Sozialgericht Aurich
Urt. v. 28.07.2011, Az.: S 35 AS 957/09

Gewährung einer Schulbeihilfe für den Besuch einer Tagesbildungsstätte (hier: Förderschule)

Bibliographie

Gericht
SG Aurich
Datum
28.07.2011
Aktenzeichen
S 35 AS 957/09
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 43400
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGAURIC:2011:0728.S35AS957.09.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BSG - AZ: B 4 AS 162/11 R

Tenor:

Der Bescheid vom 24.06.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.08.2009 wird abgeändert. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger zu 2.) 100 EUR zu erstatten und zwar als Schuldbeihilfe gem. § 24a SGB II für den Monat August 2009. Die Kosten des Rechtsstreits, insbesondere die außergerichtlichen Kosten der Kläger, sind vom Beklagten zu erstatten.

Tatbestand

Die Kläger begehren vom Beklagten die Gewährung der Schulbeihilfe gem. § 24a Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (im Folgenden: SGB II) für den Zeitraum vom 01. bis zum 31. August 2009.

Die am K. geborene Klägerin zu 1. und der am L. geborene Kläger zu 2. leben mit Ihren Eltern und gesetzlichen Vertretern M. und N. in einer Bedarfsgemeinschaft. Die Klägerin zu 1. besucht die Förderschule O., P ... Der Kläger zu 2. besucht die staatlich anerkannte Tagesbildungsstätte der Q., R., S. P ...

Mit Bescheid vom 24. Juni 2009 bewilligte der Beklagte den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft Leistungen nach dem SGB II für den Leistungszeitraum vom 01. Juli 2009 bis zum 31. Januar 2010. Die bewilligten Leistungen beliefen sich für die Zeiträume vom 01. bis zum 31 Juli. 2009 und vom 01. September 2009 bis zum 31. Januar 2010 auf monatlich 1.129 EUR und für den Zeitraum vom 01. bis zum 31. August 2009 auf 1.329 EUR. Im letzteren Zeitraum bewilligte der Beklagte den Klägern jeweils die Schulbeihilfe gem. § 24a Abs. 1 Satz 1 SGB II in Höhe von 100 EUR.

Mit Bescheid vom 30. Juni 2009 änderte der Beklagte den ursprünglichen Bescheid ab. Die bewilligten Leistungen beliefen sich für den Zeitraum vom 01. Juli 2009 bis zum 31. Januar 2010 nunmehr auf monatlich 1.129 EUR. In dem Zeitraum vom 01. bis zum 31. August 2009 war die Schulbeihilfe für die Kläger nicht mehr berücksichtigt.

Mit Schreiben vom 13. Juli 2009 legten die Kläger gegen den Bescheid vom 30. Juni 2009 Widerspruch ein und rügten die Nichtberücksichtigung der Schulbeihilfe.

Mit Widerspruchsbescheid vom 11. August 2009 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Der Kläger zu 2. besuche lediglich eine staatlich anerkannte Tagesbildungsstätte. Diese sei weder eine allgemeinbildende Schule im Sinne des § 5 Abs. 2 Nr. 1 Niedersächsisches Schulgesetz (im Folgenden: NSchG) noch eine berufsbildende Schule im Sinne des § 5 Abs. 2 Nr. 2 NSchG. Es liege insbesondere keine Förderschule im Sinne des § 14 NSchG vor. Der Kläger zu 2. erfülle durch den Besuch der anerkannten Tagesbildungsstätte lediglich gem. § 162 NSchG seine Schulpflicht, könne dort jedoch keinen allgemeinbildenden Schulabschluss erlangen. Mit Schreiben vom 15. August 2009 legten die Kläger gegen diesen Bescheid erneut "Widerspruch" ein. Der Beklagte übersandte das Schreiben zuständigkeitshalber an das Sozialgericht Aurich, bei dem das Schreiben am 11. September 2009 einging.

Mit Schriftsatz vom 19. Oktober 2009 hat der Beklagte ein Teilanerkenntnis hinsichtlich des Anspruchs der Klägerin zu 1. abgegeben. Die Kläger haben das Teilanerkenntnis in der mündlichen Verhandlung am 28. Juli. 2011 angenommen.

Die Kläger sind der Ansicht, dass die Kläger zu 2. mit anderen schulpflichtigen Kindern gem. Art. 3 Grundgesetz (im Folgenden: GG) gleichzubehandeln sei. Der Kläger zu 2. erfülle durch den Besuch der Tagesbildungsstätte seine Schulpflicht. Dabei dienten auch die Tagesbildungsstätten der Erfüllung des Bildungsaustrags nach dem NSchG. Tagesbildungsstätten seinen mit Förderschulen aufgrund des identischen Bildungsauftrags und des ähnlichen Lehrplans vergleichbar.

Die Kläger beantragen schriftsätzlich sinngemäß,

den Bescheid vom 30. Juli 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. August 2009 abzuändern und dem Kläger zu 2 in dem Zeitraum vom 01. bis zum 31. August 2009 die Schulbeihilfe in Höhe von 100 EUR zu gewähren.

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Er ist der Ansicht, dass der Bescheid vom 30. Juli 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. August 2009 nunmehr rechtmäßig sei. Er wiederholt im Wesentlichen seine Erwägungen aus dem Widerspruchsbescheid. Im Übrigen sei § 5 Abs. 2 Nr. 1 NSchG abschließend.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Prozessakte und die Verwaltungsakte des Beklagten, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid vom 30. Juli 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. August 2009 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger zu 2. in seinen Rechten. Der Bescheid war daher in dem tenorierten Umfang abzuändern und der Beklagte zur Leistung der Schulbeihilfe gem. § 24a Abs. 1 Satz 1 SGB II zu verurteilen. I.

Die Klage ist zulässig. Insbesondere war das von den Eltern und gesetzlichen Vertretern der Kläger verfasste Widerspruchsschreiben entsprechend § 133 Bürgerliches Gesetzbuch als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage im Sinne des § 54 Abs. 1 und 4 Sozialgerichtsgesetz (im Folgenden: SGG) aufzufassen. Es lässt den Willen erkennen, eine letztendliche Klärung herbeizuführen.

II.

Die Klage ist auch begründet. Der Kläger zu 2. hat gegen den Beklagten einen Anspruch aus der vom 01. August 2009 bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung des § 24a Abs. 1 Satz 1 SGB II. Danach erhalten Schülerinnen und Schüler, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und die eine allgemein- oder berufsbildende Schule besuchen, eine zusätzliche Leistung für die Schule in Höhe von 100 Euro, wenn sie oder mindestens ein im Haushalt lebender Elternteil am 1. August des jeweiligen Jahres Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach diesem Buch haben.

1. Der Kläger zu 2 ist ein Schüler, der das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat.

2. Ihm stand am 1. August 2009 ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu.

3. Die von ihm besuchte anerkannte Tagesbildungsstätte ist eine allgemeinbildende Schule im Sinne des § 24a Abs. 1 Satz 1 SGB II.

a. Es handelt sich bei der von ihm besuchten anerkannten Tagesbildungsstätte zwar nicht um eine allgemeinbildende Schule im Sinne des NSchG. Nach § 5 Abs 2 Nr. 1 NSchG sind allgemeinbildende Schule a) die Grundschule, b) die Hauptschule, c) die Realschule, d) die Oberschule, e) das Gymnasium, f) die Gesamtschule, g) das Abendgymnasium, h) das Kolleg, i) die Förderschule.

Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 NSchG werden in der Förderschule Schülerinnen und Schüler unterrichtet und erzogen, die in ihren Entwicklungs-, Lern- und Bildungsmöglichkeiten so eingeschränkt sind, dass sie sonderpädagogische Förderung benötigen und diese nicht gem. § 4 NSchG in einer Schule einer anderen Schulform erhalten können. Nach § 24 Abs. 1 Satz 3 NSchG können an der Förderschule Abschlüsse der allgemeinbildenden Schulen erworben werden.

Dies ist bei einer anerkannten Tagesbildungsstätte zwar nicht der Fall. Dennoch erfüllen nach § 162 Satz 1 NSchG Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen ihre Schulpflicht auch durch den Besuch einer anerkannten Tagesbildungsstätte.

Diese Wertentscheidung verdeutlicht, dass der niedersächsische Gesetzgeber Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen den übrigen Schülern gleichstellen wollte (ähnlich: Landessozialgericht Niedersachen-Bremen, Urteil vom 24 Oktober 2002, Az. L 10 RJ 175/01, www..de, Rn. 16).

b. Der Begriff der allgemeinbildenden Schule aus § 24a Abs. 1 Satz 1 SGB II wird jedoch dennoch nicht durch das niedersächsische Schulrecht definiert. Vielmehr handelt es sich um einen autonom bundesrechtlichen Begriff. Eine allgemeinbildende Schule im Sinne des § 24a Abs. 1 Satz 1 SGB II ist jede Einrichtung, durch deren Besuch die Schulpflicht erfüllt werden kann. Es kommt daher nicht darauf an, ob an der Schule ein allgemeinbildender Schulabschluss erlangt werden kann.

aa. Es ist nichts dafür ersichtlich, wieso das niedersächsische Schulrecht den Begriff aus § 24a Abs. 1 Satz 1 SGB II ausfüllen soll. Es ist kein Rückgriff auf die örtlichen Verhältnisse nötig, wie etwa im Rahmen der angemessenen Kosten der Unterkunft gem. § 22 SGB II auf die landesrechtlichen Wohnraumförderungsbestimmungen oder lokale Mietspiegel oder Mietwerterhebungen zurückgegriffen werden kann. Im Gegensatz zu den Wohnverhältnissen sind die Schulverhältnisse im gesamten Bundesgebiet weitgehend einheitlich. Dies müssen letztere Verhältnisse schon deshalb sein, um allen Bundesbürgern den gleichen Zugang auf dem einheitlichen Arbeitsmarkt zu eröffnen.

bb. Vielmehr entspricht es dem Zweck des § 24a SGB II, jede Einrichtung, durch deren Besuch die Schulpflicht erfüllt werden kann, unter diese Norm zu fassen.

Nach Ansicht der Bundesregierung (Bundestagsdrucksache 16/12972, S. 2) "verdeutlicht diese nicht zur Existenzsicherung gehörende Leistung nachdrücklich die Bedeutung, die der Bildung beizumessen ist. Sie sorgt am Schuljahresbeginn für eine Entspannung bei der Anschaffung und Finanzierung von Gegenständen zur persönlichen Ausstattung sowie weiterer Ausgaben für die Schule."

Nach der Gesetzesbegründung (Bundestagsdrucksache 16/10809, S. 16) "umfasst die pauschale Leistung insbesondere die erforderliche Ausstattung am Schuljahresbeginn. Sie dient insbesondere dem Erwerb von Gegenständen zur persönlichen Ausstattung für die Schule (z. B. Schulranzen, Schulrucksack, Turnzeug, Turnbeutel, Blockflöte) und für Schreib-, Rechen- und Zeichenmaterialien (z. B. Füller einschließlich Tintenpatronen, Kugelschreiber, Bleistifte, Malstifte, Malkästen, Hefte, Blöcke, Papier, Lineale, Buchhüllen, Zirkel, Taschenrechner, Geodreieck)."

Diese Sachlage trifft auch auf den Kläger zu 2. zu. Auch wenn er an der Tagesbildungsstätte keinen Schulabschluss erlangen kann, hat er genau so wie Schüler, die eine allgemeinbildende oder eine berufsbildende Schule besuchen, Ausgaben für Lehrmittel und Schulzubehör. Dies haben seine Eltern und gesetzlichen Vertreter in der mündlichen Verhandlung gut nachvollziehbar dargelegt. Der Kläger benötigt genauso wie Schüler die eine sonstige allgemeinbildende Schule besuchen, eine Ausstattung am Schuljahresbeginn. Daher soll nach dem gesetzgeberischen Willen auch ihm diese Entlastung zukommen.

cc. Schließlich ergibt sich auch aus Art. 3 GG, dass ein im Wesentlichen gleicher Lebenssachverhalt auch gleich behandelt werden muss. Dies ist nach den obigen Ausführungen der Fall. Es gibt daher keinen sachlichen Grund, Schüler, die eine anerkannte Tagesbildungsstätte besuchen, von der Leistung nach § 24a SGB II auszuschließen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 GG.

Schellong