Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 24.03.2006, Az.: 1 A 280/03

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
24.03.2006
Aktenzeichen
1 A 280/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 44602
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGLUENE:2006:0324.1A280.03.0A

Gründe

1

Aus dem Entscheidungstext

2

3.3 Der Kläger ist entgegen den Ausführungen im angefochtenen Bescheid auch glaubwürdig.

3

Hierbei ist zunächst zu berücksichtigen, dass es eine Beschränkung auf Strengbeweise in der VwGO nicht gibt, §§ 86 Abs. 1, 96 Abs. 1, 108 VwGO, es vielmehr auf das Gesamtergebnis des Verfahrens einschließlich bekannter Stellungnahmen - etwa von amnesty intern. oder der IGFM - ankommt und den eigenen Erklärungen der Kläger größere Bedeutung als sonst bei Parteibekundungen zuzumessen ist. Diese sind im Übrigen stets wohlwollend zu beurteilen. Vgl. dazu OVG Lüneburg, Beschl. v. 21.3. 1997 - 12 L 1595/97 - :

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"Der Asylsuchende ist aufgrund der ihm obliegenden Mitwirkungspflicht gehalten, die in seine Sphäre fallenden Umstände substantiiert und in sich stimmig zu schildern (BVerwG, Beschl. v. 30.10.1990 - BVerwG 9 C 72.89 -, Buchholz, aaO, Nr. 135). Das Gericht muß sich die feste Überzeugung vom Wahrheitsgehalt des Vorbringens verschaffen (BVerwG, Urt. v. 16.4.1985 - BVerwG 9 C 109.84 -,BVerwGE 71, 180 (181); Urt. v. 12.11.1985 - BVerwG 9 C 27.85 -, EZAR 630 Nr. 23). Allerdings ist der Lage des Asylbewerbers, der sich in der Regel in einem Beweisnotstand befindet, insoweit Rechnung zu tragen, daß den eigenen Erklärungen des Asylsuchenden größere Bedeutung beizumessen ist als dies üblicherweise in der Prozeßpraxis bei Bekundungen einer Partei geschieht, auch soll der Beweiswert der Aussage des Asylbewerbers im Rahmen des Möglichen wohlwollend beurteilt werden (siehe dazu BVerwG, Urt. v. 16.4.1985, aaO; Urt. v. 1.10.1985 - BVerwG 9 C 20.85 -, Buchholz, aaO, Nr. 37). Andererseits kann der Umstand, daß der Asylbewerber den Beweis einer zum Gesamtergebnis des zum Verfahrens gehörenden Tatsache vereitelt oder anderweitig unmöglich macht, ein bei der Überzeugungsbildung maßgeblicher Umstand sein.

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Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Asylsuchenden nur geglaubt werden, wenn diese Unstimmigkeiten überzeugend aufgelöst werden können (BVerwG, Urt. v. 16.4.1985, aa0; Urt. v. 23.2.1988 - BVerwG 9 C 32.87 -, EZAR 630 Nr. 25; siehe auch BVerfG - 1. Kammer des Zweiten Senats -, Beschl. v. 29.1.1991 - 2 BvR 1384/90 -, InfAuslR 1991, 171 (175) und Beschl. v. 12.3.1992 - 2 BvR 721/91 -, InfAuslR 1992, 231 (233))."

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Somit kann nicht jede Ungenauigkeit oder (geringfügige) Widersprüchlichkeit im Vortrag eines Asylbewerbers schon als Beleg für einen auch im Kern unglaubwürdigen Vortrag gewertet werden. Das gilt insbesondere für Zeitangaben und die genaue Zahl von Ereignissen, erst recht aber für Einzelheiten von Foltermaßnahmen. Aus diesbezüglichen Ungenauigkeiten kann nicht - wie im angefochtenen Bescheid - eine Unglaubwürdigkeit abgeleitet werden, vor allem dann nicht, wenn das vorgetragene Gesamtgeschehen sich in sonstige Erkenntnisse einfügt und im Abgleich zu anderen Informationsquellen als zutreffend angenommen werden kann. Erst dann, wenn die Tatsachenwidrigkeit und Widersprüchlichkeit den berechtigten Schluss zulässt, der Vortrag sei insgesamt nicht auf eigene Erlebnisse gestützt, kann von Unglaubwürdigkeit gesprochen werden (vgl. VG Braunschweig, Beschl. v. 5.3.2003 - 6 B 75/03 -; BGH NJW 1999, 1562, 1564).

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Belanglos ist im Rahmen der Glaubwürdigkeitsprüfung hier, dass beim Entscheider der Beklagten in Erwartung eines hohen "Detailreichtums" subjektiv offenbar der Eindruck der Unglaubhaftigkeit aufgekommen ist. Die bei der Anhörung vom 22.6.2001 in mehrfachen Nachfragen zum Ausdruck gelangte Erwartung, die Folterungen detailliert und genau beschreiben zu können, könnte nämlich deshalb nicht hinreichend erfüllt worden sein, weil diese Erwartung unter Berücksichtigung der erlittenen Schmerzen und der damit verbundenen Traumatisierung einfach "zu hoch gesteckt" gewesen sein könnte und daneben die nachvollziehbare Unfähigkeit des Klägers, über seine Folterungen in allen Einzelheiten berichten zu können, im Vordergrund gestanden haben dürfte (vgl. dazu S. 7/8 der Anhörung v. 22.6. 2001:"...ist im Kopf alles durcheinander" und "innerlich zittere ich"). Die vom Entscheider stammenden Vermerke zum Verhalten des Klägers bei dieser Anhörung ("Tonlage und erkennbare emotionale Verfassung", Fehlen von "Angst", "gedankenverlorenes Schauen", "entspannte" Erscheinung) lassen den Eindruck zu, dass der Entscheider von einer festen, auf oberflächlicher "Alltagspsychologie" gegründeten Vorstellung ausgegangen ist, wie man über Folterungen in rationaler Form möglichst detailliert zu berichten habe. Da der Kläger dieser Vorstellung jedoch nicht entsprach, wurden seine Schilderungen, die im Kern mit jenen übereinstimmen, die er bei seiner Anhörung am 24. März 2006 gemacht hat, als unglaubwürdig eingeschätzt.

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Die gebotene wohlwollende Bewertung der Angaben des Klägers unter Einbeziehung einer hier in Betracht zu ziehenden posttraumatischen Belastung hat damit nicht stattgefunden. Hierbei ist festzustellen, dass der Entscheider bei der Anhörung des Klägers wiederholt dagegen verstoßen hat, vorwurfsvolle Fragen nicht zu stellen, sondern derartige Fragen - etwa noch verbunden mit Vorhaltungen wie "allgemeine Schlagworte", "viel zu ungenau" - zu unterlassen (vgl. A. Wendler, Vernehmungslehre, Skriptum, S. 4; P.Menzel, Betrifft Justiz Nr. 66/ 2001, S. 76 ff, S. 78 m.w.N. zum "Aufeinandertreffen kulturell divergierender Kommunikationsmuster").

9

Bei der individuellen Prüfung aller Angaben des Kläger und deren Vergleich - unter Berücksichtigung seiner Mimik und Gestik - sowie ihrer allgemeinen und persönlichen Umstände ergibt sich, dass der Kläger sich um einen kohärenten und im Kern plausiblen Vortrag hinsichtlich seiner Erlebnisse einschließlich der Folterungen in Vietnam sowie außerdem seiner exilpolitischen Aktivitäten in Deutschland bemüht hat. Dabei hat er sich nicht gescheut, die "Komplikation" vorzutragen und zu erläutern, dass es sich bei seinem engen Verwandten nicht um seinen "Bruder", sondern "eigentlich" nur um einen "engen Verwandten", nämlich den Sohn seiner Tante - seinen "Cousin" - handele, den er lediglich immer als "Bruder" bezeichne (Nennbruder). Auf eine entsprechende "Glättung" und "Stimmigkeit" seines Vortrages, der an sich schon abgeschlossen war (nach Rückübersetzung, S. 9 der Anhörung), hat er verzichtet, was in ganz erheblichem Maße für seine Glaubwürdigkeit spricht (Bender/Nack, Glaubwürdigkeitslehre, 2. Aufl. 1995 m.w.N., Skript der Praktikerforschungsgruppe / Institut für Rechtstatsachenforschung an der Universität Konstanz, v. 24.4.2001).

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Zudem hat er - ohne Übertreibung, Verstärkung und etwa Aufbauschung seiner Tätigkeit - davon berichtet, dass er "nur geholfen habe", die Zeitschriften zu verteilen, was als deutliches Realkennzeichen für seine Glaubwürdigkeit insgesamt spricht. Auch seine Aussage, dass er "nur die Artikel" der Zeitschriften gelesen habe, "die mich interessierten" (S. 5 des Anhörungsprotokolls), spricht für die Glaubwürdigkeit des Klägers. Schließlich hat er ohne vordergründige Ergebnisorientierung oder dem Streben nach Chronologie oder aber Homogenität erst spät und nur zögernd darauf hingewiesen, dass er gefoltert worden sei (Anhörung v. 22.6. 2001, S. 6:"...warum haben Sie eben nichts davon erzählt, als Sie..." / Skript aaO., S. 13/14).

11

Seine Erlebnisse fügen sich im Übrigen zwanglos in die allgemeinen Berichte und journalistischen Nachrichten über die Zustände und Verhältnisse in Vietnam ein - einschließlich der bekannt gewordenen Folterungen in vietnamesischen Gefängnissen. Damit hat der Kläger bei wohlwollender Würdigung seiner Aussagen und Darlegungen einen kohärenten Vortrag unterbreitet, so dass insgesamt die Glaubwürdigkeit der Kläger festgestellt werden kann (Art. 4 Abs. 5 Richtlinie). Somit bedürfen die Angaben und Aussagen des Klägers, der in der mündlichen Verhandlung einen sehr überzeugenden Eindruck hinterließ, unter Berücksichtigung der gen. Richtlinie keines weitergehenden Nachweises mehr (Art. 4 Abs. 5 der gen. Richtlinie; vgl. BVerwGE 55, 82).

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3.4 Damit handelt es sich bei der exilpolitischen Betätigung des Klägers in Deutschland (vgl. Bl. 58 ff GA), die angesichts der Verteilung von politischen Zeitschriften und der dafür erlittenen Folterungen einer schon im Herkunftsland angelegten "Ausrichtung" (Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie) bzw. dort gewachsenen Überzeugung entspricht, nicht um einen (nachträglich) erst aus eigenem Entschluss geschaffenen subjektiven Nachfluchttatbestand iSv § 28 Abs. 1 AsylVfG, sondern vielmehr um eine Betätigung, welche sich auf eine "Überzeugung" (§ 28 Abs. 1 AsylVfG) bzw. "Ausrichtung" (Art. 5 Abs. 2 Richtlinie) gründet, die ersichtlich bereits in Vietnam ihre Wurzeln hat ("Ausdruck und Fortsetzung" einer entsprd. "Ausrichtung", Art. 5 Abs. 2). Zudem reagiert der vietnamesische Staat darauf anders - nämlich härter - als früher (Verwobensein objektiver und subjektiver Nachfluchtgründe).