Finanzgericht Niedersachsen
Beschl. v. 25.11.2009, Az.: 7 K 143/08
Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 in der für das Jahr 2007 geltenden Fassung; Bestimmung der Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer zur Deckung von "Bedarfsspitzen" im Bundeshaushalt; Motive des Verfassungsgebers bei Einführung des Finanzierungsinstruments der Ergänzungsabgabe im Jahr 1955
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 25.11.2009
- Aktenzeichen
- 7 K 143/08
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2009, 33836
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2009:1125.7K143.08.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- BVerfG - 08.09.2010 - AZ: 2 BvL 3/10
Rechtsgrundlagen
- Art. 2 Abs. 1 GG
- Art. 20 Abs. 3 GG
- Art. 105 GG
- Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG
- § 1 Abs. 1 SolZG 1995
- § 3 SolZG 1995
- § 4 SolZG 1995
- § 3 Abs. 1 AO
Fundstellen
- AB 2010, 1
- AO-StB 2010, 3
- AuA 2010, 365
- BB 2011, 789 (Pressemitteilung)
- DB 2010, 18-19
- DB 2009, 2634
- DStR 2010, 854-858
- DStRE 2010, 639
- DStZ 2009, 905
- EFG 2010, 1071-1078
- GStB 2010, 4
- KSR direkt 2009, 12
- MBP 2010, 1
- NZG 2010, 22
- RdW 2010, 713-715
- StBW 2010, 360
- StBW 2009, 1 (Pressemitteilung)
- StX 2009, 764
- StuB 2009, 893
Solidaritätszuschlag 2007
Nach Auffassung des vorlegenden Finanzgerichts ist das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 in der für das Streitjahr 2007 geltenden Fassung verfassungswidrig, weil der Gesetzgeber sich nicht an die vom Verfassungsgeber gesetzten Regeln der Finanzverfassung gehalten hat.
Orientierungssätze
- 1.
Der Solidaritätszuschlag ist eine Ergänzungsabgabe im Sinne des Artikels 106 Abs. 1 Nr. 6 des Grundgesetzes (GG). Nach den Vorstellungen (Motiven) des Verfassungsgebers ist eine Ergänzungsabgabe zur Einkommen- und Körperschaftsteuer zur Deckung von "Bedarfsspitzen" im Bundeshaushalt bestimmt. Sie darf lediglich in "Ausnahmelagen" bzw. in "besonderen Notfällen", nicht in Zeiten allgemeiner Steuertarifsenkungen erhoben werden.
- 2.
Die Motive des Verfassungsgebers sind bei der Prüfung der Frage zu berücksichtigen, ob das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 in der für das Streitjahr 2007 geltenden Fassung verfassungsgemäß ist.
- 3.
Das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 entspricht - zumindest bezogen auf das Streitjahr 2007 - nicht den Motiven des Verfassungsgebers bei Einführung des Finanzierungsinstruments der Ergänzungsabgabe im Jahr 1955, weil
der Solidaritätszuschlag bereits seit dem Jahr 1995 unbefristet erhoben wird und dadurch zu einer Dauersteuer geworden ist,
die Einkommensteuer- und Körperschaftsteuertarife seit dem Jahr 1995 mehrfach gesenkt worden sind und
die Wiedervereinigung Deutschlands keinen nur vorübergehenden, sondern einen langfristigen Finanzierungsbedarf begründet hat.
- 4.
Das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 verletzt deshalb zumindest bezogen auf das Streitjahr 2007 die Finanzverfassung und damit die "verfassungsmäßige Ordnung" im Sinne der Artikel 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG und verstößt mithin gegen das allgemeine Freiheitsrecht des Steuerpflichtigen und gegen das Rechtsstaatsprinzip.
Tenor:
Das Verfahren wird ausgesetzt; es wird die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber eingeholt, ob dasSolidaritätszuschlaggesetz vom 23. Juni 1993 in der für das Streitjahr geltenden Fassung verfassungswidrig ist.
Gründe
A. Sach- und Streitstand
Streitig ist, ob die Festsetzung des Solidaritätszuschlags für das Jahr 2007 auf einer verfassungsmäßigen Grundlage, nämlich dem Solidaritätszuschlaggesetz 1995 vom 23. Juni 1993 (BGBl. I S. 944/975), in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Oktober 2002 (BGBl. I S. 4130), geändert durch Zweites Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2002 (BGBl. I S. 4621) und Jahressteuergesetz 2007 vom 13. Dezember 2006 (BGBl. I S. 2878), im Folgenden: SolZG 1995, erfolgt ist.
Das beklagte Finanzamt setzte mit Bescheid über Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag vom 10. Juli 2008 den Solidaritätszuschlag für 2007 gegenüber dem Kläger auf ... Euro fest (= 5,5% von der festzusetzenden Einkommensteuer in Höhe von ... Euro). Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 15. Juli 2008 Sprungklage. Das beklagte Finanzamt stimmte der Sprungklage mit Schreiben vom 7. August 2008 (eingegangen bei Gericht am 14. August 2008) zu.
Der Kläger trägt umfassend die verfassungsrechtliche Problematik des SolZG 1995 vor. Er bezieht sich auch auf eine Schrift des Karl-Bräuer-Instituts des Bundes der Steuerzahler (Lothar Schemmel, Verfassungswidriger Solidaritätszuschlag - Unzumutbar und unzulässig, Heft 102, veröffentlicht im Februar 2008).
Nach Ansicht des Klägers darf der Solidaritätszuschlag, weil er eine Ergänzungsabgabe ist, nur ausnahmsweise und nicht auf Dauer erhoben werden.
Der Kläger formuliert als Ergebnis seiner verfassungsrechtlichen Darlegungen:
Der Solidaritätszuschlag sei mit den Vorschriften der Finanzverfassung nicht mehr zu rechtfertigen, eine noch längere Hinnahme dieses verfassungswidrigen Eingriffs in das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit sei unzumutbar.
Bei gesetzessystematischer Auslegung des Art. 106 GG ergebe sich, dass der Solidaritätszuschlag als Ergänzungsabgabe nur zur Deckung vorübergehender Bedarfsspitzen im Bundeshaushalt erhoben werden dürfe. Der Ergänzungsabgabe komme nicht die Funktion eines flexiblen Elements bei der Einnahmenverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden zu. Sie habe sich im Vergleich zu den Gemeinschaftssteuern so zu verhalten, wie die seltene Ausnahme zur Regel. Diesem Ausnahme-Regel-Verhältnis werde die Ergänzungsabgabe nur dann gerecht, wenn sie ausschließlich als letztes Mittel in außergewöhnlichen Haushaltssituationen vorübergehend eingesetzt sowie in Steuersatz und Erhebungsdauer eng begrenzt werde. Zudem verlange der Rückgriff auf die Ergänzungsabgabe, dass alljährlich geprüft werde, ob ihre Erhebung noch erforderlich sei. Der Solidaritätszuschlag genüge diesen Vorgaben der Verfassung an eine Ergänzungsabgabe in keinem Punkt und sei deshalb wegen Verstoßes gegen Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG verfassungswidrig. Die Belastung der Steuerzahler mit einem verfassungswidrigen Solidaritätszuschlag verstoße offensichtlich gegen Art. 2 Abs. 1 GG.
Es möge aus Anlass der deutschen Einheit durchaus finanzielle Engpässe beim Bund gegeben haben, insbesondere wegen der Abtretung von Umsatzsteueranteilen an die Länder. Einzuräumen sei auch, dass der Gesetzgeber die Erhebungsdauer des Solidaritätszuschlags nicht von vorn herein auf ein oder zwei Jahre habe beschränken müssen. Jedoch müsse der Steuerzahler nicht hinnehmen, dass der Bund die Abtretung von Umsatzsteueranteilen an die Länder mit Hilfe des Solidaritätszuschlags dauerhaft refinanziere, denn damit überschreite er seine Gesetzgebungskompetenzen hinsichtlich der Ergänzungsabgabe. Die Zustimmung des Bundesrates zur Erhebung des Solidaritätszuschlags sei unerheblich, weil sie nicht den Vorgaben der Verfassung an die Form und die Quoren einer Verfassungsänderung genüge.
Die grundsätzlich zulässige Überbrückungsfinanzierung mit Hilfe eines Solidaritätszuschlags werde zudem für den Steuerzahler immer unzumutbarer, je länger sie anhalte. Da die überlange und überhohe Erhebung des Solidaritätszuschlags den Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei weitem überschreite, verstoße sie gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das Bestandteil des in Art. 20 Abs. 3 GG normierten Rechtsstaatsprinzips sei. Eine Ergänzungsabgabe von der Art des Solidaritätszuschlags müsse der Steuerzahler selbst dann, wenn sie verfassungsrechtlich einwandfrei sei, wegen ihres Ausnahmecharakters allerhöchstens für wenige Jahre ertragen; was darüber hinausgehe, sei unzumutbar, und zwar erst recht dann, wenn zugleich verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich des Steuersatzes bestünden und der Gesetzgeber die alljährliche Prüfung der Ergänzungsabgabe auf ihre Notwendigkeit unterlasse.
Der Kläger persönlich hat sich während des Prozesses zum Thema öffentlich zu Wort gemeldet:
"Das erinnert mich an die Schaumweinsteuer. ... Für mich ist der Solidaritätszuschlag ein Etikettenschwindel. Wenn der Staat mehr Geld braucht, soll er die Steuersätze erhöhen. Ich plädiere für eine transparente Lösung" (Zeitschrift Capital 3/2009, S. 22 f.).
Der Kläger beantragt,
den Bescheid über die Festsetzung des Solidaritätszuschlages für das Streitjahr 2007 vom 10. Juli 2008 aufzuheben.
Das beklagte Finanzamt beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es hält den Solidaritätszuschlag für verfassungsrechtlich unbedenklich und verweist auf die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung zum Thema. Nach der Begründung der Zurückweisung einer Verfassungsbeschwerde im Jahre 1999 durch die 3. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts (2 BvR 1167/96, HFR 2000, S. 134, NJW 2000, S. 797) sei der Solidaritätszuschlag 1991/92 verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Gegen den ab 1995 (nicht befristet) erhobenen Solidaritätszuschlag, konkret für das dortige Streitjahr 2002, habe der Bundesfinanzhof keine verfassungsrechtlichen Bedenken erhoben (BFH-Beschluss vom 28. Juni 2006 VII B 324/05, BFHE 213, S. 573, BStBl. II 2006, S. 692). Die gegen diesen Beschluss des Bundesfinanzhofs erhobene Verfassungsbeschwerde mit dem Az. 2 BvR 1708/06 habe die 3. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts mit Beschluss vom 11. Februar 2008 (ohne Begründung) nicht zur Entscheidung angenommen (DStZ 2008, S. 229). Mit seinem ablehnenden Beschluss vom 28. April 2009 (Az. I B 199/08) habe der Bundesfinanzhof für den Solidaritätszuschlag 2004 auf BFH BStBl. II 2006, S. 692 Bezug genommen.
In der mündlichen Verhandlung weist die Vorsteherin des beklagten Finanzamts daraufhin, dass der Bund für die deutsche Einheit bislang mehr als eine Billion Euro aufgewendet habe und jährlich rund 100 Milliarden Euro an Vereinigungslasten hinzukämen.
B. Beurteilung am Maßstab des einfachen Rechts mit Darlegungen zur Zulässigkeit des Aussetzungs- und Vorlagebeschlusses des vorlegenden Finanzgerichts
Nach § 1 Abs. 1 SolZG 1995 wird zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer ein Solidaritätszuschlag als Ergänzungsabgabe erhoben. Er bemisst sich gemäß § 3 SolZG 1995 bei einer Veranlagung zur Einkommensteuer oder Körperschaftsteuer im Wesentlichen nach der Höhe der berechneten Einkommensteuer bzw. nach der festgesetzten Körperschaftsteuer und beträgt gemäß § 4 SolZG 1995 5,5 Prozent der Bemessungsgrundlage (der Prozentsatz wurde ab 1998 von 7,5 auf 5,5 gesenkt; vgl. BGBl. I 1997, S. 2743).
Das beklagte Finanzamt hat den Solidaritätszuschlag 2007 mit Bescheid vom 10. Juli 2008 entsprechend den Bestimmungen des SolZG 1995 festgesetzt.
Der Bescheid über die Festsetzung des Solidaritätszuschlages kann deshalb nur dann aufgehoben werden, wenn dasSolZG 1995 verfassungswidrig ist und für nichtig erklärt wird. Die vorgelegte Rechtsfrage ist mithin für den Ausgang des Steuerrechtsstreits erheblich. Die endgültige Entscheidung des vorlegenden Finanzgerichts hängt von der Gültigkeit des SolZG 1995 für das Jahr 2007 ab. Bei Nichtigkeit des SolZG 1995 will das vorlegende Finanzgericht der Klage stattgeben und den angefochtenen Bescheid aufheben. Ist dagegen dasSolZG 1995 mit dem Grundgesetz vereinbar, ist die Klage abzuweisen.
Eine den Verfassungsverstoß vermeidende verfassungskonforme Auslegung des SolZG 1995 kommt nicht in Betracht. Nach der eindeutigen gesetzlichen Regelung des SolZG 1995 ist der Solidaritätszuschlag bei der Veranlagung zur Einkommensteuer nach der Höhe der festgesetzten Einkommensteuer zwingend zu erheben. Auch eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen (§ 163 AO) kommt nicht in Betracht. Eine abweichendende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen setzt voraus, dass die Steuererhebung zu einem vom Gesetzgeber nicht gewollten Ergebnis führen würde. Die Erhebung des Solidaritätszuschlags ist hingegen vom Gesetzgeber gewollt.
C. Beurteilung am Maßstab des Grundgesetzes
I. Dokumentation des entscheidungserheblichen Materials
1. Zu den Rechtsnormen
a)
Der Solidaritätszuschlag ist eine Steuer im Sinne des § 3 Abs. 1 AO (dazu BFH-Beschluss vom 28. Juni 2006 VII B 324/05, BFHE 213, S. 573, BStBl. II 2006, S. 692, 693). Das Grundgesetz verwendet den Begriff "Steuern", definiert ihn aber nicht (vgl. Art. 105 ff. GG). Allgemein wird angenommen, dass der verfassungsrechtliche Begriff der Steuern mit dem einfach-gesetzlichen Steuerbegriff des § 3 Abs. 1 AO übereinstimmt (statt vieler: BVerfG-Beschluss vom 2. Oktober 1973 1 BvR 345/73, BVerfGE 36, S. 66, 70; BVerfG-Urteil vom 6. November 1984 2 BvL 19, 20/83, 2 BvR 363, 491/83, BVerfGE 67, S. 256, 282). Steuern sind gemäß § 3 Abs. 1 AO Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft; die Erzielung von Einnahmen kann Nebenzweck sein. Da der Solidaritätszuschlag nach der Einkommensteuer bemessen wird, ist er eine Zuschlagsteuer im Sinne des§ 51a EStG.
Da das Aufkommen aus dem Solidaritätszuschlag (im Streitjahr 2007 rund zwölf Milliarden Euro) in den allgemeinen Bundeshaushalt (ohne Zweckbestimmung) eingeht, ist der Solidaritätszuschlag keine Sonderabgabe (vgl. Urteil des FG Münster vom 27. September 2005, 12 K 6263/03 E, EFG 2006, S. 371).
b)
Der Solidaritätszuschlag nach dem SolZG 1995 ist eine Ergänzungsabgabe im Sinne des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG. Die Ergänzungsabgabe als Finanzierungsinstrument wurde durch das Finanzverfassungsgesetz vom 23. Dezember 1955 (BGBl. I S. 817) in das Grundgesetz eingeführt (damals Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 GG). Mit Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG wird bestimmt, dass das Aufkommen der Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer dem Bund zusteht; dagegen steht nach Art. 106 Abs. 3 GG das Aufkommen der Einkommensteuer, der Körperschaftsteuer und der Umsatzsteuer dem Bund und den Ländern gemeinsam zu.
Die historischen Wurzeln der Ergänzungsabgabe sind die Zuschläge zur Einkommen- und Körperschaftsteuer, die das Deutsche Reich zur Sanierung des Reichshaushalts erhoben hatte (RGBl. I 1930, S. 311, 312 f., S. 522, 527 f.; dazu Lothar Schemmel, Verfassungswidriger Solidaritätszuschlag, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, Heft 102, 2008, S. 9).
Der ursprüngliche Plan, zeitgleich mit der Änderung des Art. 106 Abs. 1 GG ein "Gesetz über die Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer" einzuführen, wurde nicht umgesetzt. Die erste Ergänzungsabgabe nach dem Ergänzungsabgabengesetz vom 21. Dezember 1967 (BGBl. I S. 1254) wurde von 1968 bis 1974/76 erhoben. Die zweite Ergänzungsabgabe war der Solidaritätszuschlag 1991/92 nach dem Gesetz zur Einführung eines befristeten Solidaritätszuschlags und zur Änderung von Verbrauchsteuer- und anderen Gesetzen (Solidaritätsgesetz) vom 24. Juni 1991 (BGBl. I S. 1318); der Stabilitätszuschlag 1973/74, dessen Aufkommen Bund und Ländern gemeinsam zustand, wird nicht als Ergänzungsabgabe angesehen (dazu näher BVerfG-Beschluss vom 2. Oktober 1973 1 BvR 345/73, BVerfGE 36, S. 66, 71). Der Solidaritätszuschlag nach dem (unbefristeten) SolZG 1995 ist die dritte Ergänzungsabgabe der Bundesrepublik Deutschland.
c)
Art. 2 GG (Freiheitsrechte) bestimmt in Absatz 1, dass jeder das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit hat, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.Art. 20 GG (Verfassungsgrundsätze) bestimmt in Absatz 3, dass die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden sind.
Neben dem grundlegenden Freiheitsrecht des Bürgers (Art. 2 Abs. 1 GG) und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) sind hier die Regeln über die Gesetzgebungs- bzw. Gesetzfortführungskompetenz von besonderer entscheidungserheblicher Bedeutung. Die Gesetzgebungs- bzw. Gesetzfortführungskompetenz bestimmt sich für Steuern nach den Spezialvorschriften des Art. 105 GG, die die allgemeinen Regeln der Art. 70 ff. GG verdrängen. Nach Art. 105 Abs. 1 GG hat der Bund die ausschließliche Gesetzgebung über die Zölle und Finanzmonopole. Nach Art. 105 Abs. 2 GG hat er die konkurrierende Gesetzgebung über die übrigen Steuern, wenn ihm das Aufkommen dieser Steuern ganz oder zum Teil zusteht oder die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG vorliegen. Nach Art. 105 Abs. 2a GG haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung über die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern, solange und soweit sie nicht bundesgesetzlich geregelten Steuern gleichartig sind; sie haben die Befugnis zur Bestimmung des Steuersatzes bei der Grunderwerbsteuer. Bundesgesetze über Steuern, deren Aufkommen den Ländern oder den Gemeinden (Gemeindeverbänden) ganz oder zum Teil zufließt, bedürfen nach Art. 105 Abs. 3 GG der Zustimmung des Bundesrates.
2. Vorstellungen (Motive) des Verfassungsgebers zu Art. 106 Abs. 1 GG 1955 und Motive des Gesetzgebers zum Solidaritätsgesetz 1991 und zum SolZG 1995
a)
Der Begriff "Ergänzungsabgabe" wird in Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG nicht erläutert. Die Vorstellungen (Motive) des Verfassungsgebers zur Ergänzungsabgabe lassen sich den Materialien zur Einführung der Ergänzungsabgabe in das Grundgesetz und aus der Ablehnung des Entwurfs "eines Gesetzes über eine Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer" in den Jahren 1954/55 entnehmen; dort wird ausgeführt:
"Die Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer ist dazu bestimmt, anderweitig nicht auszugleichende Bedarfsspitzen im Bundeshaushalt zu decken, den gesetzgebenden Körperschaften des Bundes in begrenztem Rahmen eine elastische, der jeweiligen Konjunkturlage und dem jeweiligen Haushaltsbedarf angepaßte Finanzpolitik zu ermöglichen und das Steuerverteilungssystem im Verhältnis zwischen Bund und Ländern dadurch zu festigen, daß die Notwendigkeit einer Revision der Steuerbeteiligungsquoten ... auf solche Mehrbelastungen des Bundes beschränkt wird, die nicht aus dieser beweglichen Steuerreserve gedeckt werden können (vgl. Entwurf eines Gesetzes über die Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer - BT-Drucksache Nr. 484 -). Aus dieser Funktion der Ergänzungsabgabe ergibt sich die Notwendigkeit, das Aufkommen ausschließlich dem Bund zuzuweisen"
(Bundestags-Drucksache 2/480 vom 29. April 1954, S. 72). |
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Und:
"Die mit einem durch Gesetz jederzeit abänderbaren und damit ,beweglichen' Hebesatz ausgestattete Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer soll es dem Bundesgesetzgeber ermöglichen, ohne Anwendung der Revisionsklausel und ohne Änderung der Steuersätze Bedarfsspitzen im Bundeshaushalt zu decken,
die auf anderem Wege, insbesondere durch Senkung von Ausgaben nicht ausgeglichen werden können. Auf diese Weise wird die Abgabe, deren Erhebung nur mit geringen Hebesätzen in Betracht kommt und keineswegs für die Dauer, sondern lediglich für Ausnahmelagen bestimmt ist,
wesentlich zur inneren Festigung der bundesstaatlichen Finanzstruktur beitragen
... Da diese Entscheidung stets nur im Rahmen einer wirtschaftsgerechten Steuerpolitik, unter Rücksichtnahme auf die steuerliche Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft getroffen werden kann, sind der Bemessung des Hebesatzes natürliche Grenzen gesetzt. Sie verhindern auch, daß etwa die Ertragshoheit der Länder über ihren Anteil an der Einkommen- und Körperschaftsteuer durch die Ergänzungsabgabe ausgehöhlt wird.
Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die steuerliche Belastung des Einkommens normalerweise in der Gestalt der Einkommensteuer und Körperschaftsteuer erfolgen sollte. Der Entschluß, gleichwohl die Erhebung einer Ergänzungsabgabe vorzuschlagen, hat es der Bundesregierung ermöglicht, in ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung von Steuern das Ausmaß der Senkung der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer soweit zu spannen, daß sich ein wirtschaftsgerechter Tarif und eine fühlbare Entlastung der Steuerpflichtigen für die Dauer ergibt. Die gleichzeitig mit der Steuerreform einzuführende Ergänzungsabgabe schränkt diese Entlastung nur unwesentlich und nur für den Zeitraum ein, in dem die Deckungslücke des Bundeshaushalts nicht anderweitig geschlossen werden kann"
(Bundestags-Drucksache 2/484 vom 29. April 1954, S. 4, 5; Hervorhebung auch im Original). |
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Sowie:
"Der Bundesrat lehnt zwar eine Ergänzungsabgabe des Bundes zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer im Sinne der Regierungsvorlage ab. Er erkennt aber, wie sich aus der Begründung zu seinem Änderungsvorschlag zu Art. 106 Abs. 3 des Grundgesetzes ergibt, die Notwendigkeit eines Zuschlagsrechts des Bundes zu den oben bezeichnenden Steuern grundsätzlich an.
Von dem Zuschlagsrecht sollte jedoch nur in besonderen Notfällen Gebrauch gemacht werden. Es ist nicht vertretbar, im Zusammenhang mit der Steuerreform, die eine Tarifsenkung vorsieht, von dem Zuschlagsrecht Gebrauch zu machen und dadurch die steuerliche Entlastung zum Teil wieder aufzuheben"
(Bundestags-Drucksache 2/484 vom 29. April 1954, S. 1). |
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b)
Auf dem Weg zum Solidaritätsgesetz 1991 (BGBl. I S. 1318) wird im "Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines befristeten Solidaritätszuschlags und zur Änderung von Verbrauchsteuer- und anderen Gesetzen (Solidaritätsgesetz)" Folgendes ausgeführt:
"Die jüngsten Veränderungen in der Weltlage nehmen die Bundesrepublik Deutschland verstärkt in die Pflicht. Die hiermit verbundenen finanziellen Anforderungen gehen weit über den bisherigen Finanzrahmen hinaus. Eine Neubewertung der finanzpolitischen Handlungsalternativen ist deshalb unumgänglich. Mehrbelastungen ergeben sich nicht nur aus dem Konflikt am Golf, der auch nach seinem Ende finanzielle Anforderungen mit sich bringen wird. Finanzielle Mittel werden auch für die Unterstützung der Länder in Mittel-, Ost- und Südosteuropa auf dem Weg zur Marktwirtschaft und Demokratie benötigt. Hinzu kommen zusätzliche, früher nicht absehbare Aufgaben in den neuen Bundesländern, die sich aus externen Entwicklungen, insbesondere aus dem Zusammenbruch der früheren RGW-Absatzmärkte, ergeben.
... Die Finanzierung der unabweisbaren Mehraufwendungen muß von allen Bevölkerungsgruppen und Schichten getragen werden. Es geht um die solidarische Bewältigung nationaler Herausforderungen, die alle Bürger betreffen.
Mit diesem Gesetzentwurf wird die Einführung eines Solidaritätszuschlags zur Lohn-/Einkommensteuer- und Körperschaftsteuer nach Artikel 106 Abs. 1 Nr. 6 Grundgesetz vorgeschlagen. Der Solidaritätszuschlag, dem alle Einkommen linear ohne Ausnahmen unterworfen werden, stellt eine gleichmäßige Belastung aller Steuerzahler entsprechend ihrer steuerlichen Leistungsfähigkeit sicher. Ein geringer, kurz befristeter Zuschlag zur Lohn-/Einkommen- und Körperschaftsteuer ist zur Lösung vorübergehender dringender Finanzprobleme besonders geeignet und nach der deutlichen Entlastung im Rahmen des Steuerreformgesetzes 1990 vertretbar"
(Bundestags-Drucksache 12/220 vom 11. März 1991, S. 6). |
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c)
Auf dem Weg zum SolZG 1995 (BGBl. I 1993, S. 944/975) ist in der Begründung zum Entwurf des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms vermerkt:
"Ab 1995 wird ein Solidaritätszuschlag eingeführt. Vorgesehen ist ein Zuschlag zur Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer für alle Steuerpflichtigen nach dem Vorbild des Solidaritätszuschlages 1991/92. Der Zuschlag belastet alle Steuerpflichtigen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit. ...
Zur Finanzierung der Vollendung der Einheit Deutschlands ist ein solidarisches finanzielles Opfer aller Bevölkerungsgruppen unausweichlich. Die Bundesregierung schlägt deshalb mit Wirkung ab 1. Januar 1995 einen - mittelfristig zu überprüfenden - Zuschlag zur Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer für alle Steuerpflichtigen vor. Dies ist auch unter dem Gesichtspunkt der Steuergerechtigkeit der richtige Lösungsweg. Der Zuschlag ohne Einkommensgrenzen belastet alle Steuerpflichtigen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit. Mehrfachbelastungen (z.B. sog. Kaskadeneffekt bei mehrstufigem Unternehmensaufbau) werden vermieden"
(Bundestags-Drucksache 12/4401 vom 4. März 1993, S. 5, 51). |
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3. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Steuergesetzgebung im Allgemeinen und zur Erhebung einer Ergänzungsabgabe im Besonderen
a)
Nach Art. 2 Abs. 1 GG erschöpft sich die Freiheit der Entfaltung der Persönlichkeit nicht in der allgemeinen Handlungsfreiheit,
"sondern umfaßt in der grundgesetzlichen Ordnung auch den grundrechtlichen Anspruch, nicht durch staatlichen Zwang mit einem Nachteil belastet zu werden, der nicht in der verfassungsmäßigen Ordnung begründet ist. Das Grundrecht verbietet Eingriffe der Staatsgewalt, die nicht rechtsstaatlich sind (BVerfGE 9, 83, 88 [BVerfG 08.01.1959 - 1 BvR 425/52]; 17, 306, 313 f.). Insbesondere gehört zur Handlungsfreiheit auch das Grundrecht des Bürgers, nur auf Grund solcher Rechtsvorschriften zu Steuern herangezogen zu werden, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind und deshalb zur verfassungsmäßigen Ordnung gehören"
(Urteil vom 14. Dezember 1965 1 BvR 413, 416/60, BVerfGE 19, S. 206, 215 f.; vgl. auch Urteil vom 14. Dezmber 1965 1 BvR 571/60, BVerfGE 19, S. 253, 257 [BVerfG 14.12.1965 - 1 BvR 571/60]; Beschluss vom 13. Dezember 1966 1 BvR 512/65, BVerfGE 21, S. 1, 3; Beschluss vom 28. Januar 1970 1 BvL 4/67, BVerfGE 27, S. 375, 384). |
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b)
Zur Verteilung steuerlicher Lasten bei wachsendem staatlichen Finanzbedarf formuliert das Bundesverfassungsgericht einen allgemeinen Grundgedanken der Besteuerung des Bürgers (vgl. Beschluss vom 25. September 1992 2 BvL 5, 8, 14/91, BVerfGE 87, S. 153, 172 f., auch im Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 1 GG sowie der grundrechtlichen Garantie des einkommensteuerlichen Existenzminimums):
" Ein besonderer Finanzbedarf des Staates und die Dringlichkeit einer Haushaltssanierung mögen den Gesetzgeber veranlassen, die bisherigen Bedarfstatbestände in der gesamten Rechtsordnung zu überprüfen, sind aber nicht geeignet, eine verfassungswidrige Besteuerung zu rechtfertigen (vgl. BVerfGE 82, 60, 89)."
c)
Das Bundesverfassungsgericht stellte im Jahr 1972 bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung des (zunächst nicht befristeten) Ergänzungsabgabengesetzes vom 21. Dezember 1967 (BGBl. I S. 1254) im Anschluss an den Aussetzungs- und Vorlagebeschlusses des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichtes vom 21. Mai 1969 II 100/68, EFG 1969, S. 355, fest, dass der Begriff "Ergänzungsabgabe" nur bei der Festlegung der Ertragshoheit durchArt. 106 Abs. 1 GG eingeführt worden ist und dass sich die Zuständigkeit des Bundes zur Einführung einer Ergänzungsabgabe (Gesetzgebungskompetenz) bereits aus Art. 105 Abs. 2 GG ergibt. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts wäre der Bund
"jedoch nicht berechtigt unter der Bezeichnung ,Ergänzungsabgabe' eine Steuer einzuführen, die den Vorstellungen widerspricht, die der Verfassungsgeber erkennbar mit dem Charakter einer solchen Abgabe verbunden hat.
Das Funktionieren des bundesstaatlichen Systems erfordert eine Finanzordnung, die sicherstellt, daß der Gesamtstaat und die Gliedstaaten am Gesamtertrag der nationalen Leistungen sachgerecht beteiligt werden; Bund und Länder müssen im Rahmen der verfügbaren Gesamteinnahmen so ausgestattet werden, daß sie die zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben erforderlichen Ausgaben (vgl. Art. 104 a Abs. 1 GG) leisten können. Gegen die diesem Ziel dienende Finanzordnung des Grundgesetzes könnte verstoßen werden, wenn der Gesetzgeber bei der Einführung einer dem Bund zukommenden Steuer von den Vorstellungen desGrundgesetzes über eine derartige Steuer abweichen und damit das finanzielle Ausgleichssystem zu Lasten der Länder ändern würde. So dürfte der Bund z.B. keine Ergänzungsabgabe einführen, die wegen ihrer Ausgestaltung, insbesondere wegen ihrer Höhe die Bund und Ländern gemeinschaftlich zustehende Einkommen- und Körperschaftsteuer oder die den Ländern zustehende Vermögensteuer aushöhlen würde. Insoweit ist die Zuständigkeit des Bundes nach Art. 105 Abs. 2 Nr. 2 GG a.F. zur Einführung einer Ergänzungsabgabe als einer besonderen Steuer vom Einkommen im Lichte des verfassungsrechtlichen Begriffs der Ergänzungsabgabe nach Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 GG a.F. zu interpretieren"
(Beschluss vom 9. Februar 1972 1 BvL 16/69, BVerfGE 32, S. 333, 338). |
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Zur Befristung einer Ergänzungsabgabe führt das Bundesverfassungsgericht in demselben Beschluss Folgendes aus:
"Während des Gesetzgebungsverfahrens zum Finanzverfassungsgesetz wurden keine ernsthaften Versuche angestellt, eine Befristung in das Gesetz einzuführen, obwohl der Bundesrat, um die erwähnte Begrenzung der Ergänzungsabgabe der Höhe nach zu erreichen, den Vermittlungsausschuß angerufen hatte ... Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren, die Ergänzungsabgabe müsse zur Befriedigung ,anderweitig nicht auszugleichender Bedarfsspitzen im Haushalt', ,für den Fall einer unumgänglichen und nicht anderweitig zu deckenden Steigerung seines (des Bundes) Finanzdedarfs' und ,in Notfällen' erhoben werden, sind zu unbestimmt, als daß daraus hergeleitet werden könnte, eine Ergänzungsabgabe dürfe nur befristet eingeführt werden ... Eine auf vorübergehende Bedarfsspitzen oder Notfälle abgestellte Befristung oder gar eine Befristung von zwei Jahren, wie sie dem Finanzgericht vorschwebt, wäre auch mit den Grundsätzen einer modernen Finanzplanung sowie Haushalts- und Konjunkturpolitik nicht vereinbar. Sie entspräche einem statischen Haushaltsdenken, das von der Vorstellung eines im wesentlichen gleichbleibenden Blocks feststehender Ausgaben ausgeht, über welchen hinaus lediglich von Zeit zu Zeit gewisse ,Bedarfsspitzen' auftreten könnten ... Während des Laufes der Ergänzungsabgabe können sich zudem für den Bund neue Aufgaben ergeben, für deren Erfüllung die bei der allgemeinen Verteilung des Steueraufkommens zur Verfügung stehenden Einnahmen nicht ausreichen, so daß die erneute Einführung der Ergänzungsabgabe und damit auch die Fortführung einer bereits bestehenden gerechtfertigt wäre. Die Entscheidung darüber, welche Aufgaben, insbesondere welche Reformmaßnahmen in Angriff genommen werden, und wie sie finanziert werden sollen, gehört zur Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, die sich grundsätzlich der Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts entzieht. Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob ein verfassungsrechtlicher Zwang zur Aufhebung der Ergänzungsabgabe sich ergeben würde, wenn die Voraussetzungen für die Erhebung dieser Abgabe evident entfielen, etwa weil die dem Bund im vertikalen Finanzausgleich zufallenden Steuern, möglicherweise nach einer grundsätzlichen Steuer- und Finanzverfassungsreform, zur Erfüllung seiner Aufgaben für die Dauer offensichtlich ausreichen. Eine solche Situation ist, wie die ab 1967 aufgestellten und fortgeschriebenen Finanzpläne des Bundes zeigen, derzeit nicht gegeben ..."
(Beschluss vom 9. Februar 1972 1 BvL 16/69, BVerfGE 32, S. 333, 341 ff.). |
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4. Rechtsprechung zur Erhebung einer Ergänzungsabgabe nach dem Solidaritätsgesetz 1991 und nach dem SolZG 1995
a)
Die 3. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschluss vom 19. November 1999 (2 BvR 1167/96, HFR 2000, S. 134, NJW 2000, S. 797) die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 28. Februar 1996 (XI R 83, 84/94, BFH/NV 1996, S. 712) nicht zur Entscheidung angenommen und in den Gründen die Erhebung des Solidaritätszuschlags nach dem Solidaritätsgesetz 1991 nicht beanstandet:
"Soweit der Bf. Im Zusammenhang mit einer Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG geltend macht, die Erhebung der Ergänzungsabgabe habe der Zustimmung des Bundesrates bedurft, kommt der Verfassungsbeschwerde deshalb keine grundsätzliche Bedeutung zu, weil die Geltung des SolZG auf die Veranlagungszeiträume 1991 und 1992 beschränkt war und sich diese Fragen für das SolZG 1995 nicht mehr stellen."
b)
Der Bundesfinanzhof hat mit Beschluss vom 28. Juni 2006 (VII B 324/05, BFHE 213, S. 573, BStBl. II 2006, S. 692, 693; dortiges Streitjahr 2002) das klageabweisende Urteil des Finanzgerichts Münster vom 27. September 2005 (12 K 6263/03 E, EFG 2006, S. 371) bestätigt und in Bezug auf das SolZG 1995 Folgendes ausgeführt:
"Zwar wäre - wie das BVerfG mit Beschluss vom 9. Februar 1972 1 BvL 16/69 (BVerfGE 32, 333, BStBl. II 1972, 408) ausgeführt hat - der Bund nicht berechtigt, unter der Bezeichnung ,Ergänzungsabgabe' eine Steuer einzuführen, die den Vorstellungen widerspricht, die der Verfassungsgeber erkennbar mit dem Charakter einer solchen Abgabe verbunden hat. Dass die vom BVerfG insoweit angestellten Erwägungen, wonach der Bund keine Ergänzungsabgabe einführen darf, die insbesondere wegen ihrer Höhe die den Bund und den Ländern gemeinsam zustehende Einkommen- und Körperschaftsteuer aushöhlen würde, bezüglich des SolZG 1995 ernsthaft in Betracht zu ziehen sind, wird von der Beschwerde allein mit der angeblichen ,Problematik (...) der Konkurrenz der Ergänzungsabgabe zur Einkommen- und Körperschaftsteuer' nicht dargelegt und ist in Anbetracht des Zuschlagsatzes gemäß § 4 SolZG 1995 auch nicht ersichtlich. Anders als die Beschwerde meint, gehört jedenfalls die zeitliche Befristung nicht zum Wesen der Ergänzungsabgabe i.S. des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG. Der Begriff der Ergänzungsabgabe besagt lediglich, dass diese Abgabe die Einkommen- und Körperschaftsteuer, also auf Dauer angelegte Steuern, ergänzt, d.h. in einer gewissen Akzessorietät zu ihnen stehen soll (BVerfG-Beschlüsse in BVerfGE 32, 333, [BVerfG 09.02.1972 - 1 BvL 16/69] BStBl. II 1972, 408; und in HFR 2000, 134).
Auch ergeben sich aus dem Gesetzgebungsverfahren bezüglich des Finanzverfassungsgesetzes vom 23. Dezember 1955 (BGBl. I 1955, 817), mit dem die Norm betreffend die Ertragshoheit über eine Ergänzungsabgabe in das GG eingefügt worden ist, keine Hinweise auf eine vom Gesetzgeber gewollte zeitliche Begrenzung einer Erhebung von Ergänzungsabgaben (vgl. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 32, 333, [BVerfG 09.02.1972 - 1 BvL 16/69] BStBl. II 1972, 408). Die der Begründung zum Finanzverfassungsgesetz entnommenen Äußerungen, auf welche die Beschwerde sich stützt, wonach die Ergänzungsabgabe dazu bestimmt ist, ,anderweitig nicht auszugleichende Bedarfsspitzen im Haushalt zu decken" (BTDrucks II/480, S. 72), sind zu unbestimmt, als dass daraus hergeleitet werden könnte, eine Ergänzungsabgabe dürfe nur befristet eingeführt werden (BVerfG-Beschluss in BVerfGE 32, 333, [BVerfG 09.02.1972 - 1 BvL 16/69] BStBl. II 1972, 408). Zum einen ist nicht erkennbar, warum sich ,Bedarfsspitzen' nicht auch über einen Zeitraum von mehreren Jahren ergeben können; bezogen auf das Streitjahr 2002 handelt es sich um einen Zeitraum von acht Jahren, so das von einem - wie die Beschwerde meint - ,Dauerfinanzierungselement' offensichtlich nicht gesprochen werden kann. Zum anderen können sich während des Laufes einer eingeführten Ergänzungsabgabe für den Bund neue Aufgaben ergeben, für deren Erfüllung die bei der allgemeinen Verteilung des Steueraufkommens zur Verfügung stehenden Einnahmen nicht ausreichen, so dass die erneute Einführung der Ergänzungsabgabe und damit auch die Fortführung einer bereits bestehenden gerechtfertigt wäre (vgl. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 32, 333, [BVerfG 09.02.1972 - 1 BvL 16/69] BStBl. II 1972, 408)."
c)
Die 3. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschluss vom 11. Februar 2008 (2 BvR 1708/06, DStZ 2008, S. 229) zum SolZG 1995 die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 28. Juni 2006 ohne Begründung nicht zur Entscheidung angenommen.
d)
Der dargestellten Rechtsprechung der 3. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts und des 7. Senats des Bundesfinanzhofs zum SolZG 1995 folgen auch andere Senate des Bundesfinanzhofs und viele Finanzgerichte, vgl. etwa Beschlüsse des Bundesfinanzhofs vom 24. Juli 2008 II B 38/08 (BFH/NV 2008, S. 1817) und vom 28. April 2009 I B 199/08 ([...]) sowie Urteil des Finanzgerichts München vom 18. August 2009 2 K 108/08, EFG 2010, S. 166 (Revision eingelegt - BFH-Az. II R 50/09).
5. Äußerungen zum Thema aus der Steuerrechtswissenschaft / Fachliteratur
Hans-Joachim Kanzler kritisiert in einer Urteils-Anmerkung zu einem Spezialproblem des SolZG 1995 die Beibehaltung des Solidaritätszuschlags trotz allgemeiner Senkung der Einkommensteuersätze bzw. die Nichteinbeziehung des Zuschlags in die Einkommensteuer (FR 2002, S. 685):
"Die Nullzone, um die es im Streitfall geht, wird als soziale Komponente des Solidaritätszuschlags bezeichnet (BT-Drs. 13/8701, 13), eine Zusatz-Einkommen-steuer, die ärgerlicherweise immer dann unerwähnt bleibt, wenn Steuerpolitiker vor und nach 1998 ihre Leistungen bei der Senkung der Einkommensteuersätze anpriesen. Warum man bei einem nunmehr realitätsgerecht bemessenem Grundfreibetrag noch einer solchen Sozial-Zone bedarf, bleibt ebenso unerfindlich, wie erwähnte Scheu vor einer Einbeziehung des Zuschlags in die Einkommensteuer".
Jürgen W. Hidien, Kommentierung zum bundesstaatlichen Finanzrecht des Art. 106 GG, in Dolzer/Vogel/Graßhoff, Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar), Loseblatt, Art. 106 Anm. 1386, 1430, 1432, 1434, Stand November 2002:
" Festzuhalten bleibt, dass der Bundesgesetzgeber existente gliedstaatliche oder kommunale Erträge nicht mit Hilfe einer Bundessteuer aushöhlen darf, da andernfalls das finanzielle Ausgleichssystem zu Lasten der Länder verschoben wird."
"Entgegen der offenen Formulierung in Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG, die dem Steuergesetzgeber mittelbar keine Erhebungsgrenzen aufzuerlegen scheint, stehen Begriff und Ausgestaltung der Ergänzungsabgabe nicht im unbegrenzten Gestaltungsermessen . ... Diese in der amtlichen Begründung des Regierungsentwurfs zur Finanzreform 1955 beschriebene Funktion der Ergänzungsabgabe kennzeichnet sie als ein vornehmlich im rechtspraktischen Sinne subsidiäres Finanzierungsinstrument speziell des Bundes".
"Für die Ausgestaltung der Abgabe ist maßgeblich, dass sie nicht den 'Vorstellungen widerspricht, die der Verfassungsgeber mit dem Charakter einer solchen Abgabe verbunden hat'. Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht das sog.Aushöhlungsverbot entwickelt, das besonders die Länderseite schützen soll".
"Ein Befristungsgebot läßt sich weder aus dem Wortlaut noch aus der Genese der Norm herleiten. ... Andererseits ist die Abgabe kein Dauerfinanzierungselement . Jedenfalls ist die Abgabe aufzuheben, wenn die Voraussetzungen für ihre Erhebung 'evident' entfielen, etwa weil der Bund nunmehr über ausreichende Finanzmittel verfügt"
(Hervorhebungen auch im Original ). |
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Dieter Steinhauff merkt zur Entscheidung des 7. Senats des Bundesfinanzhofs vom 28. Juni 2006 VII B 324/05, BFHE 213, S. 573, BStBl. II 2006, S. 692, Nachfolgendes an (jurisPR-SteuerR 36/2006 Anm. 4, S. 2, erschienen am 4. September 2006):
"Mit der Entscheidung des BFH dürfte die in letzter Zeit geführte Diskussion über mögliche zeitliche Grenzen der Erhebung eines SolZ zur Finanzierung der Kosten für die Wiedervereinigung Deutschlands (vgl. BT-Drs. 12/4401) wieder in etwas ruhigere Bahnen gelenkt werden. Die Finanzverwaltung hatte bereits nach Ergehen des Urteils des FG Münster Einsprüche gegen die Festsetzung des SolZ, die mit einer möglichen Verfassungswidrigkeit des SolZG begründet worden waren, in größerem Umfang zurückgewiesen und hatte ein Ruhen des Verfahrens nach § 363 Abs. 2 AO abgelehnt".
Andreas Rohde und Marcus Geschwandtner besprechen in NJW 2006, S. 3332 (3335) insbesondere den Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 28. Juni 2006 VII B 324/05 (BFHE 213, S. 573, BStBl. II 2006, S. 692) und kommen zu folgendem Ergebnis:
"Weder die Anfechtung einzelner Steuerbescheide oder Einspruchsentscheidungen vor den Finanzgerichten noch die vom Bund der Steuerzahler eingelegte Verfassungsbeschwerde sind erfolgversprechend."
Christian Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band V 2007, S. 901:
"Auf einer niedrigen Stufe erscheinen Ausgabenanlässe als Begründung einer Steuer etwa in den Gesetzesmaterialien oder -beratungen. Bestes Beispiel ist der im Zuge der Wiedervereinigung eingeführte Solidaritätszuschlag zur Einkommen- und Körperschaftsteuer. Im Gesetzeswortlaut ist hier allenfalls in dem Wortbestandteil 'Solidarität' ein lockerer Verwendungszweckanlaß angedeutet. Mit wem Solidarität geübt werden soll, das ergibt sich erst aus dem politischen Kontext. Dieser Steuerzuschlag fließt vollständig in den allgemeinen Staatshaushalt. Eine rechtliche Bindung seines Aufkommens existiert nicht."
Johannes R. Nebe kritisiert die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Februar 2008 (2 BvR 1708/06, DStZ 2008, S. 229) zum Solidaritätszuschlag (NWB Nr. 18 vom 28. April 2008, S. 1619, 1620 f.):
"Insbesondere Art und Weise des Beschlusses führen zu nicht unerheblicher Verwunderung. Zwar sind weitere Einzelheiten des Verfahrens bisher nicht bekannt, doch erscheint es kaum nachvollziehbar, wenn das BVerfG in einem Verfahren mit einer so großen Breitenwirkung erst nach rund zwei Jahren zu der Auffassung gelangt, die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, und dann - trotz der langen Verfahrensdauer und Bedeutung - es nicht für nötig erachtet, den Nichtannahmebeschluss zu begründen. Eine solche Verfahrensweise erscheint nicht unbedingt geeignet, das Vertrauen in die Arbeit der Judikative zu stärken. ... Das BVerfG hat die Chance verstreichen lassen, sich grds. zum Solidaritätszuschlag und zu Gesichtspunkten von Sondersteuern, Ergänzungsabgaben o.Ä. sowie deren Zulässigkeit und zeitliche Dauer zu äußern. Der Gesetzgeber bleibt aufgerufen, die Notwendigkeit der Beibehaltung des Solidaritätszuschlags kritisch zu prüfen".
Klaus Lindberg äußert sich wie folgt in Blümich, Kommentar zum EStG/KStG/GewStG/-Ertragsteuerliche Nebengesetze, Loseblatt, § 1 SolZG 1995, Anm. 10, Stand Mai 2009:
"Es ist aber zweifelhaft, ob das als befristet geplante Gesetz nach 14-jähriger Laufzeit noch verfassungsgemäß oder eine verfassungswidrige Sondersteuer ist".
Helmut Siekmann in Sachs, Kommentar zum Grundgesetz, 5. Auflage 2009, Art. 106 Anm. 7 (ähnlich die Vorauflagen):
"Ergänzungsabgaben nach Nr. 6 sind akzessorisch zu den auf Dauer angelegten Einkommen- und Körperschaftsteuern. Sie dürfen nicht zur Aushöhlung dieser Steuern führen, die Gemeinschaftsteuern (Abs. 3 S. 1) sind. Sie brauchen aber nicht zeitlich befristet zu sein. Der seit dem 1.1.1995 erhobene Solidaritätszuschlag zur Finanzierung der deutschen Einheit ... entspricht diesen Anforderungen wohl noch".
Für Klaus Tipke ist der derzeitige Solidaritätszuschlag ein Beispiel für Besteuerungsunmoral (Besteuerungsmoral statt Fiskalismus, Beilage zum steuertip im markt intern Verlag vom 17. Juli 2009, S. 2; nachlesbar auch in FR-Aktuell 23/2009, VI; dazu auch seine Ausführungen zum Thema "Die Gerichte als Hüter der Besteuerungsmoral" in: Besteuerungsmoral und Steuermoral, herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, 2000, S. 70 ff.):
"Von jeher waren Finanzminister und Steuerpolitiker daran interessiert, die Gesamtsteuerlast niedrig erscheinen zu lassen - durch Partitionierung der Gesamtsteuerlast in ein Konvolut von Einzelsteuerlasten, durch unmerkliche indirekte Steuern, die in die Preise eingehen, durch kleine Bei-Steuern, wie dem Solidaritätszuschlag. Da eine progressive Steuer bereits eine Solidaritätssteuer ist und durch den Solidaritätszuschlag kein Sonderbedarf gedeckt wird, ist es besteuerungsmoralisch angezeigt, den Solidaritätszuschlag in die Einkommensteuer zu integrieren. Neben der progressiven Einkommensteuer als Solidaritätssteuer bedarf es keiner weiteren besonderen Solidaritätssteuer. Durch die Vielzahl der Steuern wird nicht nur die Gesamtsteuerlast vertuscht, sondern auch verdeckt, dass es nur eine Steuerquelle gibt, nämlich das gespeicherte Einkommen. Aus dieser Quelle muß jede Steuer entrichtet werden."
Roberto Bartone beschreibt nach einer Analyse des klageabweisenden Urteils des Finanzgerichts München vom 18. August 2009 (2 K 108/08, EFG 2010, S. 166, Revision eingelegt - BFH-Az. II R 50/09, dortiges Streitjahr 2005) zum Thema SolZG 1995 die Auswirkungen für die Praxis folgendermaßen (jurisPR-SteuerR 47/2009 Anm. 6, S. 2 f., erschienen am 23. November 2009):
"Das FG München hat die Revision gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Die Entscheidung des BFH (Az. II R 50/09) bleibt daher abzuwarten. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch das BVerfG mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit des SolZG befasst werden wird, und zwar entweder aufgrund einer Richtervorlage des BFH gem. Art. 100 Abs. 1 GG oder aufgrund einer Verfassungsbeschwerde, die sich unmittelbar gegen die Entscheidung des BFH und mittelbar gegen das SolZG richten könnte. Mit einer Richtervorlage ist allerdings aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des BFH nicht zu rechnen, so dass die Kläger des Ausgangsverfahrens voraussichtlich den Weg der Verfassungsbeschwerde einschlagen müssen, wenn sie eine Entscheidung des BVerfG zu der hier maßgeblichen Frage herbeiführen wollen".
II. Rechtsauffassung des vorlegenden Finanzgerichts: Das SolZG 1995 ist verfassungswidrig
Da das vorlegende Finanzgericht das SolZG 1995 für verfassungswidrig hält, ist die Aussetzung des Verfahrens und die Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG geboten.
Nach den dargelegten Rechtsgrundsätzen des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsstaatlichkeit des Besteuerungseingriffs des Staates gegenüber dem Bürger als Teil der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne des Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG und unter Beachtung der dargelegten Vorstellungen (Motive) des Verfassungsgebers kann nicht begründet werden, dass der Solidaritätszuschlag nach dem SolZG 1995 noch eine zulässige Ergänzungsabgabe im Sinne des Art. 105 Abs. 2, 106 Abs. 1 Nr. 6 GG ist, mit der der Kläger im Streitjahr 2007 belastet werden darf. Die Gesetzgebungs- bzw. Gesetzfortführungskompetenz für den Solidaritätszuschlag sind im Streitjahr 2007 entfallen. Das SolZG 1995 verletzt im Streitjahr 2007 die Finanzverfassung und damit die verfassungsmäßige Ordnung im Sinne der Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG und verstößt mithin gegen das allgemeine Freiheitsrecht des Steuerpflichtigen und gegen das Rechtsstaatsprinzip. Der Gesetzgeber hat sich nicht an die vom Verfassungsgeber gesetzten Regeln der Finanzverfassung gehalten.
Der Solidaritätszuschlag darf als Ergänzungsabgabe allein zur Deckung (vorübergehender) Bedarfsspitzen im Bundeshaushalt erhoben werden, weil sich die Ergänzungsabgabe im Vergleich zu den sonstigen Steuern, die in der Finanzverfassung aufgezählt sind, wie die seltene Ausnahme zur Regel verhält. Der Ausnahmecharakter der Ergänzungsabgabe verbietet eine dauerhafte Erhebung dieser Steuer. Dies ergibt sich aus den Materialien zur Einführung des Finanzierungsinstruments der Ergänzungsabgabe in das Grundgesetz.
Der Begriff der Ergänzungsabgabe ist im Grundgesetz nicht definiert. Sie wird als eine der Steuern, die erhoben werden können, vorausgesetzt. Wegen der fehlenden Definition und Angabe der Voraussetzungen, unter denen eine Ergänzungsabgabe erhoben werden darf, greift das vorlegende Finanzgericht auf die Motive des damaligen Verfassungsgebers, die den Materialien des Jahres 1954 zu entnehmen sind, zurück.
Das vorlegende Finanzgericht misst der Begründung zur Verfassungsänderung 1954/55 eine hohe Bedeutung bei der Auslegung der Norm zu. Nach dieser ist für das vorlegende Finanzgericht deutlich, dass eine Ergänzungsabgabe nur kurzfristig erhoben werden darf.
Das Bundesverfassungsgericht nimmt in seiner Entscheidung vom 9. Februar 1972 (1 BvL 16/69, BVerfGE 32, S. 333, 338, 341 ff.) zur ersten Ergänzungsabgabe (1968 bis 1974/76) ausdrücklich auf die Materialien zur Einführung des Finanzierungsinstruments der Ergänzungsabgabe in das Grundgesetz im Jahr 1955 (etwa Bundestags-Drucksache II/480, S. 72) Bezug; nach dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist der Bundestag nicht berechtigt, unter der Bezeichnung "Ergänzungsabgabe" eine Steuer ein- oder fortzuführen, die den Vorstellungen widerspricht, die der Verfassungsgeber erkennbar mit dem Charakter einer solchen Abgabe verbunden hat.
Die Materialien zur Einführung der Ergänzungsabgabe in das Grundgesetz, damit die erkennbaren Motive des Verfassungsgebers, zeigen, das eine Finanzbedarfs"spitze" Voraussetzung für die Erhebung einer Ergänzungsabgabe ist. Eine solche kann logisch nicht auf Dauer vorliegen. Ein Spitzenfinanzbedarf verflüchtigt sich nach einiger Zeit wieder oder er weitet sich zu einer Finanzlücke aus, deren Schließung allein durch (auf Dauer angelegte) Steuererhöhungen nicht aber durch Fortführung einer Ergänzungsabgabe, die nicht auf Dauer angelegt sein darf, zulässig ist. Eine Ergänzungsabgabe darf deshalb nur vorübergehend erhoben werden. Sie darf nicht zur Schließung einer über ein Jahrzehnt andauernden Finanzierungslücke, nicht zur Deckung eines Finanzbedarfs"plateaus", eingesetzt werden.
Die Bundesrepublik Deutschland hatte mit dem Beitritt der einstigen DDR im Jahre 1990 eine Finanzierungsaufgabe übernommen, deren zeitliches Ende nicht absehbar ist. Der übernommene Finanzbedarf bedeutet für den Bundeshaushalt eine sehr große, auf viele Jahre nicht absehbare Finanzierungslücke. In diesem Sinne ist auch die Aussage der Vorsteherin des beklagten Finanzamts in der mündlichen Verhandlung einzuordnen, nach der der Bund für die deutsche Einheit bislang enorm hohe Beträge aufgewendet hat und jährlich weitere viele Milliarden Euro an Vereinigungslasten hinzukommen. Auch der sogenannte Solidarpakt zwischen den neuen und den alten Bundesländern soll mindestens bis zum Jahre 2019 bestehen bleiben (der erste Solidarpakt zum "Aufbau Ost" bestand von 1995 bis 2004, der zweite wurde im Jahr 2005 beschlossen und soll erst im Jahre 2019 beendet werden).
Die Fortführung des Solidaritätszuschlags widerspricht auch deshalb den erkennbaren Vorstellungen des Verfassungsgebers, weil es in den letzten Jahren immer wieder umfassende und auf Dauer angelegte allgemeine und punktuelle Steuerermäßigungen gab, obwohl der Solidaritätszuschlag weitgehend unverändert erhoben worden ist. Der damalige Bundesrat bezeichnete es im Jahr 1954 ausdrücklich als "nicht vertretbar", das Zuschlagsrecht (Ergänzungsabgabe) im Zusammenhang mit einer Steuertarifsenkung auszuüben und dadurch die steuerliche Entlastung zum Teil wieder aufzuheben (Bundestags-Drucksache 2/484 vom 29. April 1954, S. 1); entsprechend wurde - wegen der anstehenden Steuertarifsenkung - der damalige Plan, zeitgleich mit der Änderung des Art. 106 Abs. 1 GG ein "Gesetz über die Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer" einzuführen, nicht umgesetzt. Auch diese sich aus den Materialien ergebenden Motive des Verfassungsgebers der Jahre 1954/55 verdeutlichen, dass die Ergänzungsabgabe subsidiären Charakter hat. Der Verfassungsgeber hatte nach den Materialien erkennbar die Vorstellung, dass eine einmal eingeführte Ergänzungsabgabe in Zeiten von geplanten Steuersenkungen zunächst entfallen muss, bevor Tarifsenkungen bei der Einkommensteuer greifen. Entgegen diesen Vorstellungen des Verfassungsgebers hat der Gesetzgeber in den letzten Jahren mehrfach den Einkommensteuer- und Körperschaftsteuertarif gesenkt, etwa durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 (BGBl. I 1999, S. 402); bei gleichzeitiger Weitererhebung des Solidaritätszuschlags wurde der Einkommensteuer-Spitzensatz von ehemals 53 Prozent ab dem Jahr 2000 bis zum Jahr 2005 in mehreren Stufen auf 42 Prozent abgesenkt (seit dem Jahr 2007 mit einem Spitzensteuersatz von 45 Prozent für zu versteuernde Einkommen ab rund 250.000 Euro, näher dazu Joachim Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Auflage 2009/10, S. 403; kritischHans-Joachim Kanzler, FR 2002, S. 685; zur Absenkung des Körperschaftsteuertarifs durch das Steuersenkungsgesetz vom 23. Oktober 2000, BGBl. I S. 1433 und zu weiteren Tarifsenkungen, vgl. Joachim Lang, a.a.O., S. 212 f., 219 ff.).
Dass der Bundesrat dem SolZG 1995 zugestimmt hat, führt zu keiner anderen Würdigung, weil diese Zustimmung nicht den Vorgaben der Verfassung an die Form und die Quoren einer Verfassungsänderung genügt (ausführlich dazu Lothar Schemmel, Verfassungswidriger Solidaritätszuschlag, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, Heft 102, 2008, S. 22 ff.).
Den Annahmen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesfinanzhofs, eine zeitliche Befristung gehöre nicht zum Wesen der Ergänzungsabgabe (Beschluss vom 9. Februar 1972 1 BvL 16/69, BVerfGE 32, S. 333, 342; Beschluss vom 28. Juni 2006 VII B 324/05, BFHE 213, S. 573, BStBl. II 2006, S. 692, 694), folgt das vorlegende Finanzgericht nicht. Die Materialien zum Finanzverfassungsgesetz vom 23. Dezember 1955, mit dem die Norm betreffend die Ertragshoheit über eine Ergänzungsabgabe in das Grundgesetz eingeführt worden ist, verdeutlichen, dass der Verfassungsgeber die Erhebung einer Ergänzungsabgabe nur für einen vorübergehenden Bedarf, also zeitlich beschränkt gestatten wollte. Danach dient eine Ergänzungsabgabe allein zur Deckung vorübergehender "Bedarfsspitzen"; ausdrücklich ist noch von zu finanzierenden "Ausnahmelagen" und "besonderen Notfällen" die Rede.
Diese Formulierungen sind entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesfinanzhofs nicht zu unbestimmt, um daraus etwas für die Zulässigkeit der Erhebung einer Ergänzungsabgabe abzuleiten. Die aus den Materialien zitierten Begriffe "Bedarfsspitze im Haushalt" und "nicht anderweitig zu decken" und "in besonderen Notfällen" verdeutlichen die klare Vorstellung des Verfassungsgebers über die Ergänzungsabgabe als ein nachrangiges und punktuelles, zeitlich beschränktes Finanzierungsinstrument. Eine Bedarfsspitze ist eine "Spitze", keine Hochebene der Finanzierung. Zwar können sich "Bedarfsspitzen" auch (ausnahmsweise) über einen Zeitraum von mehreren Jahren erstrecken. Jedoch muss - bezogen auf das hier maßgebliche Streitjahr 2007 - bei einem Zeitraum von weit mehr als zehn Jahren eine unzulässige "Dauer"finanzierung angenommen werden. Im Haushaltsrecht befindet man sich bei Perioden von zehn und mehr Jahren längst im langfristigen Bereich. Eine "mittelfristige" Finanzplanung umfasst eine Planungsperiode vor nur fünf Jahren. Dementsprechend wurden vor Einführung des SolZG 1995 die anderen Ergänzungsabgaben nur für wesentlich kürzere Zeiträume erhoben.
Das vorlegende Finanzgericht folgt auch nicht der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts, eine zeitliche Beschränkung der Ergänzungsabgabe auf vorübergehende Bedarfsspitzen oder Notfälle sei mit den "Grundsätzen einer modernen Finanzplanung sowie Haushalts- und Konjunkturpolitik nicht vereinbar" (Beschluss vom 9. Februar 1972 1 BvL 16/69, BVerfGE 32, S. 333, 342). Die Vorstellungen des Verfassungsgebers zum zeitlichen Umfang einer Ergänzungsabgabe können nicht durch andere haushalts- und konjunkturpolitische Vorstellungen eines Gerichts ersetzt werden.
Der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts und der des Bundesfinanzhofs (Beschluss vom 9. Februar 1972 1 BvL 16/69, BVerfGE 32, S. 333, 340; Beschluss vom 28. Juni 2006 VII B 324/05, BFHE 213, S. 573, BStBl. II 2006, S. 692, 694), eine Ergänzungsabgabe dürfe dauerhaft erhoben werden, wenn sich nach ihrer Einführung für den Bund neue Aufgaben ergäben, für deren Erfüllung die bei der allgemeinen Verteilung des Steueraufkommens zur Verfügung stehenden Einnahmen nicht ausreichten, so dass eine erneute Einführung der Ergänzungsabgabe und damit auch die Fortführung einer bereits bestehenden möglich sei, folgt das vorlegende Finanzgericht nicht. Die fortdauernde Erhebung einer Ergänzungsabgabe mit wechselnder Begründung widerspricht den in den Materialien niedergelegten Vorstellungen des Verfassungsgebers des in den Jahren 1954/55 geschaffenen Finanzierungsinstituts. Die Annahme immer neuer Bedarfsspitzen (nach dem "Aufbau-Ost-Soli" folgt der "Aufbau-West-Soli", der "Bildungs-Soli" und/oder der "Gesundheits-Soli"), gleichsam die Annahme eines Finanzbedarfs"massivs", damit die andauernde Umwidmung einer durchgängigen Ergänzungsabgabe ohne jeweils neuen Gesetzesbeschluss entspricht nicht den Grundsätzen der Finanzverfassung nach den Art. 105 ff. GG. Deshalb darf - entsprechend dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 25. September 1992 (2 BvL 5, 8, 14/91, BVerfGE 87, S. 153, 172 f.) - auch ein dauerhafter Finanzbedarf des Staates nicht zu einer dauerhaften Beibehaltung einer Ergänzungsabgabe mit wechselnder Begründung führen.
Der Umstand, dass der Plan in den Jahren 1954/55, zeitgleich mit der Änderung des Art. 106 Abs. 1 GG ein "Gesetz über die Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer" einzuführen, nicht umgesetzt wurde, bestärkt das vorlegende Finanzgericht in der Auffassung, dass nach den maßgeblichen Vorstellungen des Verfassungsgebers eine Ergänzungsabgabe nicht erhoben werden darf, wenn gleichzeitig diejenige Steuer, nach der sich die Ergänzungsabgabe bemisst, gesenkt wird. Mit diesem Umstand und den damit verbundenen Motiven des Verfassungsgebers setzen sich das Bundesverfassungsgericht und der Bundesfinanzhof nicht auseinander. Das Bundesverfassungsgericht stellt damit in seiner Entscheidung vom 9. Februar 1972 (1 BvL 16/69, BVerfGE 32, S. 333) und ihm folgend der Bundesfinanzhof mit seinem Beschluss vom 28. Juni 2006 (VII B 324/05, BFHE 213, S. 573, BStBl. II 2006, S. 692) die bei der verfassungsrechtlichen Interpretation des Begriffs "Ergänzungsabgabe" maßgeblichen Vorstellungen des Verfassungsgebers nicht vollständig dar.
Der Nichtannahmebeschluss der 3. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. November 1999 (2 BvR 1167/96, HFR 2000, S. 134, NJW 2000, S. 797) steht der Entscheidung des vorlegenden Finanzgerichts deshalb nicht entgegenstehen, weil er zu einer Ergänzungsabgabe ergangen ist, die als Solidaritätszuschlag 1991/1992 lediglich für einen kurzen Zeitraum erhoben wurde und damit eine im Wesentlichen andere Rechtslage betrifft. Das für das vorlegende Finanzgericht entscheidende Kriterium "dauerhafte Erhebung" lag bezogen auf das Solidaritätsgesetz 1991 nicht vor.
Mit dem Nichtannahmebeschluss der 3. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Februar 2008 (2 BvR 1708/06, DStZ 2008, S. 229) zum SolZG 1995 kann sich das vorlegende Finanzgericht inhaltlich nicht auseinandersetzen, weil die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum dortigen Streitjahr 2002 ohne Begründung ergangen ist (dazu kritisch Johannes R. Nebe, NWB Nr. 18 vom 28. April 2008, S. 1619, 1620 f.).