Landgericht Braunschweig
Urt. v. 03.03.2004, Az.: 4 O 2339/02
Anspruch auf Schmerzensgeld wegen eines bei einer gynäkologischen Sterilisation vergessenene Tuchbandes im Unterleib; Zurücklassen eines Tuchbandes im Körper des operierten Patienten als vermeidbarer Fehler des Arztes; Kriterien für die Bestimmung eines angemessenen Schmerzensgeldes
Bibliographie
- Gericht
- LG Braunschweig
- Datum
- 03.03.2004
- Aktenzeichen
- 4 O 2339/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 34851
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGBRAUN:2004:0303.4O2339.02.0A
Rechtsgrundlagen
- § 847 BGB a.F.
- § 823 Abs. 1 BGB
- § 287 ZPO
Fundstelle
- NJW-RR 2005, 28 (Volltext mit red. LS)
Verfahrensgegenstand
Schmerzensgeld aufgrund ärztlichem Behandlungsfehler
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Das Zurücklassen eines Tuchbands im Bauchraum bei einer Bauchoperation stellt zwar einen vermeidbaren ärztlichen Behandlungsfehler dar, der den verantwortlichen Chirurgen grundsätzlich auch zum immateriellen Schadensersatz verpflichtet. Ohne das Hinzutreten besonderer Umstände handelt es sich dabei jedoch nicht um einen groben Behandlungsfehler, der schlechterdings nicht vorkommen darf und zu einer Beweislastumkehr führen würde. Der anspruchstellende Patient hat somit nachzuweisen, dass das vergessene Tuchband Ursache für seine Beschwerden und Schmerzen sind.
Nur bei Vorliegen eines schweren Behandlungsfehlers muss der Arzt beweisen, dass sein Behandlungsfehler für die eingetretene Gesundheitsbeschädigung nicht ursächlich war. - 2.
Bei Beendigung der Operation ist vor dem Verschließen des Bauchraumes eine Zählkontrolle und auch eine Vollständigkeitskontrolle der verwendeten Utensilien durchzuführen.
Die 4. Zivilkammer des Landgerichts Braunschweig hat
auf die mündliche Verhandlung vom 12.02.2004
durch
den Vorsitzenden Richter am Landgericht ...
die Richterin am Landgericht ... und die Richterin ...
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 8.000,- Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 24.07.2002 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits zu 80 %, die Klägerin zu 20 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, für die Klägerin jedoch nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils für sie vollstreckbaren Betrages. Der Klägerin wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils für die Beklagte vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Der Streitwert wird auf 10.000,- Euro festgesetzt.
Tatbestand
Die Klägerin macht gegenüber der Beklagten einen Schmerzensgeldanspruch wegen einer gynäkologischen Sterilisation im März 1985 geltend, bei der ein Tuchband im Unterleib vergessen wurde.
Die Klägerin befand sich von März bis Mai 1985 bei der Beklagten in Behandlung und ließ dort am 14.03.1985 eine Sterilisation durchführen, bei der ein Bauchtuch verwendet wurde, welches laut Krankenunterlagen nach dem Eingriff wieder entfernt wurde. Nach diesem Eingriff litt die Klägerin an Bauch- und Unterleibsschmerzen, weswegen sie sich seit 1990 permanent in gynäkologischer Behandlung in Wolfenbüttel befand. 1994 ließ sich die Klägerin die Gebärmutter durch die Scheide mit einer Beckenbodenplastik entfernen. 1998 erfolgte erneut eine Beckenbodenplastik und eine Hebung mittels eines sog. Zoedlerbandes.2001 wechselte die Klägerin zu einer Frauenärztin, die im Narbenbereich der Sterilisationsoperation einen Knoten feststellte. Im Februar 2002 wurde im Krankenhaus in ... operativ ein 13 cm langes Tuchband entfernt, welches in die Schnittfläche der Sterilisationsnarbe eingewachsen war. Danach hörten die Bauch- und Unterleibsschmerzen der Klägerin auf.
Die Klägerin forderte daraufhin die Beklagte zur Schadensregulierung auf. Die daraufhin eingeschaltete Haftpflichtversicherung der Beklagten hat mit Schreiben vom 19.07.2002, welches bei der Klägerin am 24.07.2002 einging, Ersatzansprüche zurückgewiesen.
Die Klägerin behauptet, das Tuchband sei bei der Operation im März 1985 vergessen worden. Sie habe aufgrund dessen derart starke, teilweise krampfartige und mehrere Tage andauernde Bauch- und Unterleibsschmerzen gehabt, dass sie nicht schmerzlos in die Hocke gehen konnte, bei ihrer Kindererziehung beeinträchtigt war, nur eingeschränkt der Haus- und Gartenarbeit habe nachgehen können und sogar zeitweilig ohnmächtig zusammengebrochen sei und nur im Bett gelegen habe. Sie habe darüber hinaus wegen des vergessenen Tuchbandes unter Übelkeitsgefühlen gelitten und habe jahrelang immer wieder Schmerzmittel eingenommen.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie ein Schmerzensgeld, welches der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nicht aber unter 10.000,- Euro betragen sollte, nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 24.07.2002 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bestreitet, dass das aufgefundene Tuchband bei der Operation 1985 verwendet worden sei und behauptet, das Tuchband stamme entweder von einer Blinddarmoperation 1974, der Uterusentfernung 1994 oder der Operation 1998. Das Tuchband sei dann quasi zur alten Sterilisationsnarbe hingewandert.
Das Gericht hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluss vom (Bl. 42 - 44 d.A.) durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten von Dr. med. ... vom 13.07.2003 (Bl. 102 - 109 d.A.) sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 12.02.2004 (Bl. 136 - 138 d.A.) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist auch zum überwiegenden Teil begründet.
Als angemessenes Schmerzensgeld hat die Klägerin gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung von 8.000,- Euro aus § 847 BGB a.F. i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB.
Aufgrund der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Ärzte der Beklagten bei der Operation 1985 ein Stück Tuchband im Unterleib vergessen haben. Nach den Ausführungen von Herrn Dr. med. ..., an dessen Sachverstand das Gericht keinen Zweifel hat, kann es durchaus passieren, dass Stücke des Tuchbandes bei einer Operation abgetrennt werden und im Körper verbleiben. Nach dem Ergebnis des medizinischen Sachverständigengutachtens, dem sich die Kammer nach eigener Würdigung anschließt, stammt vorliegend das vergessene Stück Tuchband von der Sterilisationsoperation. Die Schlussfolgerungen des Gutachters, dass alle anderen Eingriffe als Ursache für das Zurückbleiben des Tuchbandes ausscheiden, sind in sich logisch und schlüssig. Laut Sachverständigengutachten ist die Verwendung eines Bauchtuches, an dem sich das Tuchband ursprünglich befunden haben muss, bei einer Blinddarmoperation unüblich. Wenn 1974 bei der Blinddarmoperation das Tuchband vergessen worden wäre, hätten bei der Operation 1985 Verwachsungen oder Narbenreaktionen im Unterbauch bemerkt und dokumentiert werden müssen. Daraus, dass das nicht der Fall war, schließt der Sachverständige in sich schlüssig und nachvollziehbar, dass das Tuchband nicht von der Blinddarmoperation stammen kann. Der Gutachter kann auch ausschließen, dass das Tuchband 1994 bei der Entfernung der Gebärmutter im Körper der Klägerin vergessen wurde. Zwar ist laut Gutachten der Gebrauch von Bauchtüchern bei derartigen Operationen üblich. Laut überzeugenden Ausführungen von Herrn Dr. med. ... ist es aber ausgeschlossen, dass ein Textilband vom Scheidenstumpf aus quer durch den Bauch in eine neun Jahre alte Narbe eindringt. Schließlich kann der Sachverständige auch die Operation aus dem Jahr 1998 als Ursache für das Zurückbleiben des Tuchbandes schon aus anatomischen Gründen ausschließen, weil die Bauchhöhle 1998 gar nicht geöffnet wurde. Demgegenüber kann der Befund des ... Krankenhauses aus dem Jahr 2002 nur mit der durchgeführten Sterilisation erklärt werden, da die Einwachsstelle keine Verbindung mit anderen Eingriffen zulässt.
Den Ärzten der Beklagten ist insoweit auch ein Fahrlässigkeitsvorwurf zu machen. Dr. med. ... hat in seinem schriftlichen Gutachten dazu ausgeführt, dass es sich beim Zurücklassen des Tuchbandes um einen vermeidbaren Fehler handelt. Im Rahmen der mündlichen Erörterung seines Gutachtens hat er ergänzend dargelegt, dass dieses an sich nicht vorkommen dürfte, zumal das Bauchtuch üblicherweise mit einer Klemme belegt wird und bei Beendigung der Operation vor dem Verschließen des Bauchraumes eine Zählkontrolle und auch eine Vollständigkeitskontrolle der verwendeten Utensilien durchzuführen ist. Danach steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass bei Anwendung höherer Sorgfalt das Tuchband im Bauch der Klägerin hätte erkannt und entfernt werden können.
Aufgrund des Fehlverhaltens der Ärzte der Beklagten ist der Klägerin auch ein Schaden entstanden. Es kam zu erheblichen Verwachsungen im alten Narbenbereich, d.h. zu Bildung von Reaktionsgewerbe um den Fremdkörper, und zu Entzündungsreaktionen.
Daran, dass auch die weiteren Beschwerden der Klägerin in Form von Unterleibs- und Bauchschmerzen seit der Operation jedenfalls bis zur Gebärmutterentfernung 1994 von dem vergessenen Bauchtuch herstammen, hat die Kammer keinen Zweifel. Es ist insoweit keine andere Ursache ersichtlich. Der Sachverständige hat dazu in seinem schriftlichen Gutachten nachvollziehbar ausgeführt, dass die von der Klägerin geschilderten Folgen aufgrund des vergessenen Tuchbandes durchaus möglich sind. Im Rahmen der mündlichen Erörterung seines Gutachtens hat Dr. med. ... bestätigt, dass die starken Verwachsungen an der Sterilisationsnarbe erhebliche Beschwerden verursacht haben müssen. Es konnte aber aufgrund des vom Gericht eingeholten Gutachtens nicht positiv bestätigt werden, dass alle Beschwerden und Schmerzen der Klägerin auf das vergessene und eingewachsene Tuchband zurückzuführen sind. Dies erscheint zwar möglich. Der Sachverständige hat jedoch im Rahmen der mündlichen Erörterung seines Gutachtens ausgeführt, dass auch die Uterusentfernung 1994 Schmerzen bereitet haben kann, er aber nicht bestimmen könne, ob und ggf. welcher Anteil darauf entfalle. Die Kammer führt deshalb zwar auch den überwiegenden Anteil der Beschwerden der Klägerin seit 1994 auf das vergessene Tuchband zurück, schließt aber andererseits nicht aus, dass jedenfalls teilweise die Beschwerden seit 1994 auch andere Ursachen haben.
Alle Beschwerden und Schmerzen der Klägerin wären nur dann auf das vergessene Tuchband bei der Sterilisationsoperation 1985 zurückzuführen, wenn zu Gunsten der Klägerin eine Beweislastumkehr eingreifen würde. Wenn nämlich ein schwerer Behandlungsfehler vorliegt, muss nach ständiger Rechtsprechung der Arzt beweisen, dass dieser Behandlungsfehler für die eingetretene Gesundheitsbeschädigung nicht ursächlich war (vgl. BGH VersR 1983, 729 ff.). Ob den Ärzten bei Zurücklassen eines Fremdkörpers im Operationsgebiet der Vorwurf eines groben Behandlungsfehlers gemacht werden kann, hängt von den Besonderheiten des Einzelfalles ab (OLG Koblenz VersR 1999, 1420). Das ist hier laut Sachverständigengutachten, dem sich die Kammer nach eigener kritischer Würdigung anschließt, nicht der Fall. Das Gutachten von Dr. med. ... kommt zwar zu dem Schluss, dass der Fehler der Ärzte der Beklagten vermeidbar war. Er hat aber im Rahmen der mündlichen Erörterung ausgeführt, dass das Zurücklassen des Tuchbandes kein Fehler ist, der schlechterdings nicht vorkommen darf und der ganz gravierend ist. Der Sachverständige hat dies für die Kammer überzeugend damit erklärt, dass Fremdkörper wie Bänder oder Tücher durch Sekrete und das Blut im Bauchraum so in ihrem Äußeren verändert werden können, dass sie nicht ohne weiteres zu identifizieren sind und leicht übersehen werden können. Zwar ist eine solche Gefahr bei kleineren Operationen geringer, sie ist aber nicht ganz auszuschließen und ohne weiteres nachvollziehbar. Eine Beweislastumkehr zu Gunsten der Klägerin aufgrund eines groben Behandlungsfehlers ist folglich zu verneinen.
Angesichts aller Umstände ist nach der Überzeugung des Gerichts ein Schmerzensgeld von 8.000,- Euro angemessen. Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes, bei der § 287 ZPO eingreift, lässt die Kammer auch die von anderen Gerichten für vergleichbare Fälle zuerkannten Schmerzensgeldansprüche nicht außer Acht (vgl. z.B. LG Hagen, Urt. V. 24.07.1991, Az. 12 O 53/89; OLG München VersR 1994, 54 [OLG München 04.03.1993 - 1 U 4404/92]; OLG Koblenz VersR 1999, 1420). Die Zahlung von Schmerzensgeld soll bei dem Verletzten zu einer Genugtuung führen und ihn in die Lage versetzen, sich Erleichterungen und Annehmlichkeiten an Stelle derer zu verschaffen, deren Genuss ihm durch die Verletzung unmöglich gemacht wurde (Palandt-Thomas, 60. Aufl., § 847, Rn. 4). Dabei ist eine Gesamtbetrachtung der Beeinträchtigungen vorzunehmen unter der besonderen Berücksichtigung der Art und Schwere der Verletzung und des hierdurch bewirkten Leidens (vgl. Palandt-Thomas, 60. Aufl., § 847, Rn. 10). Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes hat die Kammer in erster Linie berücksichtigt, dass die Klägerin über Jahre, sogar Jahrzehnte, hinweg unter Unterleibs- und Bauchschmerzen sowie Übelkeitsgefühlen gelitten hat. Ferner wirkte es sich schmerzensgelderhöhend aus, dass die Schmerzen zumindest zeitweise so stark waren, dass sie zur Ohnmacht führten und die jahrelange Einnahme von Schmerzmitteln erforderlich machten. Insbesondere auch die damit einhergehenden Beeinträchtigungen des täglichen Lebens der Klägerin bei der Kindererziehung und der Haus- und Gartenarbeit waren für die Kammer als Bemessungsfaktoren für die Höhe des Schmerzensgeldes ausschlaggebend. Andererseits war aber ebenso zu berücksichtigen, dass nicht ausgeschlossen werden konnte, dass nicht auch aufgrund der Gebärmutterentfernung 1994 bei der Klägerin Schmerzen verursacht wurden und dass der Beklagten kein grober Fahrlässigkeitsvorwurf zu machen ist. Soweit die Klägerin mit ihrer Klage folglich einen höheren Schmerzensgeldbetrag als 8.000,- Euro geltend macht, war die Klage abzuweisen.
Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 284, 288 Abs. 1 BGB a.F.. Die Beklagte befand sich spätestens seit dem 24.07.2002 im Verzug. Der Schmerzensgeldanspruch war fällig. Einer weiteren Mahnung bedufte es neben der Anmeldung des Anspruches nicht, da eine endgültige Erfüllungsverweigerung der Beklagten mit Schreiben der von ihr eingeschalteten und für sie in Vollmacht handelnden Haftpflichtversicherung der Klägerin am 24.07.2002 zuging.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 11, 709 S. 1 und S. 2, 711 S. 1 und S. 2 ZPO.
Streitwertbeschluss:
Der Streitwert ist gemäß § 3 ZPO i.V.m. § 12 GKG auf 10.000,- Euro festgesetzt worden.