Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 27.04.2005, Az.: 1 A 72/04
Abschiebestopp-Erlass; Abschiebung; Abschiebungsandrohung; Abschiebungshindernis; Abschiebungsschutz; Afghanistan; Erkrankung; Flüchtling; Gesundheitszustand; Hilfsorganisationen; medizinische Behandlungsmöglichkeit; medizinische Versorgung
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 27.04.2005
- Aktenzeichen
- 1 A 72/04
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 50975
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 60 AufenthG
- § 53 Abs 6 AuslG
- § 77 Abs 1 AsylVfG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Ein wegen allgemeiner Gefahren im Herkunftsland durch Erlass angeordneter Abschiebestopp hat keine Bedeutung für die Feststellung eines (individuellen) Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG.
2. Eine behandlungsbedürftige Erkrankung stellt mit Blick auf desolate Verhältnisse im Herkunftsland - hier Afghanistan - sowie unter Berücksichtigung der Volkszugehörigkeit ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis dar, das zur Anwendung der Regel des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG führt.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt (nunmehr nur noch) Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG - bisher § 53 Abs. 6 AuslG; zuvor hat sie auch auf ihre Anerkennung als Asylberechtigte gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG und die Gewährung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 - bisher § 51 Abs. 1 AuslG - und § 60 Abs. 2 bis 5 AufenthG - bisher § 53 Abs. 1 bis 5 AuslG - geklagt.
Die am ... in Kandahar geborene Klägerin ist afghanische Staatsangehörige und Volks- sowie Religionszugehörige der Hindus; sie ist verwitwet. Nach ihren Angaben reise sie am 7. Juli 2000 auf unbekannten Wegen mit Hilfe eines Schleppers nach Deutschland ein. Am 14. August 2000 stellte sie einen Asylantrag, den sie bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am selben Tage im Wesentlichen wie folgt begründete: In Afghanistan habe ständig Krieg geherrscht. Sie als Hindus hätten darunter besonders gelitten. Sie habe bei ihrem Sohn und dessen Familie gelebt. Nachdem sie eines Tages von einem viertägigen Besuch bei ihrer Cousine nach Hause gekommen sei, sei das Haus ganz leer gewesen, ihr Sohn und seine Familie seien verschleppt worden. Das sei ungefähr vor einem Jahr gewesen. Sie wisse nicht, was aus ihnen geworden sei. Danach sei sie zunächst nach Pakistan gegangen und mit Hilfe eines Schleppers nach Deutschland zu ihren hier lebenden Töchtern weitergereist. Die Reise nach Deutschland habe ungefähr eine Woche gedauert. Die Reise hätten ihre Nachbarn organisiert. In Afghanistan habe sie jetzt keine Verwandten mehr.
Mit Bescheid vom 8. Januar 2004 - zugestellt am 13. Januar 2004 - lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag der Klägerin ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Zugleich forderte es sie zur Ausreise auf und drohte ihr die Abschiebung nach Afghanistan an.
Daraufhin hat die Klägerin am 20. Januar 2004 Klage erhoben mit dem Ziel ihrer Anerkennung als Asylberechtigte und der Gewährung von Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG und § 53 AuslG - jetzt § 60 Abs. 1 bis 7 AufenthG. In der mündlichen Verhandlung vom 27. April 2004 hat sie die Klage hinsichtlich der Anerkennung als Asylberechtigte und der Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 bis 5 AufenthG zurückgenommen. Zur Begründung ihrer im Übrigen aufrechterhaltenen Klage vertieft und ergänzt sie ihren bisherigen Vortrag. Ihr stehe wegen ihrer persönlichen Situation und wegen der in Afghanistan herrschenden Verhältnisse, hinsichtlich derer sie insbesondere zur Lage der Hindu weitere allgemeine Angaben macht, Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG zu. Der in Niedersachsen zurzeit bestehende Abschiebestopp aufgrund der Erlasslage stehe dem nicht entgegen. Sie habe in Afghanistan keine Verwandte, Freunde oder Bekannte mehr und besitze dort auch keine Wohnung oder sonstigen Vermögenswerte. Ihr Ehemann sei bereits verstorben. Alle ihre Verwandten lebten in Deutschland und seien inzwischen zum Teil eingebürgert worden. Ihr Sohn, bei dem sie in Afghanistan gewohnt habe, befinde sich inzwischen mit seiner Familie ebenfalls in Deutschland im Asylverfahren, ohne dass über sein Begehren bereits entschieden worden sei. Zwei Söhnen ihres Sohnes sei vom Bundesamt Abschiebungsschutz zugesprochen worden. Sie leide an einer chronisch obstruktiven Bronchitis, einer erheblichen Osteoporose mit Frakturgefährdung sowie einer depressiven Verstimmung mit Schlafstörungen. Wegen dieser Erkrankungen bedürfe sie regelmäßiger medikamentöser Therapien und Kontrolluntersuchungen. Hierzu überreichte die Klägerin ein ärztliches Attest des Dr. med. A. vom 18. April 2005.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegen, und den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 8. Januar 2004 insoweit aufzuheben, als er diesem Begehren entgegensteht.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
und verweist zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Das Verfahren ist nach § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO nach der Klagerücknahme in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang einzustellen.
Die im Übrigen aufrechterhaltene Klage hat Erfolg.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 VwGO; der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist mithin hinsichtlich seiner Regelung zu 3. teilweise rechtswidrig und verletzt insoweit die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Hiernach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Nach Satz 2 dieser Bestimmung werden Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Entscheidungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt. Hinsichtlich Afghanistan besteht in Niedersachsen zwar ein auf dieser Grundlage ergangener Abschiebestopp (vgl. Runderlass des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport v. 27.12.2004). Dieser Abschiebestopperlass steht im Fall der Klägerin der Feststellung eines (individuellen) Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht entgegen. Denn der Fall der Klägerin gehört nicht zum Regelungs- und Anwendungsbereich dieses Erlasses. Hierdurch werden nur allgemeine Gefahren i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erfasst. Um derartige allgemeine Gefahren geht es im Fall der Klägerin jedoch nicht. Denn die Klägerin ist, wie sie mit der Klage vorgebracht und durch Unterlagen belegt hat, im nach § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung behandlungsbedürftig erkrankt. In Afghanistan hat sie nach ihren glaubhaften Angaben keinerlei Verwandte mehr und wäre daher in ihrem desolaten Gesundheitszustand, zumal als alte und verwitwete Frau, die zudem noch Volks- und Glaubenszugehörige der Hindus ist, völlig auf sich allein gestellt. Als alleinstehende Hindu-Frau im fortgeschrittenen Alter ohne männlichen Schutz wird die Klägerin auch keine realistische Möglichkeit haben, an eine der von in Afghanistan operierenden internationalen Hilfsorganisationen zur Verfügung gestellten Unterkünfte und an Lebensmittel zu gelangen. Unter diesen Umständen droht der Klägerin bei einer Rückkehr nach Afghanistan konkret eine erhebliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes. Die medizinische Versorgung ist ausweislich der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel in Afghanistan und auch in Kabul völlig unzureichend. Die Gefahr, dass sich - wie hier - eine vorhandene Krankheit eines Asylbewerbers in seinem Heimatland verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind, stellt ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dar (vgl. zur bisherigen Rechtslage nach dem Ausländergesetz BVerwG, Urt. v. 9.9.1997 - 9 C 48.96 -, a. a. O.; Urt. v. 27.4.1998 - 9 C 13.97 -, NVwZ 1998, 973; Urt. v. 21.9.1999 - 9 C 8.99 -, NVwZ 1999, 206 [VGH Baden-Württemberg 01.10.1998 - 7 S 1819/98]). Dies gilt auch dann, wenn die notwendige medikamentöse und ärztliche Behandlung zwar an sich im Zielstaat allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (BVerwG, Urt. v. 29.10.2002 - 1 C 1/02 -, NVwZ-Beil. 2003, 53). Zumindest letzteres ist bei der Klägerin ersichtlich der Fall.
Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sind dem Grunde nach rechtmäßig, sie finden ihre Rechtsgrundlage in §§ 34, 38 Abs. 1 AsylVfG, 59 AufenthG (bisher § 50 AuslG). Das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan steht nach § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG der Abschiebungsandrohung nicht entgegen. Nach § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist die Androhung lediglich dahin zu korrigieren, dass eine Abschiebung nach Afghanistan nicht zulässig ist. Die Rechtmäßigkeit der Androhung im Übrigen bleibt unberührt (§ 59 Abs. 3 Satz 3 AufenthG).
Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich der teilweisen Klagerücknahme auf § 155 Abs. 2 VwGO und im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.