Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 22.02.2005, Az.: 3 A 300/02

Allgemeinverfügung; Auslegung; Beschränkung; Demonstration; Gefährdung; rechtmäßige Allgemeinverfügung; rechtswidrige Allgemeinverfügung; räumliche Beschränkung; teleologische Reduktion; Versammlung; Versammlungsfreiheit; Versammlungsverbot; zeitliche Beschränkung; öffentliche Ordnung; öffentliche Sicherheit; öffentliche Versammlung

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
22.02.2005
Aktenzeichen
3 A 300/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2005, 50651
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Wenn man davon ausgehen wollte, dass die Allgemeinverfügung zur Einschränkung des Demonstrtationsrechtes beim Castor-Transport entgegen ihrem weiten nicht interpretationsfähigen Wortlaut - der Begriff "alle Versammlungen" lässt einen wertausfüllungsbedürftigen Beurteilungsspielraum nicht zu - einschränkend im Sinne einer teleologischen Reduktion angewendet werden müsste, ergäbe sich:

Die Allgemeinverfügung soll eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verhindern (§ 15 Abs. 1 VersG). Aus dem Kreis aller Teilnehmer von Demonstrationen und sonstigen Aktionen entlang der Transportstrecke ist eine solche unmittelbare Gefahr der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu erwarten gewesen. Unter Berücksichtigung dieses Hintergrundes erfasst die Allgemeinverfügung nach ihrem Sinn und Zweck "alle" Veranlagungen, die in örtlicher, zeitlicher oder inhaltlicher Hinsicht eine Nähe und einen Bezug zum Castortransport haben. Diese Nähe kann sich nicht nur durch Thema und Ablauf einer bestimmten Versammlung ergeben, sondern auch durch den Veranstalter selbst.

Tatbestand:

1

Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass die räumliche Beschränkung eines Demonstrationszuges zur Zeit des Castortransportes 2002 rechtswidrig gewesen ist.

2

Die Bezirksregierung Lüneburg als Rechtsvorgängerin der beklagten Polizeidirektion Lüneburg erließ am 26. Oktober 2002 eine Allgemeinverfügung über eine räumliche und zeitliche Beschränkung des Versammlungsrechtes innerhalb eines Korridors für den Castortransport. Damit untersagte sie ab dem 9.November 2002, 0.00 Uhr, unangemeldete öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge sowie ab dem 11. November 2002, 8.00 Uhr, alle öffentlichen Versammlungen bis zum 20. November 2002, 24.00 Uhr, in einem bestimmten näher bezeichneten räumlichen Bereich. Zu der betroffenen Transportstrecke gehört u.a. die Landesstraße 256 zwischen Klein und Groß Gusborn.

3

Gegen die Allgemeinverfügung wurden beim Verwaltungsgericht Lüneburg Klagen erhoben mit dem Ziel, festzustellen, dass die Allgemeinverfügung rechtswidrig gewesen ist. Die Klage der Klägerin wurde abgewiesen (Urt. v. 02.09.2004 - 3 A 286/02 -), über den Antrag auf Zulassung der Berufung hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht noch nicht entschieden (11 LA 341/04).

4

Die Klägerin meldete am 6. November 2002 für den 11. bis einschl. 15. November 2002 Aufzüge an. An jedem Tag sollte eine Versammlung in Siemen beginnen, von dort sollte der Aufzug nach Groß Gusborn und weiter nach Klein Gusborn führen, dort war dann eine Abschlusskundgebung geplant. Nach den Vorstellungen der Bürgerinitiative war mit bis zu täglich 500 Teilnehmern zu rechnen.

5

Nach Durchführung eines Kooperationsgespräches bestätigte die Bezirksregierung Lüneburg mit Bescheid vom 9.November 2002 die Aufzüge ab dem 11. November, bestimmte jedoch, dass die Demonstrationen in Groß Gusborn auf einem gesondert gekennzeichneten Platz abzuschließen seien. Die räumliche Strecke der Landesstraße 256 zwischen Klein und Groß Gusborn liege im Geltungsbereich der Allgemeinverfügung, so dass der Umzug vorher enden müsse.

6

Gegen die Einschränkung der Demonstration legte die Klägerin Widerspruch ein, über den die Bezirksregierung nicht entschieden hat.

7

Am 4. Dezember 2002 hat die Klägerin Klage erhoben.

8

Die Klägerin beantragt,

9

festzustellen, dass der Bescheid der Bezirksregierung Lüneburg vom 9. November 2002 rechtswidrig ist, soweit darin die Fortsetzung der Demonstration auf der Transportstrecke zwischen Groß und Klein Gusborn untersagt worden ist,

10

hilfsweise

11

Beweis zu erheben gemäß den Anträgen 1 bis 4 im Schriftsatz vom 25. Juni 2004.

12

Die Beklagte beantragt,

13

die Klage abzuweisen.

14

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

15

Die Klage ist mit dem Haupt- und Hilfsantrag zulässig, aber unbegründet.

16

1. Zur Grundrechtsfähigkeit, Beteiligtenfähigkeit und Klagebefugnis der Klägerin hat die Kammer bereits im Urteil vom 2. September 2004 (3A 286/02) ausgeführt:

17

Die Klägerin - die Bürgerinitiative X-1000mal quer - ist im Hinblick auf die im vorliegenden Verfahren geltend gemachte Verletzung der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) trotz ihrer Stellung als nicht rechtsfähige Vereinigung im bürgerlich-rechtlichen Sinne grundrechtsfähig, damit beteiligtenfähig (vgl. § 61 Nr. 2 VwGO: „Vereinigungen, soweit ihnen ein Recht zustehen kann“) und auch klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO).

18

Denn auch nicht rechtsfähige Vereinigungen können Zuordnungssubjekt von Art. 8 Abs. 1 GG sein und sich auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit berufen, wenn sie vergleichbar nicht rechtsfähigen Vereinen oder Gesellschaften des Bürgerlichen Rechts eine fest gefügte - „körperschaftlich verfasste“ - Struktur haben und auf gewisse Dauer angelegt sind (Dietel/Gintzel/Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, Kommentar, 12. Aufl. 2000, § 1 Rdnr. 66 und 240, m.w.N.)

19

Nach den Feststellungen der Kammer in dem Verfahren 3 A 255/01 erfüllt die Klägerin die Anforderungen an die Grundrechtsfähigkeit im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 GG:

20

Die Initiative x-1000mal quer ist eine der „führenden“ Initiativen bei der Organisation und Durchführung der Proteste bei den Castortransporten seit März 2001. Sie besteht seit 1995 und ist damit eine auf Dauer angelegte Vereinigung von Atomkraftgegnern. Sie führt eine Mitgliederliste und ein eigenes Bankkonto, hält alle 4 bis 6 Wochen Mitgliederversammlungen, ist bundesweit aktiv und hat eine feste Geschäftsstelle in Kiel. Angesichts dieser vereinsähnlichen Organisation bestehen auch keine Zweifel hinsichtlich der für die Annahme der Grundrechtsfähigkeit erforderlichen festen körperschaftsähnlichen Struktur der Vereinigung der Klägerin.

21

Daran ist festzuhalten.

22

2. Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage statthaft. Das gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erforderliche berechtigte Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Bescheides der Bezirksregierung Lüneburg vom 9. November 2002 liegt vor. Die Aufzüge sind von der Bezirksregierung nur hinsichtlich der außerhalb der Transportstrecke liegenden räumlichen Bereiche bestätigt worden. Für den Bereich zwischen Groß und Klein Gusborn sind die täglich beabsichtigten Aufzüge untersagt worden. Das berührt die durch Art. 8 GG geschützten Versammlungsfreiheit der Klägerin. Es besteht auch die Gefahr einer Wiederholung einer solchen Rechtsbeeinträchtigung, da die Klägerin immer wieder bei Castortransporten Protestaktionen plant und durchführt, die möglichst auf oder in der Nähe der Transportstrecke stattfinden sollen.

23

3. Die Klage mit dem Hauptantrag ist nicht begründet. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Bescheid der Bezirksregierung Lüneburg vom 9. November 2002 rechtswidrig ist, soweit darin die Fortführung der Demonstration auf der Transportstrecke zwischen Groß und Klein Gusborn untersagt worden ist. Die Bezirksregierung ist vielmehr berechtigt gewesen, die Fortführung zu verbieten. Denn in dem räumlichen Bereich zwischen Klein und Groß Gusborn hat die Allgemeinverfügung Geltung gehabt, die hier wie auf der gesamten Transportstrecke ab dem 11. November 2002 alle öffentlichen Versammlungen untersagt hat. Die Allgemeinverfügung hat auch den Aufzug der Klägerin umfasst.

24

a) Die Kammer hat in ihren Urteilen vom 2. September 2004 (3 A 286/02 u.a.) die Klagen gegen die Allgemeinverfügung abgewiesen und in den Urteilen ausgeführt, dass die Allgemeinverfügung rechtmäßig ist. Auf eine Wiederholung der Entscheidungsgründe kann hier verzichtet werden. Die Gründe sind den Beteiligten bekannt.

25

b) Die Allgemeinverfügung erfasst schon nach ihrem Wortlaut den Aufzug der Klägerin. Die Allgemeinverfügung der Bezirksregierung Lüneburg hat alle Versammlungen und Aufzüge im Transportkorridor untersagt.

26

Ziffer II der Allgemeinverfügung heißt unmissverständlich:

27

„Alle öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge werden für den Zeitraum vom 11.11.2002, 8.00 Uhr, bis zum 20.11.2002, 24.00 Uhr, in dem unter IV dargestellten Korridor untersagt.“

28

c) Die Allgemeinverfügung erfasst auch von ihrem Sinn und Zweck den Aufzug der Klägerin.

29

Die Klägerin hat in diesem Zusammenhang in der mündlichen Verhandlung allerdings vertreten, die Allgemeinverfügung sei nach Sinn und Zweck entgegen dem weiten Wortlaut einschränkend auszulegen und umfasse nicht ausnahmslos jedwede Versammlung. Sie hat vorgetragen, die Allgemeinverfügung könne etwa keinen Einfluss haben auf eine Versammlung zum Thema „Leinenzwang bei Hunden“. Dies möge ein drastisches Beispiel sein, zeige aber, dass die Zielrichtung der Allgemeinverfügung eingeschränkt und nicht umfassend sei. Ihre - der Klägerin - Versammlung sei von Sinn und Zweck der Allgemeinverfügung nicht erfasst, weil es ihr nicht um einen Protest gegen den Castortransport als solchen gegangen sei, sondern um das Thema „Grundrechtseinschränkungen bei Castortransporten“.

30

Hierzu ist auszuführen:

31

Selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass die Allgemeinverfügung entgegen ihrem weiten nicht interpretationsfähigen Wortlaut - der Begriff „alle Versammlungen“ lässt einen wertausfüllungsbedürftigen Beurteilungsspielraum nicht zu - einschränkend im Sinne einer teleologischen Reduktion angewendet werden müsste, könnte die Klägerin daraus nichts zu ihren Gunsten herleiten.

32

Bei einer Auslegung nach Sinn und Zweck ist von den erkennbaren Zwecken der Regelung auszugehen. Dabei ist zu fragen, welcher Zweck mit der Norm (Gesetz, Verwaltungsakt oder - wie hier - Allgemeinverfügung) und dem darin verwendeten Begriff („alle„ öffentlichen Versammlungen) verfolgt werden soll, welche Vorstellungen den Normgeber geleitet haben und welche sozialen Prozesse von ihm gesteuert werden sollen.

33

Hiervon ausgehend ergibt sich folgender Sinn und Zweck der Allgemeinverfügung: Die Allgemeinverfügung soll eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verhindern (§ 15 Abs. 1 VersG). Aus dem Kreis aller Teilnehmer von Demonstrationen und sonstigen Aktionen entlang der Transportstrecke ist eine solche unmittelbare Gefahr der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu erwarten gewesen. Es ist damit zu rechnen gewesen, dass sich aus zunächst friedlichen Versammlungen rechtswidrige Blockadeaktionen entwickeln, Nötigungen, Körperverletzungen und Gefährdungen des Schienen- und Straßenverkehrs. Unter Berücksichtigung dieses Hintergrundes erfasst die Allgemeinverfügung nach ihrem Sinn und Zweck jedenfalls „alle“ Veranstaltungen, die in örtlicher, zeitlicher oder inhaltlicher Hinsicht eine Nähe und einen Bezug zum Castortransport haben. Diese Nähe kann sich nicht nur durch Thema und Ablauf einer bestimmten Versammlung ergeben, sondern auch durch den Veranstalter selbst.

34

Damit wird die Versammlung der Klägerin auf der Transportstrecke zwischen Groß- und Klein Gusborn nicht nur vom Wortlaut, sondern auch von Sinn und Zweck der Allgemeinverfügung erfasst. Die Initiative X-1000mal quer als Klägerin ist eine der führenden Initiativen bei der Organisation und Durchführung der Proteste bei den Castortransporten. Nach der Niederschrift der Bezirksregierung über das Kooperationsgespräch hat die Klägerin mit ihrer Versammlung folgendes Konzept verfolgt:

35

Sofern man in Groß Gusborn im Bereich der Verbotszone auf Polizeikräfte treffen sollte, würden einzelne Personen auf die Polizisten zugehen und um Durchlass bitten, da die Beschränkung der Versammlungsfreiheit aus Sicht der Demonstranten grundgesetzwidrig sei. Sofern dies nicht gestattet werden sollte, würde die betreffende Person wieder zurücktreten. Es würden dann einzelne andere Personen in gleicher und für die Polizei jederzeit offen erkennbarer Weise vorgehen.

36

Dieses Konzept entspricht auch den Erklärungen auf der Internetseite der Klägerin. Die Versammlung hat damit in örtlicher, zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht einen unmittelbaren Bezug zum Castortransport. Bei realistischer wirklichkeitsnaher Betrachtung kann im Ergebnis nicht davon ausgegangen werden, die geplante Veranstaltung der Klägerin stehe dem Castortransport fern wie eine Versammlung eines Hundezüchtervereins, den es um den Leinenzwang bei Hunden gehe.

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Wenn die Klägerin vorträgt, von der ihr beabsichtigten Versammlung sei eine individuelle Gefahr nicht ausgegangen, so kommt es darauf nicht an.

38

Es bedarf gerade keiner individuellen Prüfung und Begründung, ob von der konkreten Versammlung der Klägerin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Sinne des § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz ausgeht. Der Erlass der Allgemeinverfügung macht eine individuelle Gefahrenprognose von vornherein entbehrlich. Aus dem Wesen der Allgemeinverfügung und ihrer Zielsetzung folgt, dass einzelne Versammlungsanmelder für einzelne Veranstaltungen nicht durch Hinweis darauf, dass die allgemeine und umfassende Gefahrenprognose für sie individuell nicht gelte, eine Ausnahme vom Regelungsbereich der Allgemeinverfügung beanspruchen können. Denn dann liefe die Allgemeinverfügung leer, sie könnte ihre Ziele nicht mehr erreichen. Durch den Erlass der Allgemeinverfügung soll gerade eine individuelle Gefahrenprognose ausgeschlossen werden.

39

4. Die Klage hat auch mit dem Hilfsantrag keinen Erfolg. Die Beweisanträge der Klägerin sind abzulehnen.

40

Die unter Beweis gestellten Behauptungen der Klägerin können als wahr unterstellt werden, da es für das Ergebnis des Urteils nicht darauf ankommt. Es kann also ohne Weiteres unterstellt werden, dass es bei der Versammlung der Initiative X-1000mal quer am Sonntag, dem 10. November 2002, zu keinen Gewalttätigkeiten gekommen ist. Es kann auch unterstellt werden, dass an der Demonstration keine Traktoren oder andere landwirtschaftlichen Fahrzeuge beteiligt waren. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Versammlung am 11. November 2002 so abgelaufen ist, wie es dem Inhalt des Kooperationsgespräches entspricht. Die Erklärung im Kooperationsgespräch, die Versammlung werde sich so lange auf der angemeldeten Route weiter bewegen, bis sie von Polizeikräften am Weitergehen gehindert werde, wird als wahr unterstellt ebenso wie die Behauptung zum Beweisantrag 5, die Versammlungen am Sonntag und Montag seien zum angekündigten Zeitpunkt beendet worden, und die Versammlungsteilnehmer hätten die Straße und den Versammlungsort zügig verlassen.

41

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.