Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 24.03.2006, Az.: 1 A 348/03
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 24.03.2006
- Aktenzeichen
- 1 A 348/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2006, 44603
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGLUENE:2006:0324.1A348.03.0A
Tatbestand
Der 1963 geborene Kläger vietnamesischer Staatsangehörigkeit und buddhistischen Glaubens kam vor ca. 15 Jahren in das Bundesgebiet und stellte hier erstmals einen Asylantrag, der nach seiner Anhörung vom 13. August 1992 vom Bundesamt abgelehnt wurde. Seine dagegen gerichtete Klage blieb erfolglos (Urt. der Kammer vom 8.8.1996 - 1 A 623/93 - und Beschl. des Nds.OVG vom 21.02.1997 - 9 L 5364/96 -).
Am 15. September 2003 stellte der Kläger mit der Begründung einen Asylfolgeantrag, er sei Mitglied des "Vereins der vietnamesischen Flüchtlinge in Hamburg e.V." und nehme an exilpolitischen Aktivitäten teil, was er mit Fotos und Unterlagen belegen könne (Bl. 8 ff. der VerwV). Mit dem angefochtenen Bescheid vom 29. September 2003 - per Einschreiben an den Prozessbevollmächtigten zugestellt (abgesandt am 29.9. 03) - lehnte die Beklagte ohne Anhörung des Klägers die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ab und stellte fest, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorlägen; zugleich wurde der Kläger aufgefordert, das Bundesgebiet binnen einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, wobei ihm die Abschiebung nach Vietnam (oder einen anderen Staat) für den Fall angedroht wurde, dass er die Frist nicht einhalte.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 7.Oktober 2003 per Fax bei der erkennenden Kammer Klage - 1 A 348/03 - erhoben und zugleich erfolgreich um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht (1 B 48/03). Zur Begründung ergänzt und vertieft er seinen Vortrag, bei einer Rückkehr nach Vietnam werde er wegen "Abtrünnigkeit", wegen seines Glaubens und wegen seiner exilpolitischen Betätigung belangt und verfolgt werden.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 29. September 2003 zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG erfüllt sind.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist insoweit begründet, als es dem Kläger gemäß seinem Antrag um die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG geht.
Im Übrigen - wegen der ursprünglich begehrten Anerkennung als Asylberechtigter (Nr. 1 der Klageschrift) - ist die Klage nach der Klagerücknahme in der mündlichen Verhandlung kostenpflichtig einzustellen (§§ 92 Abs. 3, 155 Abs. 2 VwGO).
1. Das Folge- und Wiederaufnahmeverfahren nach §§ 71 Abs. 1 AsylVfG, 51 VwVfG ist gestuft, so wie das in der Rechtsprechung seit langem anerkannt ist (HambOVG, NVwZ 1985, 512: "gute Möglichkeit einer Asylanerkennung"; h.M. der Verwaltungsrechtsprechung; vgl. auch Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung, Band 2, § 71 Rdn. 85 m.w.N.; BVerfG, InfAuslR 1993, 3o4; BVerwGE 39, 234; 44, 338; 77, 325; VG Lüneburg, NVwZ-RR 2004, 217). Diese Prüfungsabfolge in Stufen ist auch in Anlehnung an die Richtlinie 2005/85/ EG d. Rates v. 1. Dezember 2005 geboten. Nur dann, wenn ein Vorbringen nach jeder Betrachtungsweise völlig ungeeignet ist, zur Asylberechtigung bzw. zu einem Abschiebungsverbot zu verhelfen, kann ein Folgeantrag als unbeachtlich bewertet werden (BVerfG, DVBl. 1994, 38; BVerfG, InfAuslR 1993, 229/233). Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier nicht vor.
2. Es stellt rechtsstaatlich einen Verfahrensmangel dar, wenn bei einem weitgehend neuen Vortrag im Folgeverfahren (vgl. S. 2 ff des Folgeantrages: Mitgliedschaft und Betätigung in einer exilpolitischen Organisation) eine Bescheidung - wie hier - ohne jede Anhörung des Antragstellers ergeht (Urteil des VG Darmstadt v. 28.5.2003 - 8 E 752/03.A (2) - Asylmagazin 2003, S. 31). Solcher Mangel begründet ernsthafte Zweifel an der vom Bundesamt anhörungslos getroffenen Entscheidung vom 29. September 2003. Denn die Nichtbefassung mit einem zentralen neuen Vortrag des Klägers führt zur Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung: Das in § 28 VwVfG normierte, dem Rechtsstaatsprinzip entstammende Anhörungsrecht dient der Fehlervermeidung und der Verhinderung von Willkürentscheidungen sowie letztlich der Wahrung von Grundrechten. Zu ihm gehört das Recht auf Kenntnisnahme eines Vortrags seitens der Behörde.
3. Soweit im Bescheid die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG angesprochen worden sind, ist es so, dass eine Änderung der Rechtslage (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) im Hinblick auf § 60 Abs. 1 AufenthG iVm der Genfer Flüchtlingskonvention v. 28.7.1951 (BGBl. 1953 II, S. 559), aber auch hinsichtlich der Richtlinie 2004/83/ EG des Jahres 2004 gegeben ist. Daneben rechtfertigen einerseits die Belege für eine exilpolitische Betätigung (u.a. vom 2.8.2003 und vom 14.5.2004 sowie vom 1.5.2005) und andererseits jene über eine Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Lage in Vietnam (Sachlage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), die Unterdrückung der Religions- und Meinungsfreiheit dort einschließlich der gehandhabten "Willkür" und der unsystematischen Verhaftungen eine Befassung mit dem Folgeantrag.
Des weiteren ist der Kläger der sofort vollziehbaren Aufforderung der Ausländerbehörde vom 25. August 2003 gefolgt und hat sich am 1. September 2003 in B. - in Begleitung von Mitarbeitern der Bezirksregierung Lüneburg - einer längeren Befragung und einem Verhör durch vietnamesische Sicherheitsbeamte der vietnamesischen Botschaft gestellt (vgl. dazu Pkt. 2 der Verfügung vom 25.8.2003), hierbei allerdings dem Ansinnen, dort vorformulierte Schreiben über seine exilpolitische Betätigung zu unterzeichnen, nicht Folge geleistet. Auch dieser Vorgang stellt einen Anlass für ein Folgeverfahren dar.
4. Sind die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen gem. den §§ 71 AsylVfG, 51 VwVfG - wie hier - erfüllt, hat das Verwaltungsgericht durchzuentscheiden (§§ 113 Abs. 5 u. 86 Abs. 1 VwGO; vgl. BVerwGE 106, 171 = DVBl. 1998, 725 = NVwZ 1998, 861 m.w.N.).
5. Dem Kläger droht bei einer Rückführung nach Vietnam prognostisch für den Zeitpunkt März 2006 eine asylerhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG. Diese Vorschrift enthält in Anlehnung an Art. 33 GFK unter Einbeziehung auch selbstgeschaffener subjektiver Nachfluchtgründe ein Abschiebungsverbot zugunsten rassisch, religiös oder sonst - durch existenzielle Gefahren - politisch Verfolgter. Hierbei reicht eine bloße Bedrohung aus.
Verfolgungshandlungen und -gründe ergeben sich aus Art. 9 und Art. 10 der berücksichtigungsfähigen Richtlinie 2004/83/EG vom 29.4.2004 (Amtsbl. der EU v. 30.9.2004 / L 304/12 ), die zwecks Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe heranzuziehen ist. Vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, 1. Teil Kap. 5 III 3, § 60 AufenthG Rdn. 13; EuGH, Urt. v. 9.3.2004 - C-397/01 - Pfeiffer, Rn. 101 ff; Meyer/ Schallenberger, NVwZ 2005, 776; VGH Baden-Württ., Beschl. v. 12.5.2005 - A 3 S 358/05 - , InfAuslR 2005, S. 296; VG Braunschweig Urt. v. 8.2.2005 - 6 A 541/04 -; VG Stuttgart InfAuslR 2005, 345.; VG Karlsruhe, Urt. v. 14.3. 2005 - A 2 K 10264/03 -; VG Köln Urt. v. 10.6.2005 - 18 K 4074/04.A - ; BGH, NJW 1998, 2208).
Die Beachtlichkeit der Richtlinie vor Ablauf ihrer Umsetzungsfrist gilt auch deshalb, weil die Bundesregierung in den Ratsgremien bereits auf der Grundlage des Entwurfs eines Zuwanderungsgesetzes verhandelt, also selbst eine Interdependenz zwischen Richtlinie und Zuwanderungsgesetz hergestellt hat (vgl. V 3.4.2 des Berichtes der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, August 2005, S. 512 m.w.N.). Vgl. hierzu auch den neuen "Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union" der Bundesregierung v. 3. Januar 2006, durch den subjektive Nachfluchtgründe wieder berücksichtigungsfähig werden sollen (s. dazu Duchrow, Asyl-info 2006, S. 4 f/S. 9).
Entscheidend ist damit, welche Bedrohung im Falle einer "sonstigen Rückführung" (so § 13 Abs. 1 AsylVfG) aufgrund einer Gesamtschau aller Umstände zu erwarten ist. Hierfür ist eine zukunftsgerichtete Wahrscheinlichkeitseinschätzung dazu abzugeben, ob es zumutbar ist, in den Heimatstaat zurückzukehren (BVerwGE 55, 82 und BVerwGE 87, 52).
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Bedrohung ist somit aufgrund einer individuellen Prüfung (Art. 4 Abs. 3 Richtlinie) dann zu bejahen, wenn bei zusammenfassender Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgungsfurcht (Art. 4 Abs. 4 Richtlinie) sprechenden Umstände nach Lage der Dinge ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Umständen nach richterlicher Wertung qualitativ überwiegen (vgl. dazu BVerfGE 54, 341/354; BVerwG, DÖV 1993, 389; OVG Lüneburg, Urt. v. 26.8.1993 - 11 L 5666/92 ). Vgl. dazu OVG Frankfurt/Oder v. 14.4.2005 - 4 A 783/01 - :
"Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise i.S. einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Asylsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn auf Grund einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht."
Auf eine Kausalität zwischen Verfolgung bzw. Bedrohung in der Vergangenheit und einer daraus resultierenden Flucht kommt es - mangels erlittener Verfolgung und mangels Flucht - bei einer solchen prognostischen Beurteilung der "Furcht vor Verfolgung" oder der künftigen Gefahr, "einen ernsthaften Schaden zu erleiden" (Art. 4 Abs. 4 Richtlinie), nicht mehr an. Entscheidend ist das Vorliegen von Anknüpfungsmerkmalen im Jahre 2006, deretwegen (Flüchtlings-) Verfolgung aller Voraussicht nach in Zukunft stattfinden wird.
Solche Anknüpfungsmerkmale, die unter Wertungs- und Abwägungsgesichtspunkten z.Z. für eine berechtigte Verfolgungsfurcht des Klägers sprechen, sind hier gegeben.
6. Ein Überwiegen der für eine Verfolgungsfurcht des Klägers sprechenden Umstände ist hier deshalb anzunehmen, weil der Kläger zum einen gläubiger Anhänger des Buddhismus ist und er sich zum andern exilpolitisch betätigt hat, als solcher aber aufgrund seiner Gesinnung und der gewandelten Verhältnisse in Vietnam im Falle einer Rückkehr im Jahre 2006 ernsthaft bedroht ist.
6.1 Ausgangspunkt dabei ist, dass die Ausnahmevorschrift des § 28 Abs. 1 AsylVfG die Sicherheit u.a. vor einer Abschiebung - § 51 Abs. 1 AuslG bzw. jetzt § 60 Abs. 1 AufenthG - nicht erfasst, sie vielmehr ausschließlich den Asylstatus, nicht aber den Flüchtlingsstatus berührt.
Vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 24.2.1993 - 2 BvR 1959/92 - in InfAuslR 1993, 179:
"Das Oberverwaltungsgericht hat bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 51 Abs. 1 AuslG die vom Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 26. November 1986 (BVerfGE 74, 51 (65 f.)) entwickelten Grundsätze zur Asylerheblichkeit selbstgeschaffener Nachfluchtgründe angewendet und damit den einfachrechtlich verbürgten Abschiebungsschutz einschränkend interpretiert, ohne dass diese Auslegung im Wortlaut der Vorschrift einen Anhaltspunkt fände....
Auch in der nachfolgenden Rechtsprechung hat das Bundesverwaltungsgericht immer wieder darauf hingewiesen, dass § 51 Abs. 1 AuslG dann praktische Bedeutung erlange, wenn politische Verfolgung wegen eines für die Asylanerkennung unbeachtlichen Nachfluchtgrundes drohe (vgl. nur...)."
Somit konnten und können mit Blick auf einen Abschiebungsschutz (aus § 51 AuslG bzw. aus jetzt § 60 Abs. 1 AufenthG) grundsätzlich subjektive Nachfluchtgründe aller Art vorgebracht werden.
Erst durch § 28 Abs. 2 AsylVfG und allein im Folgeverfahren wird - zeitlich begrenzt ("nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung" des Erstantrages) - der Flüchtlingsstatus mit einer im Absatz 2 neu eingeführten Regel berührt. Hiergegen waren im Gesetzgebungsverfahren allerdings erhebliche Bedenken des Bundesrates vorgebracht worden (Stellungnahme des Bundesrates v. 4. Jan. 2002 - BR-Drucks. 921/01, S. 64 - zu § 28 Abs. 2 AsylVfG):
"Der Bundesrat bittet, im weiteren Gesetzgebungsverfahren § 28 Abs. 2 AsylVfG-E so zu ändern, dass die Regelung mit dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention) vereinbar ist.
Begründung:
Der Ausschluss von Nachfluchttatbeständen, die der Asylbewerber nach Verlassen des Heimatstaates aus eigenem Entschluss geschaffen hat (sogenannte selbstgeschaffene oder subjektive Nachfluchttatbestände), in Asylfolgeverfahren ist mit dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention - (BGBl. 1953 II S. 560) nicht vereinbar. Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) differenziert nicht danach, ob ein Fluchtgrund selbst verursacht wurde oder nicht (Artikel 1 A GFK). Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 26. November 1986 (vgl. BVerfGE 74, 51,67) ausgeführt, dass gegenüber der Abschiebung in einen Staat, von dem einem Ausländer politische Verfolgung droht, Schutz nach Maßgabe von Artikel 33 GFK besteht. Diese Rechtsbindungen seien "selbstverständlich auch in allen Fällen von Nachfluchttatbeständen, die der Asylrelevanz ermangeln, zu beachten"...
Die Erstreckung der vom Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 74, 51) entwickelten Grundsätze zum Asylstatus, welcher durch eine retrospektive Kausalität von Verfolgung und Flucht gekennzeichnet ist, auch auf den Flüchtlingsstatus, bei dem diese Kausalität fehlt, ist so ohne weiteres nicht möglich, weil "Nachfluchtgründe" auf eine prognostisch erst noch zu bewertende Bedrohung grundsätzlich nicht passen - mögen sie subjektiver oder objektiver Art sein. Daher ist die Unterscheidung im Flüchtlingsrecht - anders als im Asylrecht - ein Fremdkörper:
"Die Anerkennung von objektiven wie subjektiven Nachfluchtgründen wird daher folgerichtig zum Mindestbestand des Schutzes nach der GK u. gleichzeitig auch des subsidiären Schutzstatus gezählt..." - Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, GG 3, Rdn. 139 -
Der Bezug des § 28 Abs. 2 AsylVfG zu dessen Absatz 1 (vgl. oben 4.2.1) macht allerdings deutlich, dass nach dem Gesetz subjektive Nachfluchtgründe in der Regel ausgeschlossen sein sollen (Ausnahme: BVerwGE 90, 127) u.zw. - in Anlehnung an den Asylstatus und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dazu - vor allem solche, die nicht bereits "einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung" entsprechen.
Da es einen objektiven Nachfluchttatbestand darstellt, wenn sich die politische Einstellung des Heimatstaates gegenüber regimekritischen Organisationen bzw. Betätigungen verändert (Renner, aaO., § 28 Rdn. 10 u. GG 3, Rdn. 54; BVerwG, EZAR 206 Nr. 4) und somit im Heimatstaat prognoserelevant veränderte Verhältnisse herrschen, ist es dem Kläger hier schon deshalb nicht verwehrt, sich auf die in den letzten Jahren feststellbaren Verschärfungen in Vietnam, vor allem auf die massive Verfolgung von Religionsanhängern dort (Christen wie Buddhisten), zu berufen. Auf derartige Ereignisse (Art. 5 Abs. 1 Richtlinie 2004/83/EG) hat der Kläger keinen Einfluss. Ihre Veränderung kann nach der Gesetzeslage zur Anerkennung führen - gerade auch mit Blick auf § 28 Abs. 1 AsylVfG.
Im Übrigen ergreift der Regelausschluss (allein) rein subjektiver Nachfluchtgründe gem. § 28 Abs. 2 AsylVfG nicht auch unveränderliche persönliche Merkmale - z.B. ethnische oder körperliche Merkmale (Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage, § 28 AsylVfG Rdn. 9). Vor allem die religiöse Überzeugung ist rechtlich ein objektiver Nachfluchttatbestand (Marx, Kommentar zum AsylVfG, 3. Aufl., § 28, Rdn. 15). Der Kläger buddhistischen Glaubens ist also mit seinem Vortrag schon deshalb nicht ausgeschlossen.
Das gilt angesichts der gen. Richtlinie 2004/83/EG mit ihrer grundsätzlichen Anerkennung von Nachfluchtgründen objektiver wie auch subjektiver Art, die allesamt einen "Bedarf an internationalem Schutz" hervorrufen (Art. 5), in ganz besonderem Maße, so dass geänderte Einstellungen und Verschärfungen im Herkunftsland bei § 28 AsylVfG als objektiver Nachfluchttatbestand beachtlich und iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bedrohungsrelevant sind.
Die Richtlinie ist im vorliegenden Bedeutungszusammenhang gesetzessystematisch und rechtsmethodisch auch heranzuziehen, wobei die vom OVG Münster (Urt. v. 12.7.2005 - 8 A 780/04.A -, Asylmagazin 10/2005, S. 26/27) angenommene Eindeutigkeit des § 28 Abs. 2 AsylVfG mit seinem Bezug zu Abs. 1 und dem dort geregelten Asylstatus nur solange besteht, wie die völkerrechtlichen Rechtsbindungen ausgeblendet werden und die Vorschrift nur "für sich genommen" betrachtet wird. Diese Bindungen sind jedoch nach dem gesamten Regelungszusammenhang einzubeziehen und zu beachten (Renner, aaO, GG 3 Rdn. 138). Der Ausschluss konventionsrechtlichen Schutzes ist nicht zulässig, weil die GFK "umfassenden Schutz gewährt" (Marx, Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, 6. Auflage 2005, § 28 Rdn. 131), u.zw. auch bei einer Verfestigung (Marx, aaO., Rdn. 133). Ein möglicher Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie ist mithin stets zu bedenken (Marx, Rdn. 134 und 136). Vergl. dazu BVerfGE 74, 51 f.:
"Bei alledem darf nicht übersehen werden, daß das Asylrecht im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG nicht die einzige Rechtsgrundlage für einen Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet oder jedenfalls für ihren Schutz vor Abschiebung darstellt. Steht jemandem das Asylgrundrecht nicht zu, ist keineswegs ausgeschlossen, daß ihm - etwa nach Maßgabe der Regelungen des Ausländergesetzes, die insoweit teilweise weite Ermessensspielräume einräumen - ein Aufenthaltsstatus im Bundesgebiet zuerkannt wird. Gerade in Fällen, in denen - ungeachtet des Fehlens der Asylberechtigung - die Gewährung eines gesicherten Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland aus politischen oder anderen Gründen sich nahelegen mag, stehen diese Möglichkeiten offen. Und gegenüber der Abschiebung in einen Staat, von dem ihm politische Verfolgung droht - oder einen Drittstaat, der ihn in einen solchen Staat möglicherweise ausliefert -, besteht für jeden Ausländer Schutz nach Maßgabe von Art. 33 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention - vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II S. 559), § 14 des Ausländergesetzes vom 28. April 1965 (BGBl. I S. 353), möglicherweise auch Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - Europäische Menschenrechtskonvention - vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II S. 686). Diese gesetzlichen, teilweise auch völkerrechtlich begründeten Rechtsbindungen sind selbstverständlich auch in allen Fällen von Nachfluchttatbeständen, die der Asylrelevanz ermangeln, zu beachten."
Der Gesetz- wie auch Richtliniengeber hat sich zu den Grundsätzen der Genfer Flüchtlingskonvention bekannt (§ 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG, Erwägungsgründe (3) der Richtlinie; Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG: "Unbeschadet der GFK") und damit im Falle subjektiver Nachfluchtgründe - bei objektiven ohnehin - deutlich einen "Schutzbedarf" anerkannt. Das wird in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung v. 3.1.2006 zu dem "Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union" betont, wenn es dort zu Nr. 17 der Änderungen des AsylVfG u.a. heißt:
"Zunächst wird klargestellt, dass die Verfolgungsgefahr grundsätzlich auch auf Ereignissen und Aktivitäten beruhen kann, die nach Ausreise aus dem Herkunftsland entstanden sind bzw. durchgeführt wurden (Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie)."
Diese Bezugnahme auf Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie iSe Klarstellung unterstreicht den gegebenen gesetzessystematischen Zusammenhang sehr deutlich.
6.2 Da der Richter an einzelne Gesetze nur als Teil des gesamten Rechts gebunden ist, er nur den im gesetzlichen Zusammenhang zweifelsfrei zum Ausdruck gelangten Gesetzeszweck mit seinen Grundgedanken zu respektieren hat (so schon Enneccerus-Nipperdey, Allg. Teil, § 51 II 4a; Betti, Allgemeine Auslegungslehre, S. 600 ff.), kann hier nicht daran vorbeigegangen werden, dass mit § 60 Abs. 1 AufenthG und der gen. Richtlinie zugleich auch ausdrücklich und sehr bewusst die Genfer Flüchtlingskonvention v. 28.7.1951 als "Leitlinie" anerkannt und in den Gesetzeszusammenhang aufgenommen worden ist.
6.3 Dieser gesetzgeberisch anerkannte Schutzbedarf modifiziert das Regel-Ausnahme-Verhältnis des § 28 Abs. 2 AsylVfG ganz erheblich: Der neu eingefügte § 28 Abs. 2 AsylVfG ist nicht nur im Hinblick auf die Richtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004 (Amtsblatt der EU L 304/12) und den dort anerkannten Schutzbedarf bei Nachfluchtgründen (Art. 5) äußerst einschränkend auszulegen (vgl. dazu die Rechtsprechung der Kammer, z.B. Urteile v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -, v. 29.6.2005 - 1 A 212/02 - und v. 6.7.2005 - 1 A 4/02 - sowie v. 17.8.2005 - 1 A 233/02 -), sondern auch deshalb, weil er andernfalls mit dem Refoulementverbot des Art. 33 Abs. 1 des Abkommens vom 28.7. 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) und mit dem - dieses Verbot sowie jenes aus Art. 3 EMRK umsetzenden - Sinngehalt des § 60 Abs. 1 AufenthG erheblich kollidierte.
Zur Vermeidung völkerrechtswidriger, gemeinschaftsrechtlich unzulässiger und auch verfassungswidriger Folgen ist der Regel des § 28 Abs. 2 AsylVfG daher nicht zu folgen (vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 18.4.2005 - A 11 K 12040/03 - , InfAuslR 2005, S. 345; VG Göttingen, Urt. v. 2.3.2005 - 4 A 38/03 - ; ähnlich VG Magdeburg, Urt. v. 11.7.2005 - 9 A 272/04 MD -; vgl. auch VG Mainz Urt. v. 27.4.2005 - 7 K 755/04.MZ - sowie VG Meiningen Urteil v. 20.9. 2005 - 2 K 20124/04.Me - ).
Folglich ist § 28 Abs. 2 AsylVfG im Gesamtzusammenhang des Normengefüges (Art. 16 a Abs. 1 GG, Art. 3 EMRK, Art. 33 GFK, Richtlinie 2004/83/EG, § 60 AufenthG) richterlich nur als äußerst eng zu interpretierende Ausnahme anwendbar.
§ 28 Abs. 2 AsylVfG vermag somit die Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG nur noch ganz ausnahmsweise, nämlich dann zu sperren, wenn ausnahmslos rein subjektive Nachfluchtgründe geltend gemacht werden. In allen anderen Fällen, vornehmlich dann, wenn subjektive und objektive Nachfluchtgründe nur miteinander verwoben sind, besteht ein "Bedarf an internationalem Schutz" gem. Art. 5 Abs. 2 Richtlinie 2004/83/EG.
§ 28 Abs. 2 AsylVfG findet daher bei zahlreichen Konstellationen gar keine Anwendung (vgl. etwa Marx, Kommentar zum AsylVfG, 6. Auflage 2005, § 28 Rdn. 120 f.) - u.a. jener, dass sich ein enger Zusammenhang mit den im Erstverfahren geprüften Gründen ergibt oder zunächst als unerheblich bewertete Gründe nunmehr als entscheidungserheblich erscheinen. Auch dann, wenn unbeachtliche Gründe "in einem anderen Licht" erscheinen, findet § 28 Abs. 2 AsylVfG keine Anwendung (Marx, aaO., Rdn. 121).
Im Rahmen des § 28 AsylVfG können auch subjektive Nachfluchtgründe aller Art zur Anerkennung führen. Das gilt ganz besonders und vor allem dann, wenn sie auf eine schon im Herkunftsland erkennbar betätigte Überzeugung (Abs. 1) oder aber (mit Blick auf einen Folgeantrag iSv Art. 5 Abs. 3 Richtlinie bzw. § 28 Abs. 2 AsylVfG) auf Umstände zurückgehen, die schon vor Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung des früheren Antrags entstanden sind. Bei Verhaltensweisen, die bei wertender Betrachtung typischerweise nicht von dem Zweck erfasst werden, der die Unerheblichkeit des Nachfluchtverhaltens begründet (vgl. BVerwGE 90, 127/131), kommt auch bei subjektiven Nachfluchtgründen eine Anerkennung stets in Betracht .
6.4 Auf diesem Hintergrund liegt es hier zunächst so, dass der Kläger als Bewohner des umkämpften Grenzgebietes im Norden zu China noch in Vietnam miterleben musste, wie vietnamesische Truppen im Grenzgebiet verbliebene, nicht vor den chinesischen Truppen geflohene Bewohner der "Zusammenarbeit" mit China verdächtigten und sie mit "Strafarbeiten" (Schleppen von Steinen) belegte. Der Kläger gehört einer Volksgruppe an, die eigene Sitten und Gebräuche pflegt und vor allem - wie sich in der mündlichen Verhandlung am 24.3.2006 gezeigt hat - eine eigene Sprache hat, die sich von der vietnamesischen Sprache deutlich abhebt. Im Übrigen war es dem gläubigen Kläger schon damals verboten, seinem buddhistischen Glauben nachzugehen: Polizisten kontrollierten vor buddhistischen Pagoden des Grenzgebietes die Gläubigen, so dass der Kläger vielfach nur noch heimlich die Pagode aufsuchte. Der Kläger entwickelte damals aufgrund seiner Erfahrungen eine abwehrende Einstellung gegen den diktatorisch geprägten vietnamesischen Staat.
Die aufgrund des erwähnten (sofort vollziehbaren) Bescheides der Ausländerbehörde vom 25. August 2003 am 1. September 2003 in Hannover durchgeführte Befragung - nicht nur, wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 24. März 2006 erklärt hat, zu seiner Identität oder Staatsangehörigkeit, sondern vor allem auch zu seiner exilpolitischen Betätigung und zu Organisationen in Deutschland - lässt ein nachhaltiges Interesse des vietnamesischen Staates an den in Deutschland lebenden und hier tätigen Dissidenten erkennen. Diese Nachforschungs- und Aufklärungsarbeit der vietnamesischen Botschaft durch "A-18-Polizisten" lässt seine bereits im Erstverfahren vorgetragene Furcht in einem neuen Lichte erscheinen.
Damit handelt es sich bei der exilpolitischen Betätigung des Klägers in Deutschland (vgl. Bl. 59 und Bl. 69 ff GA), die angesichts seiner Erfahrungen mit dem vietnamesischen Regime offensichtlich einer schon im Herkunftsland angelegten "Ausrichtung" (Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie) bzw. dort gewachsenen Überzeugung entspricht, nicht um einen (nachträglich) erst aus eigenem Entschluss geschaffenen Nachfluchttatbestand iSv § 28 Abs. 1 AsylVfG, sondern vielmehr um eine Betätigung, welche sich auf eine "Überzeugung" (§ 28 Abs. 1 AsylVfG) bzw. "Ausrichtung" (Art. 5 Abs. 2 Richtlinie) gründet, die bereits in Vietnam bzw. im Erstverfahren ihre Wurzeln hat ("Ausdruck und Fortsetzung" einer entsprd. "Ausrichtung", Art. 5 Abs. 2). Zudem reagiert der vietnamesische Staat auf seine Glaubenshaltung inzwischen (2005/06) anders - nämlich härter - als früher.
Somit kann keine Rede davon sein, dass der Kläger sein Folgevorbringen nur auf "Umstände" iSv § 28 Abs. 1 AsylVfG stützt, die erst nach Ablehnung seines früheren Antrages (neu) entstanden sind (§ 28 Abs. 2 AsylVfG) und die sich als solche darstellen, die er allein "aus eigenem Entschluss" sich selbst neu geschaffen hat (§ 28 Abs. 1 AsylVfG). Vgl. insoweit Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, 4. Teil § 28 IV Rdn. 21:
"Der Ausschluss nach Abs 1 greift dann ausnahmsweise nicht ein, wenn die Aktivitäten auf einer bereits früher geäußerten Einstellung beruhen ..."
Exilpolitische Aktivitäten sind zudem ausnahmsweise auch dann asylrelevant, "wenn eine ´Vortätigkeit´ im Herkunftsstaat objektiv unmöglich war" (Renner, aaO, § 28 AsylVfG, Rdn. 18) - etwa wegen zu geringen Lebensalters oder einem noch mangelhaft entwickelten politischen Bewusstsein (Renner, aaO., § 28 AsylVfG, Rdn. 18 m.w.N.).
6.5 Weiterhin liegt es hier so, dass der Kläger aus einer Buddhistenfamilie stammt und schon im Grenzgebiet zu China - trotz entsprechender Verbote und Kontrollen - versucht hat, die Pagode aufzusuchen und seinem buddhistischen Glauben nachzugehen. Er ist trotz Widerständen bei seinem Glauben geblieben. Da dieser Gesichtspunkt bereits im Erstverfahren vorhanden und nicht etwa erst danach neu "entstanden" war, ist die Regel des § 28 Abs. 2 AsylVfG auf ihn ohnehin nicht anwendbar. § 28 Abs. 1 AsylVfG kommt insoweit ebenfalls nicht zum Zuge, weil das Moment der risikolosen Verfolgungsprovokation fehlt: Der Kläger hat seine Überzeugung und seinen Glauben, der schon seit langem zu seinem Wesen gehören, nicht erst hier in Deutschland gefunden. Vielmehr hat er fortgesetzt, was er schon in Vietnam getan hat. Ein Missbrauch seiner Religionszugehörigkeit, die gem. Art. 10 Abs. 1 b der Richtlinie 2004/83/EG theistische, nichttheistische und auch atheistische Glaubensüberzeugungen umfasst, ist deshalb auszuschließen.
Verfolgungsmaßnahmen könnten dem Kläger bei dieser Lage der Dinge in hohem Maße deshalb drohen, weil er buddhistischen Glaubens ist (vgl. Niederschr. v. 4.12.1990, Protokoll v. 8.2.2006). Die lokalen Behörden in Vietnam empfinden nämlich die Tendenzen religiöser Orientierung in Nord-, Nordwest- und Mittelvietnam "als bedrohlich und reagieren darauf mit Medienkampagnen, Einschüchterung und teilweise sogar mit Verhaftungen" (so schon Lagebericht des AA v. Mai 2001, S. 6). Mehr als 150.000 Angehörige des Hmong-Volkes z.B. sind zum christlichen Glauben übergetreten und deshalb 2002 bis 2004 mit großer Brutalität verfolgt worden. "Die Unruhen im zentralen Hochland Vietnams im Februar 2001 müssen im Kontext dieses religiösen Konflikts gesehen werden..." (so AA, aaO.). Ähnlich ist mit strenggläubigen Buddhisten verfahren worde.
Die Bedrohungslage ergibt sich dabei auch aus Strafvorschriften, die Aktivitäten von Religionsgemeinschaften stark beschränken (Art. 81 c vietn StGB - Verbreitung von Zwietracht - und Art. 199 vietn-StGB - Betreiben abergläubischer Praktiken -). Sämtliche kirchlichen Aktivitäten unterliegen einer Registrierungspflicht und bedürfen einer gesonderten Genehmigung (AA an VG Darmstadt v. 18.2.2002). Neuerdings ist zudem ein neuer "Religionserlass" in Kraft getreten, der als "Festschreibung der staatlichen Kontrolle über alle Aspekte des religiösen Lebens" verstanden und kritisiert wird (ai-Jahresbericht 2005, S. 358).
Nach Pressemitteilungen der IGFM sind im Laufe des Jahres 2001 alle bedeutenden Persönlichkeiten der buddhistischen, evangelischen und der katholischen Religionsgemeinschaften sowie der Hoa-Hao-Religion in Vietnam - ohne Gerichtsverfahren - inhaftiert oder unter Hausarrest gestellt worden. Versammlungen von Religionsgemeinschaften seien von der Volkspolizei und der Armee "brutal aufgelöst" worden. Aus Protest gegen die religiöse Unterdrückung haben sich im Jahre 2001 zwei Buddhisten selbst verbrannt.
"Besonders rigide war das Vorgehen der Behörden gegen Gläubige der verbotenen Vereinigten Buddhistischen Kirche Vietnams (VBKV), deren führende Vertreter nach wie vor unter Hausarrest standen" - so ai-Jahresbericht 2005, S. 358.
Nach neueren Berichten und Pressemitteilungen werden Gläubige in Vietnam misshandelt, schikaniert und gefoltert (vgl. Radio Vatikan v. 21.9. 2005: "Abschwören oder fliehen"; Kath.net v. 27.10.2005: "Christen nach geheimen Anweisungen der KP verfolgt"; Jesus.ch v. 7.10.2005: "Grenzschutzsoldaten misshandeln Christen"). In einer Meldung des "Radio Vatikan", asianews, v. 21.9.2005 heißt es:
"Behörden in der Provinz Yuang Nai haben die Häuser von vier christlichen Familien zerstört, weil diese sich weigerten, ihrem Glauben abzuschwören. Das meldet die Nachrichtenagentur asianews. Nach ihren Angaben ist in Vietnam weiter eine richtiggehende Christenverfolgung in Gang."
Schüler eines Pfarrers sollen wegen ihres Engagements "bereits mehrmals verhaftet, zusammengeschlagen und gefoltert" worden, "um falsche Geständnisse zu erpressen". Politisches, soziales oder sonstiges Engagement ist den Religionsgemeinschaften daher inzwischen strikt untersagt und wird staatlich verfolgt. Vgl. insoweit auch das Schicksal des religiösen Truong Vinh Chau, der im August 2005 in die USA ausreisen konnte (Jesus.ch v. 25.8.2005). Vgl. auch schon ai-Jahresbericht 2004 S. 417.
Da der Kläger gläubiger Buddhist ist und regelmäßig die Pagode schon in Vietnam, aber auch hier in Deutschland (Hannover und Hamburg) besucht hat, also einem Glauben anhängt, der von der kommunistischen Führung in Vietnam ebenso wenig toleriert wird wie jeder andere Glaube, ist er in besonderem Maße bedroht. Das kommunistische Regime betrachtet nämlich Gläubige, besonders strenggläubige Anhänger einer Religion, als "Abtrünnige" des vietnamesischen Staates und der kommunistischen Ideologie. Hierbei verbietet sich eine Unterscheidung nach öffentlichem und privatem Bereich religiöser Betätigung, weil ein öffentlicher Bereich in der Richtlinie 2004/83/ EG nicht mehr gesondert genannt wird (vgl. VGH Baden-Württ. InfAuslR 2005, S. 296/S. 298).
Der Kläger dürfte im Hinblick auf seinen buddhistischen Glauben und seine AsylantragsteIlung somit als Andersdenkender, als "Abtrünniger" angesehen werden, falls er nach Vietnam zurückzukehren hätte (vgl. insoweit auch VG Meiningen, B. v. 18.6.2002 - 2 E 20341/02.Me -).
6.6 Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung - März 2006 - stellt sich im Übrigen die Sach- und Rechtslage gegenüber dem Zeitpunkt des bundesamtlichen Erstbescheides so dar, dass sich die Verhältnisse in Vietnam sehr deutlich verschärft haben. Das ergibt sich aus einer Gesamtschau sämtlicher Lebensverhältnisse und Umstände in Vietnam - der "Gesamtverhältnisse im Herkunftsland" (vgl. Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung Bd. 2 / Std. Sept. 2000, § 71 Rdn. 88; siehe auch Art. 4 Abs. 3 a der gen. Richtlinie 2004/83/EG; VG Gießen, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9, S. 69 f). Diesbezüglich kann auf die bisherige Rechtsprechung der Kammer Bezug genommen werden (vgl. u.a. Urteile v. 7.9.2005 - 1 A 240/02 - und v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -), wobei folgendes betont sei:
Es reicht methodisch nicht aus, für eine Gesamtschau lediglich die Lageberichte des Auswärtigen Amtes in den Blick zu nehmen. Denn "Vietnam gehört zu den Schwerpunktländern der deutschen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit (EZ)", "Deutschland ist einer der größten bilateralen Geber Vietnams" (so die ständig aktualisierte Darstellung des Auswärt. Amtes zu den deutsch-vietnamesischen Beziehungen / Stand: Juli 2005). Hiervon abgesehen berücksichtigt z.B. der jüngste Lagebericht des AA vom 28.8.2005 nach eigener Darstellung weder den ai-Jahresbericht 2005 (Vietnam, S. 356) noch denjenigen des US-Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 2004 - Vietnam - v. 28. Febr. 2005. Vielmehr werden vom Auswärtigen Amt anstelle der aktuellen Berichte nur die jeweils älteren Berichte des Vorjahres einbezogen. Der Menschenrechtsreport 38 der "Gesellschaft für bedrohte Völker" - GfbV - v. 28. April 2005 und der IGFM-Jahresbericht 2004 werden weder erwähnt noch verwertet. Es ist fraglich, ob sonstige Presseberichte berücksichtigt sind. Damit ist die Aussagekraft der Lageberichte des AA stark eingeschränkt, da die neuere Entwicklung in Vietnam, wie sie von anderen Seiten berichtet wird, nur sehr unzureichend wahrgenommen und dargestellt ist.
Somit müssen gerade mit Blick auf die besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und Vietnam und die unzureichende Aussagekraft der Lageberichte des AA auch andere Erkenntnisse - nach Möglichkeit solche aus einer breit gestreuten Vielfalt von Quellen - in eine richterlich ausgewogene Bewertung einbezogen und ausgewertet werden.
Selbst nach den letzten Lageberichten des AA (v. 28.8.2005 und v. 12.2.2005) ist es jedoch so, dass regierungskritische Aktivitäten in Vietnam nicht nur mit "größter Aufmerksamkeit", sondern ggf. sogar eben auch mit polizeilich-justiziellen Maßnahmen "verfolgt", öffentliche Kritik an Partei und Regierung und die Wahrnehmung von Grundrechten nicht toleriert werden und Dissidenten Repressionen seitens der Regierung ausgesetzt sind. Aktive Gegner des Sozialismus können nach den weit gefassten und (willkürlich) weit verstandenen Vorschriften jederzeit nach Belieben inhaftiert und bestraft werden. Amnestien des Jahres 2005 (vgl. dazu die Pressemitteilung des AA v. 8.9.2005) verweisen insoweit "nicht auf einen grundsätzlichen Wandel" in Vietnam (ebenso Lagebericht AA v. 28.8. 2005).
Für die erforderliche Gesamtschau und -bewertung ist die Einschätzung von Sachkennern, Gutachtern und Beobachtern der vietnamesischen Verhältnisse zu berücksichtigen, die in Urteilen der Kammer dargestellt ist (vgl. z.B. Urteile v. 7.9.2005 - 1 A 240/02 - und v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -). Darauf kann hier Bezug genommen werden.
Die Verschärfung der Lage in Vietnam zeigt sich auch daran, dass sämtliche Dokumente, die im Zusammenhang mit gerichtlichen Verfahren gegen Personen stehen, denen Verstöße gegen die sog. "nationale Sicherheit Vietnams" zur Last gelegt werden, seit kurzem per Erlass als "Staatsgeheimnisse" eingestuft werden. In letzter Zeit wurden offiziell über 80 Todesurteile verhängt, davon 64 vollstreckt. Informationen hierüber sind inzwischen ebenfalls zum "Staatsgeheimnis" erklärt worden (ai-Jahresbericht 2005, S. 359), so dass auch darüber nicht mehr offiziell berichtet werden darf.
Der vietnamesische Staat unternimmt bei seinen Verfolgungsmaßnahmen offenbar den Versuch, in den Augen der (Welt-)Öffentlichkeit weiterhin geachtet zu werden:
"In mehr als einhundert Fällen konnte nachgewiesen werden, daß die Polizei die Demonstranten bei Tage ungestört demonstrieren ließ und sie dann im Laufe der Nacht aufgriff. Mindestens 14 Personen wurden wegen "Landstreicherei" zwischen vier und fünfzehn Tagen eingesperrt."
- so menschenrechte Nr. 2 / 2005, S. 22 -
6.7 Soweit die Beklagte daran festhält, dass erst ab einer erhöhten Tätigkeitsschwelle mit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bei einer Rückkehr nach Vietnam zu rechnen sei, entspricht das zum einen nicht mehr den neueren Verhältnissen und steht das zum andern im Widerspruch zu Art. 10 Abs. 1 e) der Richtlinie 2004/83/EG, derzufolge es "unerheblich" sein soll,
"ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist."
Darauf, ob eine Einreiseverweigerung wahrscheinlicher als eine Verfolgung in Vietnam sei (OVG Weimar, Urt. v. 2.8. 2001 - 3 KO 279/99 -), kommt es nicht an. Vgl. insoweit das VG Magdeburg, Urt. v. 30.1.2002 - 9 A 155/02 -
"Die Verweigerung der Wiedereinreise stellt für den Kläger politische Verfolgung dar. In der Rechtsprechung des BverwG ist geklärt, dass die Verweigerung der Wiedereinreise, soweit sie an asylerhebliche Merkmale anknüpft, politische Verfolgung darstellen kann, denn der Staat entzieht seinem Staatsbürger hiermit wesentliche staatsbürgerliche Rechte und grenzt ihn so aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit aus."
Im Übrigen ist auch eine solche Verweigerungshaltung des vietnamesischen Staates nicht maßgeblich. vgl. insoweit VG München, Urt. v. 13.8.2003 - M 17 K 03.50661 - Asylmagazin 2003, S. 30:
Die Auffassung des Auswärtigen Amtes, vor einer Bestrafung sei mit der Verweigerung der Einreise zu rechnen, spielt keine Rolle. Das Gericht hat die Verfolgungswahrscheinlichkeit für den Fall einer tatsächlichen Rückkehr zu beurteilen."
Unmaßgeblich für die vorliegende Entscheidung ist auch, ob die exilpolitischen Betätigungen von Auslandsvietnamesen und deren Kritik am vietnamesischen Regime in Vietnam wahrgenommen werden und dort ggf. eine mehr oder weniger "breite Öffentlichkeitswirkung" entfalten bzw. einen "nennenswerten Einfluss auf die Öffentlichkeit" haben: Entscheidend sind allein die Ängste und Befürchtungen des vietnamesischen Regimes im Falle der Rückkehr von Exilvietnamesen nach Vietnam und ihres Aufenthaltes dort.
Das Regime bekämpft in Vietnam ganz offenkundig schon die abweichende Gesinnung und politische Einstellung Einzelner (vgl. die dafür geschaffenen "Umerziehungslager", die jenen in Nordkorea ähneln - ai-journal 10/2005 S. 32), ohne hierbei darauf abzustellen, in welchem Maße deren Engagement oder abweichende Gedanken bereits von Deutschland aus irgendeine Breitenwirkung erzielt haben. Es geht nicht nur um einen "Gesichtsverlust" des vietnamesischen Regimes, sondern nach zwei Aufständen (Februar-Aufstand 2001 und April-Aufstand 2004) offensichtlich um die Abwehr freiheitlicher Meinungen und Bestrebungen, die in Vietnam schon von ihrer "Wurzel an" bekämpft werden. Aktive und überzeugte (Gesinnungs-)Gegner des Sozialismus und des Alleinherrschaftsanspruchs der KP müssen stets mit Verfolgungsmaßnahmen rechnen und sind daher gefährdet (Lagebericht AA v. 28.8. 2005). Deshalb ist freiheitliches Denken bereits "verboten", deshalb sind die Parallelen zu Nordkorea unübersehbar. Gläubige, die den bloßen Verdacht erweckt haben, im Zusammenhang mit ihrer Religionsausübung oppositionelle Bestrebungen (nur) "zu unterstützen", werden "inhaftiert bzw. müssen mit ihrer Inhaftierung und Strafverfolgung rechnen" (so Urteil des VG Schwerin v. 27.2.2004 - 1 A 1580/01 As -). Das Regime befürchtet, Exilvietnamesen könnten in Vietnam - sind sie erst einmal in ihr Heimatland zurückgekehrt - Gedanken über Demokratie, Freiheit und Pluralismus großflächig in der vietnamesischen Bevölkerung verbreiten. Deshalb kommt es auf eine Öffentlichkeits- und Breitenwirkung von Deutschland aus gar nicht an.
6.8 Die dem Kläger als einem "Andersdenkenden" bei einer Rückkehr nach Vietnam drohenden Maßnahmen der vietnamesischen Sicherheitskräfte dürften seine leibliche Unversehrtheit, seine physische Freiheit sowie seine Versammlungs- und Meinungsfreiheit und vor allem seine "politische Überzeugung" und seine Religionsfreiheit zum Gegenstand haben (Art. 10 der Richtlinie). Er galt schon in Vietnam als Bewohner des Grenzgebietes zu China als unzuverlässig und ist in Deutschland in vielfacher und mehrfacher Hinsicht exilpolitisch aktiv gewesen und noch aktiv (vgl. die im Verfahren vorgelegten Unterlagen), was den vietnamesischen Sicherheitskräften - wie das Verhör vom 1.9.2003 in Hannover gezeigt hat (vgl. die sofort vollziehbare Verfügung der Ausländerbehörde v. 25.8.2003) - nicht verborgen geblieben, von ihnen vielmehr ausdrücklich ausgeforscht worden ist. Er hat an vielen exilpolitischen Tätigkeiten teilgenommen und war bei zahlreichen Demonstrationen dabei. Somit ist er den vietnamesischen Sicherheitskräften bekannt, ist er als "Abweichler" und Dissident erfasst und registriert.
Hierbei ist es unter Berücksichtigung der gen. Richtlinie "unerheblich", ob der Kläger aufgrund seiner "Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung" in irgendeiner Weise "tätig geworden ist". Auch die politische Überzeugung Andersdenkender ist gem. Art. 10 der Richtlinie 2004/ 83/EG schon als solche geschützt, wobei hierzu jede Meinung zu jeder Angelegenheit zählt. Vgl. dazu die UNHCR-Richtlinie zum internationalen Schutz v. 7.5.2002 / HCR/GIP/ 02/01 Rdn. 32).
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubwürdig dargestellt, dass sein Engagement und seine Teilnahme an Demonstrationen (vgl. die diversen Bescheinigungen in den Akten und Beiakten) letztlich darauf abzielen, eine pluralistische Demokratie mit mehr Menschenrechten und mehr Freiheit nebst Medienfreiheit zu erreichen. Vor allem aber setzt er sich auch, da er Buddhist ist, für eine Religionsfreiheit in Vietnam ein. Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, dass all diese Tätigkeiten des Klägers in Vietnam als eine den kommunistischen Staat dort "zersetzende Propaganda" eingeschätzt werden dürfte.
Zu Recht ist der Kläger daher der Meinung, dass man ihm diese Aktivitäten bei einer Rückführung nach Vietnam vorhalten werde, er im Falle der Rückkehr inhaftiert und eingesperrt werde - zumal er schon früher als Bewohner des Grenzgebietes als unzuverlässig galt. Seine Zugehörigkeit zu exilpolitisch tätigen Organisationen (Verein der vietnamesischen Flüchtlinge in Hamburg e.V., Osteurop. Verein) ist bekannt (vgl. dazu das Verhör in Hannover v. 1.9.2003). Als überzeugter Anhänger einer demokratisch-freiheitlichen Gesellschaftsform ist er daher in einem sehr hohen Maße gefährdet.
6.9 Weiterer Anknüpfungspunkt für Verfolgungsmaßnahmen gegen den Kläger ist die Tatsache, dass es in Vietnam sog. "administrative Haftstrafen" auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2. 1999) gibt. Auch dieser Aspekt ist in den jüngeren Urteilen der Kammer dargestellt worden, so dass darauf verwiesen werden kann (vgl. z.B. Urt. v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -).
6.10 Aufgrund dieser vielschichtigen Situation Vietnams ist eine Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden nicht abzugeben - zumal ein politisch begründeter Entscheidungsspielraum einschließlich offener Willkür gegenüber unangepassten Andersdenkenden oder Oppositionellen bzw. solchen, die dafür nur gehalten werden, gerade bei Justizakten zum Staats- und Selbstverständnis Vietnams gehört. "An der Tatsache, dass die Justiz faktisch Partei und Staat unterstellt ist, hat die Reform jedoch nichts geändert" (Lagebericht v. 28.8.2005).
Demgemäss hat auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 22. Nov. 2005 - 2 BvR 1090/05 - den Vortrag der vietnamesischen Beschwerdeführerin zu einem gravierenden Mangel an Rechtsstaatlichkeit in Vietnam als entscheidungserheblich bewertet und u.a. ausgeführt:
"...Eine solche Prüfung ist geboten, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Beschwerdeführerin in Vietnam ein Verfahren droht, das gegen unabdingbare, von allen Rechtsstaaten anerkannte Grundsätze und damit gegen den völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard im Sinne des Art. 25 GG verstößt und die Tatverdachtsprüfung darüber Aufschluss geben kann (vgl. ...). Völkerrechtliche Mindeststandards könne auch verletzt sein, wenn im Strafverfahren eine Aussage als Beweis verwendet wird, die unter Folter erpresst wurde (vgl...). "
6.11 Auf die Rückführungsabkommen aus den 90er-Jahren kommt es heute nicht mehr an: Der Sachverständige Dr. Will hält an seiner Auffassung fest, dass Rückkehrer nach öffentlicher Kritik am vietnamesischen Regierungssystem in aller Regel auch mit Verfolgung rechnen müssen (vgl. Dr. Will im Gutachten v. 11.2.2003; vgl. auch Dr. Will v. 14.9. 2000, S. 1). Auch der Sachverständige Dr. Weggel (Stellungn. v. 10.8. 2003 an VG Darmstadt) ist der Ansicht, dass das Rückübernahmeabkommen von 1995 (nebst Briefwechsel) sich "als Schlag ins Wasser erwiesen" und die "vietnamesische Regierung der Rückführung jedes nur mögliche Hindernis in den Weg" gelegt habe.
Die "völkerrechtlichen Verpflichtungen" sind damit, da sie in Vietnam missachtet werden, bedeutungslos. Vgl. dazu ai-Jahresbericht 2003 u. Lagebericht des AA v. 1.4.2003: "Aushöhlung" des Dreierabkommens UNHCR-Vietnam-Kambodscha durch den vietnamesischen Staat, Vereinbarung eines "Memorandum of Understanding" (MOU) v. 25.1.2005 (Lagebericht AA v. 28.8.05).
Im Übrigen mag es sein, dass eine explizite Bestrafung speziell nur "wegen ungenehmigter Ausreise" in Vietnam nicht stattfindet, so wie das den Abkommen der 90er-Jahre zugrunde liegt. Jedoch werden Ausgrenzungs- und Verfolgungsmaßnahmen bis hin zu Strafen wegen abweichender Gesinnung, wegen Meinungsäußerungen, politischer Betätigung usw. durchaus ergriffen. Die Abkommen geben nichts für die Frage her, ob wegen anderer (exil-)politischer Betätigungen und wegen einer missliebigen Glaubenshaltung Bestrafungen erfolgen (so richtig VG Meiningen, Urt. v. 20.9. 2005 - 2 K 20124/04.Me -).
Unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände ist es daher prognostisch beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Vietnam "bedroht" ist (§ 60 Abs. 1 AufenthG). Er ist folglich als Flüchtling iSv § 3 AsylVfG anzuerkennen.
7. Eine Entscheidung zu Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 AufenthG kann im Hinblick auf die zuvor dargestellte Entscheidung zu § 60 Abs. 1 AufenthG unterbleiben (§ 31 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AsylVfG analog). Die Abschiebungsandrohung ist insoweit rechtswidrig, als eine Abschiebung nach Vietnam angedroht worden ist (§ 59 Abs. 3 AufenthG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.