B 90/00, BStBl II 2001, 405; BFH-Beschluss vom 11. Juni 2003 IX B 16/03, BStBl II 2003, 663; BFH-Beschluss vom 22. Dezember 2003 IX B 177/02, BStBl II 2004, 367; BFH-Beschluss vom 31. Januar 2007 VIII B 219/06, BFH/NV 2007, 914; BFH-Beschluss vom 2. August 2007 IX B 92/07, BFH/NV 2007, 2270; BFH-Beschluss vom 23. August 2007 VI B 42/07, BStBl II 2007, 799; BFH-Beschluss vom 25. August 2009 VI B 69/09, BStBl II 2009, 826). Allerdings hat der II. Senat des BFH in einer aktuellen Entscheidung an dem Erfordernis der Interessenabwägung ausdrücklich festgehalten (BFH-Beschluss vom 1. April 2010 II B 168/09, BFH/NV 2010, 1033).
e)
In der Literatur ist das von der Rechtsprechung angenommene Erfordernis eines berechtigten Interesses des Antragstellers teilweise kritisch (Drüen, Finanz-Rundschau -FR- 1999, 289, 290 f.; Seer, Steuer und Wirtschaft -StuW- 2001, 3, 17 f.; ders. in Tipke/Kruse, Abgabenordnung/ Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO Rz. 96 f.; wohl auch Birkenfeld in Hübschmann/ Hepp/ Spitaler, Abgabenordnung/ Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO Rz. 334, siehe aber auch Rz. 331), teilweise aber auch zustimmend kommentiert worden (Beermann/ Gosch, Abgabenordnung/ Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO Rz. 179 f.; Dumke in Schwarz, Finanzgerichtsordnung, § 69 Rz. 80 und 91; Wagner, Über effektiven vorläufigen Rechtsschutz im finanzgerichtlichen Verfahren, in Festschrift für Heinrich Wilhelm Kruse, S. 735, 750 ff.; wohl auch Schallmoser, DStR 2010, 297 ff.). Die Kritiker werfen der Rechtsprechung die Etablierung eines budgetären Dispositionsschutzes für den Staat vor, der dazu führe, dass die Grundrechte nur nach Maßgabe eines gemeinwohlbezogenen Hauhaltsvorbehalts gewährleistet werden würden (Drüen, FR 1999, 291; Seer, StuW 2001, 17). Das Haushaltsargument führe zu rechtsstaatlich unerträglichen Ergebnissen, weil der individuelle Rechtsschutz umso mehr zurückgedrängt werde, je größer die Breitenwirkung des Verfassungsverstoßes und das Ausmaß des legislativen Unrechts sei (Seer in Tipke/Kruse, a.a.O. § 69 FGO Rz. 97). Diese Auffassung wird auch vom VI. Senat des BFH geteilt (BFH-Beschluss vom 23. August 2007 VI B 42/07, BStBl II 2007, 799; BFH-Beschluss vom 25. August 2009 VI B 69/09, BStBl II 2009, 826).
2.
Der Senat ist der Auffassung, dass in Fällen der vorliegenden Art eine zusätzliche Interessenabwägung zwischen dem berechtigen Interesse des Antragstellers auf Aussetzung der Vollziehung und dem öffentlichen Interesse an dem Vollzug des - vom BVerfG noch nicht für verfassungswidrig erklärten - Gesetzes erforderlich ist.
a)
Wird ein Verwaltungsakt mit der Begründung angefochten, dass die zugrunde liegende Norm verfassungswidrig sei und wird insoweit vorläufiger Rechtsschutz begehrt, entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG und dem in Art. 100 Abs. 1 GG niedergelegten Verwerfungsmonopol des BVerfG, das gleichzeitig den Grundsatz beinhaltet, dass formelle Gesetze erst dann nicht mehr anzuwenden sind, wenn sie vom BVerfG für nichtig erklärt worden sind. Da das Gericht, welches für den vorläufigen Rechtsschutz zuständig ist, nicht selbst in dem Hauptsacheverfahren entscheiden darf, läuft die Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz immer Gefahr, eine verfassungsrechtliche Beurteilung - zumindest zeitweise - zu perpetuieren, die das BVerfG so gar nicht treffen will. Angesichts dieser Sachlage berührt die Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz durch ein Fachgericht bei Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines formellen Gesetzes immer auch das Verwerfungsmonopol des BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG.
b)
Handelt es sich bei der als verfassungswidrig angesehenen Vorschrift um eine Steuerrechtsnorm, tritt zu diesem Spannungsverhältnis noch ein weiteres Spannungsfeld hinzu. Der grundgesetzliche Steuerstaat ist auf die ihm zufließenden Steuereinnahmen existenziell angewiesen. Er benötigt die eingeplanten Steuereinnahmen, um auf der Grundlage des verabschiedeten Haushalts die anfallenden Ausgaben zu begleichen. Bei seiner Haushaltsplanung geht der Staat davon aus, dass die vom Gesetzgeber erlassenen Steuerrechtsvorschriften von der Exekutive und den Gerichten angewendet und durchgesetzt werden. Wird vorläufiger Rechtsschutz wegen einer verfassungsrechtlich zweifelhaften Vorschrift gewährt, so wirkt diese Entscheidung zwar grundsätzlich nur zwischen den Beteiligten. Findet die verfassungsrechtlich zweifelhafte Vorschrift aber auf eine Vielzahl von Steuerpflichtigen gleichermaßen Anwendung, so führt die Aussetzungsentscheidung faktisch zu einer weitgehenden Nichtanwendung der Vorschrift, obwohl sie vom BVerfG noch nicht für verfassungswidrig erklärt worden ist und damit eigentlich als weiterhin gültig zu behandeln ist. Dadurch kann die Haushaltsplanung und -führung massiv gestört werden, weil Abgaben, mit denen der Staat fest rechnet, infolge der Breitenwirkung einer solchen Entscheidung zumindest zeitweise nicht mehr eingenommen werden.
c)
Wird diese verfassungsrechtliche Gemengelage aus effektiver Rechtsschutzgewährung, dem Geltungsanspruch des formellen Gesetzes bis zur verfassungsgerichtlichen Verwerfungsentscheidung und einer von der Verfassung vorausgesetzten Beständigkeit der Haushaltsplanung zusammen betrachtet, ist ein möglichst schonender Ausgleich der konfligierenden Verfassungsrechtsgüter im Wege der praktischen Konkordanz anzustreben. Der Senat ist der Auffassung, dass diese Aufgabe nicht schon durch die Bejahung von "ernstlichen Zweifeln" an der Verfassungsmäßigkeit der dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Vorschrift bewältigt werden kann. Ein solches Vorgehen würde die komplexe Problematik einseitig zu Gunsten des rechtsschutzsuchenden Steuerpflichtigen auflösen, ohne den Geltungsanspruch des formellen Gesetzes und das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung in die Entscheidungsfindung einfließen zu lassen. Dies ist umso bedenklicher, als es für die Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes noch nicht einmal erforderlich ist, dass das Fachgericht von der Verfassungswidrigkeit der Vorschrift überzeugt ist (vgl. BFH-Beschluss vom 19. August 1994 X B 318/93 und X B 319/93, BFH/NV 1995, 143). Denn für die Bejahung des Tatbestands des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO reicht schon die Bejahung von "ernstlichen Zweifel" aus. Dies gilt auch für die Beurteilung der Verfassungskonformität der dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm (BFH-Urteil vom 10. Februar 1984 III B 40/83, BStBl II 1984, 454; BFH-Beschluss vom 1. April 1992 III B 137/91, BFH/NV 1992, 598; BFH-Beschluss vom 30. Januar 2001 VII B 291/00, BFH/NV 2001, 1031).
d)
Nach Auffassung des Senats hat der Gesetzgeber den Gerichten die Möglichkeit eingeräumt, in einem solchen Ausnahmefall jenseits der Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO eine Interessenabwägung vorzunehmen. Die Ausgestaltung des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO als Sollvorschrift ist die Rechtsgrundlage, um die die einzelnen individualrechtlichen und gemeinwohlrechtlichen Aspekte der Aussetzungsentscheidung sachgerecht in eine einzelfallbezogene Interessenabwägung einzustellen und zu gewichten. So wird gewährleistet, dass sowohl das berechtigte individuelle Interesse des Einzelnen an der vorläufigen Freistellung von einer eventuell verfassungswidrigen Steuerforderung, als auch das ebenfalls anzuerkennende Interesse des Staats an dem Vollzug einer noch nicht für verfassungswidrig erklärten Norm berücksichtigt werden. Eine sorgfältige Interessenabwägung führt nicht zu "rechtsstaatlich unerträglichen Ergebnissen", sondern zu einer sachgerechten Austarierung des vorläufigen Rechtsschutzes im Zusammenspiel mit anderen verfassungsrechtlich schützenswerten Positionen (ebenso: Schallmoser, DStR 2010, 297, 300). Es wird auch nicht der individuelle Rechtsschutz wegen der Breitenwirkung des Verfassungsverstoßes und des Ausmaßes des legislativen Unrechts unangemessen zurückgedrängt (so aber Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung/ Finanzgerichtsordnung, § 69 Rz. 97). Diese Kritik unterstellt zu Unrecht, dass die umstrittene Norm tatsächlich verfassungswidrig ist, was im Zeitpunkt der Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz noch gar nicht feststeht. Angesichts des verfassungsrechtlichen Schwebezustands bis zu einer Entscheidung des BVerfG sind nicht nur die individuellen Rechtsschutzinteressen sondern auch die Belastungen der öffentlichen Hand im Falle der Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes in die Entscheidung mit einzubeziehen. Dementsprechend hat das BVerfG die Rechtsprechung des BFH zur zusätzlichen Interessenabwägung beim vorläufigen Rechtsschutz bestätigt und ausgeführt, dass die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen gegen Verwaltungsakte durch Art. 19 Abs. 4 GG nicht schlechthin und ausnahmslos garantiert werde. Überwiegende öffentliche Belange könnten es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Einzelnen einstweilen zurückzustellen (BVerfG-Beschluss vom 3. April 1992 2 BvR 283/92, HFR 1992, 726; vgl. auch schon BVerfG-Beschluss vom 6. April 1988 1 BvR 146/88, [...]). Der Senat schließt sich dieser Beurteilung ausdrücklich an.
3.
Im konkreten Fall ergibt die Interessenabwägung, dass das Interesse der Antragsteller auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Gesetzes zurücktreten muss.
a)
Nach Auffassung des Senats ist zunächst die Bedeutung und Schwere des durch die Vollziehung im Einzelfall eintretenden Eingriffs bei den Antragstellern zu beurteilen (vgl. BFH-Beschluss vom 1. April 2010 II B 168/09, BFH/NV 2010, 1033). Im konkreten Fall stellt sich die Belastung mit dem Solidaritätszuschlag im Verhältnis zu dem zu versteuernden Einkommen bzw. dem unstreitig prognostizierten zu versteuernden Einkommen der Antragsteller als ein nur geringfügiger Eingriff dar:
2007 | 2008 | 2009 | |
---|---|---|---|
(beide Antragsteller) | (der Antragsteller) | ||
Zu versteuerndes Einkommen (2008 und 2009 prognostiziert) | 200.351 EUR | 136.986 EUR | 48.679 EUR |
Solidaritätszuschlag (2008 und 2009 als Vorauszahlung) | 3.752 EUR | 668 EUR | 680 EUR |
Prozentualer Anteil am Einkommen | 1,87% | 0,49% | 1,40% |
Ein ähnliches Bild ergibt die Betrachtung, wie viel Geld den Antragstellern nach Abzug der Einkommensteuer und des Solidaritätszuschlags für die private Bedürfnisbefriedigung noch zur Verfügung steht:
2007 | 2008 | 2009 | |
---|---|---|---|
(beide Antragsteller) | (der Antragsteller) | ||
Zu versteuerndes Einkommen (2008 und 2009 prognostiziert) | 200.351 EUR | 136.986 EUR | 48.679 EUR |
Abzüglich Einkommensteuer (2008 und 2009 als Vorauszahlung) | 68.222 EUR | 12.149 EUR | 12.364 EUR |
Abzüglich Solidaritätszuschlag (2008 und 2009 als Vorauszahlung) | 3.752 EUR | 668 EUR | 680 EUR |
Es verbleiben | 128.377 EUR | 124.169 EUR | 35.635 EUR |
In allen drei Jahren liegen die Antragsteller deutlich über dem verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimum. Würde das umstrittene Gesetz in das steuerfrei zu haltende Existenzminimum eingreifen, würde die Interessenabwägung zu Gunsten der Antragsteller ausfallen (vgl. BFH-Beschluss vom 25. Juli 1991 III B 555/90, BStBl II 1991, 876; BFH-Beschluss vom 29. Oktober 1991 III B 83/91, BFH/NV 1992, 246). Dagegen legen ausreichend hohe Einkünfte zur Bestreitung des Lebensunterhalts nahe, dass der Antragsteller auf eine sofortige Steuerverschonung nicht unbedingt angewiesen ist. Es drohen jedenfalls keine irreparablen Nachteile, die einen späteren Rechtsschutz hinfällig machen würden (vgl. BFH-Beschluss vom 1. April 1992 III B 137/91, BFH/NV 1992, 598; BFH-Beschluss vom 9. November 1992 X B 137/92, BFH/NV 1994, 324; BFH-Beschluss vom 19. August 1994 X B 318/93 und X B 319/93, BFH/NV 1995, 143)
b)
Die öffentlichen Haushalte würden von einer Gewährung der Aussetzung der Vollziehung erheblich betroffen sein. Der Senat geht davon aus, dass im vorliegenden Fall die Aussetzungsentscheidung eine erhebliche Breitenwirkung erzeugen würde. Von dem Solidaritätszuschlag sind nahezu alle Steuerpflichtigen gleichermaßen betroffen. Wird in einem Musterfall Aussetzung der Vollziehung gewährt, ist damit zu rechnen, dass ein Großteil der Steuerpflichtigen ebenfalls Aussetzung der Vollziehung beantragen wird, die wegen der Vergleichbarkeit der Sachlage dann ebenfalls zu gewähren wäre. Eine Aussetzung der Vollziehung im vorliegenden Fall würde daher das Aufkommen durch den Solidaritätszuschlag gefährden. Der Solidaritätszuschlag erreicht eine derartige Größenordnung und Bedeutung für die öffentlichen Haushalte, dass ein Wegbrechen dieser Einnahmen eine Gefährdung der geordneten Haushaltsführung bedeuten würde:
Steuereinnahmen (in Mill. EUR) | 2007 | 2008 |
---|---|---|
Solidaritätszuschlag | 12.34 | 13.146 |
Gesamte Bundessteuern | 85.690 | 86.302 |
Prozentualer Anteil an den Bundessteuern | 14,41% | 15,23% |
Gesamte Steuereinnahmen (einschließlich Zölle und Gemeindesteuern) | 538.243 | 561.182 |
Prozentualer Anteil an den gesamten Steuern | 2,29% | 2,34% |
(Quelle: Statistisches Jahrbuch 2009 für die Bundesrepublik Deutschland)
Den potenziellen - zumindest zeitweiligen - Verlust eines Aufkommens von über 12 Milliarden Euro je Veranlagungszeitraum können die öffentlichen Haushalte nur schwerlich verkraften. Der Senat hält diesen Aspekt für abwägungsrelevant. Er folgt daher nicht der Auffassung des IX. Senats des BFH, der rein fiskalisch begründete Interessen an dem Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts als für die Interessenabwägung unerheblich angesehen hat (BFH-Beschluss vom 5. März 2001 IX B 90/00, BStBl II 2001, 405; BFH-Beschluss vom 22. Dezember 2003 IX B 177/02, BStBl II 2004, 367). Vielmehr hält der Senat die Rechtsprechung des II. Senats des BFH für zutreffend, der in einer aktuellen Entscheidung der faktischen einstweiligen Außerkraftsetzung des Erbschaftsteuergesetzes ausschlaggebende Bedeutung beigemessen hat (BFH-Beschluss vom 1. April 2010 II B 168/09, BFH/NV 2010, 1033). Dabei beträgt das Erbschaftsteueraufkommen nur etwas über 4 Milliarden Euro, so dass die potenzielle Dimension einer flächendeckenden Aussetzung der Vollziehung in dem dort entschiedenen Fall geringer war, als in der hier vorliegenden Situation.
c)
Der Senat hält es weiter für abwägungsrelevant, ob die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Norm offenkundig ist, ob sie von dem Gesetzgeber "sehenden Auges" riskiert worden ist oder ob der Gesetzgeber bislang davon ausgehen konnte, dass die nunmehr umstrittene Norm verfassungsgemäß ist (vgl. auch Wagner, Über effektiven vorläufigen Rechtsschutz im finanzgerichtlichen Verfahren, in Festschrift für Heinrich Wilhelm Kruse, S. 735, 752).
Zwar hat der BFH mehrfach entschieden, dass es auf das Gewicht der ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der betroffenen Vorschrift nicht ankomme (BFH-Beschluss vom 21. Mai 1992 X B 106/91, BFH/NV 1992, 721; BFH-Beschluss vom 9. November 1992 X B 137/92, BFH/NV 1994, 324; BFH-Beschluss vom 1. April 2010 II B 168/09, BFH/NV 2010, 1033). In anderen Entscheidungen hat er aber in die Abwägungsentscheidung einfließen lassen, ob in der bisherigen Rechtsprechung der Fachgerichte und des BVerfG Anhaltspunkte für eine Verfassungswidrigkeit erkennbar waren (BFH-Beschluss vom 30. Januar 2001 VII B 291/00, BFH/NV 2001, 1031), ob der erkennende Senat nicht nur ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift hegte, sondern sogar von der Verfassungswidrigkeit überzeugt war (BFH-Beschluss vom 22. Dezember 2003 IX B 177/02, BStBl II 2004, 367) oder ob der Gesetzgeber selbst Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung geäußert hatte (BFH-Beschluss vom 15. Dezember 2000 IX B 128/99, BStBl II 2001, 411). Auch der Senat hält derartige Aspekte für bedeutsam, weil der Staat weniger schutzwürdig ist, wenn er von vornherein eine verfassungsrechtlich zweifelhafte Norm erlässt und damit das Risiko der Verfassungswidrigkeit bewusst in Kauf nimmt oder wenn er angesichts der Entwicklung in der Rechtsprechung erkennen musste, dass eine Vorschrift verfassungsrechtlich nicht mehr haltbar ist und er sie dennoch nicht an die verfassungsrechtlichen Vorgaben anpasst.
Im vorliegenden Fall ist es völlig offen, ob das BVerfG das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 für verfassungswidrig erklären wird. Bislang hat lediglich der 7. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts die Auffassung vertreten, dass die unbefristete Erhebung des Solidaritätszuschlags seit dem Jahr 1995 dem Wesen des Zuschlags als Ergänzungsabgabe im Sinne des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG widerspreche (Beschluss vom 25. November 2009 7 K 143/08, [...]). Der 7. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts stützt sich dabei auf die Motive des Verfassungsgebers zu Art. 106 Abs. 1 GG, wonach eine Ergänzungsabgabe nur zur Deckung von Bedarfsspitzen in Ausnahmelagen und besonderen Notfällen erhoben werden dürfe. Der 7. Senat ist der Auffassung, dass diese Voraussetzungen zumindest im Veranlagungszeitraum 2007 nicht mehr gegeben sind. Mit dieser Interpretation der vorliegenden Materialien weicht der 7. Senat ausdrücklich von der Einschätzung des BVerfG in dem Beschluss vom 9. Februar 1972 (1 BvL 16/69, BVerfGE 32, 333, 341 ff.) zum Ergänzungsabgabengesetz vom 21. Dezember 1967 (BGBl. I S. 1254) ab, in dem das BVerfG ausgeführt hatte, dass die Formulierungen in den Materialien zu unbestimmt seien, um daraus herleiten zu können, dass eine Ergänzungsabgabe nur befristet eingeführt werden dürfe. Das BVerfG vertrat damals die Auffassung, dass eine auf vorübergehende Bedarfsspitzen oder Notfälle abgestellte Befristung mit den Grundsätzen einer modernen Finanzplanung, sowie mit den Erfordernissen einer modernen Haushalts- und Konjunkturpolitik nicht zu vereinbaren sei.
Später führte die 3. Kammer des 2. Senats des BVerfG zum Solidaritätszuschlag 1991 unter Hinweis auf die Entscheidung vom 9. Februar 1972 aus, dass sich das Erfordernis einer Befristung nicht aus dem Begriff der Ergänzungsabgabe in Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 GG a.F. ableiten lasse (BVerfG-Beschluss vom 19. November 1999 2 BvR 1167/96, NJW 2000, 797). Für das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 schloss sich der BFH mit Beschluss vom 28. Juni 2006 (VII B 324/05, BStBl II 2006, 692) dieser Auffassung an und führte aus, dass es höchstrichterlich geklärt sei, dass eine zeitliche Befristung nicht zum Wesen der Ergänzungsabgabe im Sinne des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG gehöre. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde ohne Begründung nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG-Beschluss vom 11. Februar 2008 2 BvR 1708/06, DStZ 2008, 229).
Im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Entscheidung des 7. Senats des Niedersächsischen Finanzgerichts haben drei Finanzgerichte das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 für verfassungsgemäß gehalten. Das FG München führte aus, dass der Gesetzgeber im Rahmen des Finanzverfassungsgesetzes vom 23. Januar 1955 trotz entsprechender Überlegungen zur Befristung von Ergänzungsabgaben keine entsprechende Regelung im Grundgesetz aufgenommen habe. Dies spreche gegen eine verfassungsrechtlich geforderte zeitliche Befristung von Ergänzungsabgaben. Außerdem sei der Zweck des Solidaritätszuschlags noch nicht erreicht, weil der Bundeshaushalt nach wie vor mit den Kosten der Wiedervereinigung belastet sei (Urteil des FG München vom 18. August 2009 2 K 108/08, EFG 2010, 166, Rev. eingelegt, Az. des BFH: II R 50/09). Das FG Münster führte aus, dass in der Rechtsprechung des BVerfG und des BFH geklärt sei, dass eine Ergänzungsabgabe im Sinne des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG nicht nur befristet erhoben werden dürfe. Aus der Regelung in § 11 Abs. 3 des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern (sog. Solidarpakt II) könne geschlossen werden, dass die Kosten der Einheit als zeitlich begrenzt eingeschätzt werden würden. Momentan würden die Ergänzungszuweisungen des Bundes nach dem sog. Solidarpakt II noch ungefähr dem Aufkommen des Solidaritätszuschlags entsprechen (FG Münster vom 8. Dezember 2009 1 K 4077/08 E, EFG 2010, 588, Rev. eingelegt, Az. des BFH: IV R 2/10). Das FG Köln wies darauf hin, dass das Grundgesetz nach der Auslegung durch das BVerfG kein Gebot enthalte, nur befristet Ergänzungsabgaben zu erheben. Transferleistungen für die ostdeutschen Bundesländer seien noch bis zum Jahr 2019 beschlossen worden. Der Solidaritätszuschlag sei bis zum Abschluss der historisch einmaligen Finanzierungsaufgabe der Wiedervereinigung verfassungsgemäß (Urteil des FG Köln vom 14. Januar 2010 13 K 1287/09, [...]).
Der Senat braucht im vorliegenden Verfahren nicht abschließend zu entscheiden, welche Argumentation überzeugender ist. Denn auf jeden Fall ergibt sich aus diesem Rechtsprechungsbefund, dass die Verfassungswidrigkeit des Solidaritätszuschlaggesetz 1995 weder offenkundig ist, noch von dem Gesetzgeber "sehenden Auges" riskiert wurde. Sollte die Vorlage des 7. Senats des Niedersächsischen Finanzgerichts Erfolg haben, müsste das BVerfG seine bisherige Auffassung zum Wesen der Ergänzungsabgabe ändern. Der Senat kann nicht beurteilen, ob eine solche Entscheidung bevor steht. Jedenfalls kommt dem Gültigkeitsanspruch des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 bis zu einer Verwerfungsentscheidung durch das BVerfG eine erhöhte Bedeutung zu, solange nach der überkommenen Rechtsprechung des BVerfG keine Anhaltspunkte für die Verfassungswidrigkeit bestehen. Dieser Aspekt spricht gegen eine Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Verwaltungsakte.
d)
Schließlich ist es nach Auffassung des Senats für die Interessenabwägung von Bedeutung, ob im Falle einer verwerfenden Entscheidung des BVerfG mit einer rückwirkenden Nichtigkeitserklärung des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 ab dem Veranlagungszeitraum 2007 gerechnet werden muss, oder ob das Solidaritäts-zuschlaggesetzes 1995 voraussichtlich unter Beifügung einer befristeten Fortgeltungs-anordnung für nur unvereinbar mit der Verfassung erklärt werden wird.
Das Gericht darf im Verfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes keine weitergehende Entscheidung treffen, als sie vom BVerfG zu erwarten ist (BFH-Beschluss vom 6. November 1987 III B 101/86, BStBl II 1988, 134). Die Aussetzung der Vollziehung kommt daher nicht in Betracht, wenn davon auszugehen ist, dass das BVerfG die Fortgeltung der verfassungswidrigen Norm für eine am rechtsstaatlichen Kontinuitätsgebot orientierte Übergangsfrist anordnen wird (BFH-Beschluss vom 11. Juni 2003 IX B 16/03, BStBl II 2003, 663; BFH-Beschluss vom 17. Juli 2003 II B 20/03, BStBl II 2003, 807; BFH-Beschluss vom 22. Dezember 2003 IX B 177/02, BStBl II 2004, 367). In einem solchen Fall würde die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes bewirken, dass Steuern zeitweise nicht erhoben werden würden, die nach Abschluss des Verfahrens beim BVerfG nachzuzahlen wären. Ist eine solche Situation absehbar, scheidet die Aussetzung der Vollziehung aus.
Der Senat hält es für nahezu ausgeschlossen, dass das BVerfG das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 ohne Anordnung einer befristeten Fortgeltungsregelung ab dem Veranlagungszeitraum 2007 für nichtig erklären wird. Bei verfassungswidrigen Steuerrechtsvorschriften hat das BVerfG in der Vergangenheit häufig nur deren Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz unter Inkaufnahme einer befristeten Fortgeltung ausgesprochen (z.B. BVerfG-Urteil vom 27. Juni 1991 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239, BStBl II 1991, 654; BVerfG-Beschluss vom 25. September 1992 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153; BStBl II 1993, 413; BVerG-Beschluss vom 22. Juni 1995 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, BStBl II 1995, 655, 665; BVerfG-Beschluss vom 22. Juni 1995 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165, BStBl II 1995, 671, 675; BVerfG-Urteil vom 6. März 2002 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73; BStBl II 2002, 618; BVerfG-Beschluss vom 7. November 2006 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1; BStBl II 2007, 192; BVerfG-Beschluss vom 13. Februar 2008 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125; BFH/NV 2008, Beilage 3, 228). Begründet wird die befristete Fortgeltung einerseits mit den Erfordernissen einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs. Außerdem wird dem Gesetzgeber eine Umsetzungsfrist eingeräumt, wenn die Verfassungsrechtslage bisher nicht hinreichend geklärt war und dem Gesetzgeber aus diesem Grund eine angemessene Frist zur Schaffung einer Neuregelung zu gewähren ist (vgl. BVerfG-Beschluss vom 13. Februar 2008 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125; BFH/NV 2008, Beilage 3, 228 und BVerfG-Urteil vom 27. Juni 1991 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239, BStBl II 1991, 654).
Im Falle des Solidaritätszuschlags sind beide Begründungen einschlägig. Wie bereits dargelegt wurde, hätte eine Nichtigkeitserklärung des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 ab dem Veranlagungszeitraum 2007 nicht vertretbare fiskalische Auswirkungen. Sollte das BVerfG das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 für verfassungswidrig erklären, wären außerdem grundsätzliche Ausführungen zum Wesen einer Ergänzungsabgabe im Sinne des Art. 106 Abs. 1 GG zu erwarten. Erst dadurch würden die verfassungsrechtlichen Anforderungen an Ergänzungsabgaben geklärt werden, so dass eine große Wahrscheinlichkeit besteht, dass das BVerfG für einen Übergangszeitraum den Solidaritätszuschlag noch dulden würde. Schließlich spricht für eine befristete Fortgeltungsanordnung, dass sich die behauptete Verfassungswidrigkeit desSolidaritätszuschlaggesetzes 1995 irgendwann im Laufe der Zeit und damit "schleichend" eingestellt hat. Ab welchem Veranlagungszeitraum die Ergänzungsabgabe konkret zu einer Dauersteuer mutiert ist, wird sich kaum für einen bestimmten Veranlagungszeitraum festmachen lassen. Daher hält es der Senat für sehr wahrscheinlich, dass das BVerfG als Rechtsfolge einer verwerfenden Entscheidung nicht die rückwirkende Nichtigkeit des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 ab dem Veranlagungszeitraum 2007 anordnen wird.
Die hier vorgenommene Vorhersage des zukünftigen Rechtsfolgenausspruchs des BVerfG ist keine bloße "prognostische Rechtsfolgenlotterie" (so aber Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung/ Finanzgerichtsordnung, § 69 Rz. 96). Die Prognose ist vielmehr zwingend erforderlich, um den anerkannten Grundsatz, dass im vorläufigen Rechtsschutz nicht mehr gewährt werden darf, als im Hauptsacheverfahren zu erwarten ist, auf den konkreten Fall anzuwenden.
e)
In der Zusammenschau ergeben die gewürdigten Abwägungsaspekte ein eindeutiges Bild. Das öffentliche Interesse an dem Vollzug des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 erweist sich als vorrangig gegenüber den individuellen Interessen der Antragsteller auf Aussetzung der Vollziehung. Der Aussetzungsantrag war daher abzulehnen, ohne dass es einer abschließenden Entscheidung bedurfte, ob der Senat die Bedenken des 7. Senats des Niedersächsischen Finanzgerichts an der Verfassungskonformität des Solidaritätszuschlagsgesetzes teilt.
4.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
5.
Die Beschwerde war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 128 Abs. 3 Satz 2 FGO in Verbindung mit § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).