Landgericht Braunschweig
Urt. v. 29.10.2004, Az.: 4 O 2318/04
Anspruch auf Schadensersatz sowie Schmerzensgeld aus der Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht mangels Beseitigung einer Schneedecke auf einem Gehweg; Pflicht zur Beseitigung einer Gefahrenquelle bei einem mehrere Zentimeter herausragenden Gullideckel auf einem Gehweg
Bibliographie
- Gericht
- LG Braunschweig
- Datum
- 29.10.2004
- Aktenzeichen
- 4 O 2318/04
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 37846
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGBRAUN:2004:1029.4O2318.04.0A
Rechtsgrundlagen
- § 253 Abs. 2 BGB
- § 823 Abs. 1 BGB
In dem Rechtsstreit
...
hat die 4. Zivilkammer des Landgerichts Braunschweig
auf die mündliche Verhandlung vom 08.10.2004
durch
den Richter am Landgericht ... als Einzelrichter
für Recht erkannt:
Tenor:
- 1.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2.000,00 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 29.04.2004 zu zahlen.
- 2.
Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
- 3.
Die Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin zu 1/3 und die Beklagte zu 2/3 zu zahlen.
- 4.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Streitwert: 3.000,00 EUR.
Tatbestand
Mit der Klage macht die Klägerin gegen die Beklagte Schadensersatzansprüche aus Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht geltend.
Die Klägerin ging am 28.01.2004 gegen 17:15 Uhr als Fußgängerin mit ihrem Ehemann auf einem Gehweg zwischen Wohngebäuden und Garagen ... in ..., für den die Beklagte als Stadt im Wege der allgemeinen Instandhaltung von Wegen verkehrssicherungspflichtig ist. Es herrschte leichte Dämmerung und auf dem Gehweg lag eine dünne Schneedecke. Dabei blieb die Klägerin mit einem Fuß an einem Gullydeckel hängen, der um mindestens 6 cm aus dem ihn umgebenden Verbundpflaster herausragte. Das Verbundpflaster um den Gullydeckel war abgesackt. Die Beklagte beseitigte am Folgetag die Gefahrenstelle.
Es kam dann zu einem Schriftwechsel der Klägerin und der Beklagten über von der Klägerin beanspruchtem Schadensersatz. Dabei teilte die Beklagte der Klägerin unter dem 15.04.2004 zunächst mit, dass die ... Baugenossenschaft zuständig sei, was sich aber als falsch herausstellte. Mit Schreiben vom 28.04.2004 lehnte die Beklagte dann eine Haftung mit der Begründung ab, die Klägerin hätte als normal sorgfältige Fußgängerin den Niveauunterschied rechtzeitig bemerken und ihre Gehweise darauf einstellen können.
Die Klägerin behauptet, der Gullydeckel habe 8 cm herausgeragt, was wegen des umliegenden Schnees nicht erkennbar gewesen sei. An Verletzungen hat die Klägerin den Bruch des linken Oberarmes sowie multiple Prellungen erlitten. Der Heilungsverlauf gestaltete sich dabei schwierig und die Klägerin konnte sich 8 Wochen lang nicht selbst versorgen. Sie ist der Ansicht, die Beklagte habe ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt und sie selbst habe mit dieser außergewöhnlichen Gefahrenstelle nicht rechnen müssen.
Die Klägerin beantragt
die Beklagte zu verurteilen, an sie ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 15.04.2004 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte behauptet, der Gullydeckel habe nur einen Niveauunterschied von 6 cm aufgewiesen. Darüber hinaus habe sie ihre Verkehrssicherungspflicht nicht verletzt. Auch als Verkehrssicherungspflichtige für Wege müsse sie keine Vorsorge für alle möglichen Gefahren treffen. Höhendifferenzen in dieser Größe seien hinzunehmen. Eine Haftung könne nur bestehen, wenn auch ein aufmerksamer Benutzer die Gefahrenstelle nicht bemerkt hätte. Zumindest müsse sich die Klägerin ein Mitverschulden anrechnen lassen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zum überwiegenden Teil begründet.
Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Schmerzensgeld aus Verletzung der Verkehrssicherungspflicht gemäß §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB in Höhe von 2.000,00 EUR zu.
Die Beklagte, die unstreitig die Verkehrssicherungspflicht für den streitgegenständlichen Weg trifft, hat diese Verkehrssicherungspflicht dadurch verletzt, dass sie die durch den erheblichen Niveauunterschied von mindestens 6 cm bestehende Gefahrenquelle nicht beseitigt hat. Es ist zwar anerkannt, dass Straßen und Gehwege nicht schlechthin gefahrenlos und frei von allen Mängeln sein müssen (OLG Frankfurt Urteil vom 28. Juli 2003, - 1 O 45/01, OLGR Frankfurt 2004, 5-6, OLG Celle Urteil vom 07. März 2001, - 9 U 218/00, BGH VersR 1979, 1055, OLG Koblenz Urteil vom 13. Mai 1998 - 1 U 105/97, MDR 1999, 39-40). Aus diesem Grundsatz hat sich in der Rechtsprechung eine sogenannte Bagatellgrenze im Bereich von 2-2,5 cm entwickelt, mit denen ein normal sorgfältiger Fußgänger rechnen muss (OLG Celle a.a.O., OLG Frankfurt, a.a.O.). Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine starre Grenze, sondern es sind die jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalles zu berücksichtigen. Insoweit sind auch Niveauunterschiede, die über die Bagatellgrenze von bis zu 2,5 cm hinausgehen, nicht als Verletzung der Verkehrssicherungspflicht angesehen worden. So hat das OLG Koblenz (MDR 1999, 39 [OLG Koblenz 13.05.1998 - 1 U 105/97]-40) einen Frostaufbruch in Höhe von 5 cm an der Bordsteinkante eines Gehweges nicht als Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht angesehen. Auch das OLG Saarbrücken (Urteil vom 14. Juli 1999, - 1 U 168/98 - OLGR Saarbrücken 2000, 85-86) hat einen Kanaldeckel, der um 4,5 cmüber das umgebende Verbundpflasterniveau herausragte, hat im konkreten Fall keine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht angenommen. Dies hat es unter anderem damit begründet, dass dem Fußgänger im Fall eines derart deutlich erkennbaren Niveauunterschiedes ein überwiegendes Mitverschulden zur Last falle, hinter dem eine Haftung der Gemeinde zurücktrete. Ebenso hat das Landgericht Köln (Urteil vom 10.10.2002,7 O 426/01, NJW-RR 2003, 368-378) keine Verkehrssicherungspflichtverletzung angenommen, wenn an einem Fußgängerüberweg im Bereich von Gleißbauarbeiten auf einer Straße Höhenunterschiede bei Betonplatten von 4,5-5 cm auftreten. Nach Ansicht des OLG Frankfurt (Urteil vom 29.09.1994 - 1 U 75/93 - OLGR Frankfurt 1995, 20-21) ist ein Niveauunterschied zwischen Kanaldeckel und dem ihm umgebenden Erdboden von 5 cm zumindest dann hinzunehmen, wenn sich der Kanaldeckel auf einem Wiesengrundstück befindet, das naturgemäß gewisse Unebenheiten aufweist.
Vorliegend ist - unabhängig von der streitigen Frage, ob es sich um einen Niveauunterschied von 6 oder 8 cm handelt - von einer Verletzung der Verkehrssicherungspflicht der Beklagten ausgehen. Auch wenn Fußgänger die gegebenen Verhältnisse grundsätzlich so hinzunehmen und sich ihnen anzupassen haben, wie sie sich ihnen erkennbar anbieten, ist ein Tätigwerden des Verkehrssicherungspflichtigen zumindest dann geboten, wenn Gefahren bestehen, die auch für einen sorgfältigen Benutzer nicht oder nicht rechzeitig erkennbar sind und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzustellen vermag (grundlegend dazu BGH VersR 1979, 1055). Abzustellen ist insbesondere auch darauf, welche Maßnahmen dem Verkehrssicherungspflichtigen - hier der beklagten Stadt - im Rahmen gegenseitiger Interessenabwägung zumutbar sind. Dabei sind Maßnahmen des Verkehrssicherungspflichtigen jedenfalls dann geboten, wenn es sich um eine Gefahrenstelle handelt, die über das übliche Maß hinausgeht, mit dem auch ein sorgfältiger Fußgänger rechnen muss. Auch wenn man lediglich die 6 cm Niveauunterschied zu Grunde legt, die zwischen den Parteien unstreitig sind, ist damit bei einem normalen Gehweg ein Niveauunterschied überschritten, mit dem ein normaler Fußgänger rechnen muss. Dabei ist zwar auch zu berücksichtigen, dass ein Gullydeckel als solcher bereits deutlich erkennbar ist und für einen normal sorgfältigen Fußgänger Niveauunterschiede zwischen umliegendem Verbundpflaster und einem Gullydeckel eher zu vermuten sind, als dies bei einer durchgehenden Pflasterung der Fall ist. Daher ist es bei derartigen Gegebenheiten durchaus auch angemessen, selbst über die Bagatellgrenze von 2-2,5 cm hinaus eine besondere Vorsicht der Fußgänger zu fordern; mit einem Niveauunterschied von mindestens 6 cm braucht aber auch ein sorgfältiger Fußgänger nicht mehr zu rechnen. Umgekehrt ist ein derart hoher Niveauunterschied von mindestens 6 cm von der Beklagten und ihren Bediensteten im Rahmen der erforderlichen Überprüfung des Wegenetzes leichter zu erkennen, sodass aus diesem Grund auch leichter Abhilfe geschaffen werden kann, als dies bei geringen Niveauunterschieden von ca. 2-2,5 cm in durchgehenden Pflasterungen der Fall ist. Auf dem von der Klägerin vorgelegten Bild lässt sich deutlich erkennen, dass das gesamte Verbundpflaster vor der Gefahrenstelle linksseitig bereits deutlich eingesackt war, sodass dies auch den von der Beklagten mit derÜberprüfung der Gehwege beauftragten Bediensteten bei Anwendung erforderlicher Sorgfalt hätte auffallen müssen. Dass jedenfalls auch nach Einschätzung der Beklagten eine Gefahrenstelle vorlag, wird daraus deutlich, dass die Beklagte die Gefahrenquell am nächsten Tag hat beseitigen lassen. Soweit aus der Entscheidung des OLG Saarbrücken folgt (Urteil vom 14. Juli 1999 OLGR Saarbrücken 200, 85-86), dass bei einem deutlich erkennbaren Niveauunterschied von 4,5 cm zwischen Bodenniveau und Unterkante des Kanaldeckels wegen des deutlich erkennbaren Niveauunterschiedes dem Fußgänger ein derart überwiegendes Mitverschulden zur Last gelegt wird, dass dahinter eine Haftung der Gemeinde zurücktritt, wird diese Ansicht nicht geteilt. Diese Einschätzung würde dazu führen, dass unterhalb einer gewissen Grenze der Fußgänger den Niveauunterschied hinnehmen muss und beiÜberschreiten dieser Grenze den Niveauunterschied erkennen muss, sodass aus diesem Grund in jedem Fall eine Haftung ausscheiden würde. Für den konkreten Fall ist auch noch zu berücksichtigen, dass eine zumindest dünne Schneedecke vorhanden war, die einem Fußgänger die Erkennbarkeit eines Niveauunterschiedes erschweren.
Ingesamt ist daher festzustellen, dass eine Haftung der Beklagten vorliegt.
Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes ist trotz der grundsätzlichen Haftung der Beklagten aber auch ein Mitverschulden der Klägerin zwar nicht quotenmäßig, aber doch als Bemessungsfaktor zu berücksichtigen. Wie bereits zur Frage der grundsätzlichen Haftung ausgeführt, müssen Fußgänger mit gewissen Niveauunterschieden zwischen einem Kanaldeckel und dem umgebenden Pflaster rechnen. Auch wenn die Klägerin mit der Höhe des Niveauunterschiedes nicht rechnen musste, hätte sie doch im Bereich der Umgebung des Kanaldeckels besondere Vorsicht walten lassen und dadurch wahrscheinlich den Sturz vermeiden können. Anhand des von der Klägerin vorgelegten Fotos ergibt sich auch, dass der Kanaldeckel am äußersten linken Rand des Weges liegt und von einem gemauerten Randstein, der ebenfalls deutlichüber den Kanaldeckel herausragt, umgeben ist. Auch vor dem Gullydeckel war das Pflaster bereits abgesenkt, sodass auch hier Hinweise für einen sorgfältigen Fußgänger ein Niveauunterschied erkennbar gewesen wäre. Angesichts der Schwere der Verletzungen der Klägerin, die durch den Oberarmbruch und dessen schwierigen Heilungsverlauf erheblich in ihrem gesundheitlichen Wohlbefinden beeinträchtigt worden ist und sich auch nicht selbst versorgen konnte einerseits und dem Mitverschulden andererseits erscheint ein Schmerzensgeld in Höhe von 2.000,00 EUR angemessen aber auch ausreichend.
Der geltend gemachte Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 286, 288 BGB, jedoch erst ab dem 29.04.2004. In Verzug geraten ist die Beklagt nicht schon mit dem Schreiben vom 15.04.2004, in dem sie - fälschlich - ihre Verantwortlichkeit zunächst verneint hat. Dieses Schreiben enthält noch keine endgültige Ablehnung des Schadensersatzanspruches der Klägerin, sodass es bereits den Verzug infolge Selbstmahnung hätte begründen können. Der Verzug ist jedoch durch das Ablehnen des Anspruchs mit Schreiben vom 28.04.2004 begründet worden, wobei auf den Zugang dieses Schreibens bei der Klägerin abzustellen ist.
Die Kostenentscheidung erfolgt aus § 92 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage im § 709 Satz 1, 2 ZPO. Gemäß § 3 ZPO war der Streitwert nach dem Interesse der Klägerin an den geltend gemachten Ansprüchen zu bemessen. Angesichts des unbezifferten Antrages der Klägerin war der Streitwert in der Höhe festzusetzen, den das Gericht für angemessen erachtet, wenn sich das Vorbringen des Anspruchstellers insgesamt als gerechtfertigt erweist. Ohne dass der Klägerin anzurechnende Mitverschulden wäre ein Schmerzensgeldbetrag in Höhe von 3.000,00 EUR angemessen gewesen, sodass der Streitwert in dieser Höhe festzusetzen war.