Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 19.07.2001, Az.: 10 K 435/98 Ki
Aufhebung der Kindergeldfestsetzung; Rückforderung von Kindergeld; Pflicht zur Mitteilung der Änderung der Verhältnisse, die für Leistung erheblich
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 19.07.2001
- Aktenzeichen
- 10 K 435/98 Ki
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2001, 14629
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2001:0719.10K435.98KI.0A
Fundstellen
- EFG 2002, 31-33
- NWB 2001, 4068
Tatbestand
Streitig ist, ob der Beklagte die Kindergeldfestsetzung für die Tochter des Klägers rückwirkend aufheben und das in der Vergangenheit gewährte Kindergeld zurückfordern durfte. Gegenstand des Rechtsstreits ist der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 30.03.1998 in der Fassung des im Einspruchsverfahren geänderten Bescheides vom 04.06.1998 (Aufhebung und Rückforderung in Höhe von 2.640 DM für das Kalenderjahr 1998).
Der Kläger erhielt im streitgegenständlichen Jahr 1997 für seine über 21 Jahre alte Tochter Kindergeld, da diese nach einer der beklagten Familienkasse vorgelegten Ausbildungsbescheinigung vom 20.09.1996 am 16.09.1999 eine dreijährige Ausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation begonnen hatte. Da der Kläger nachfolgend keine Nachweise über die tatsächliche Fortdauer der Ausbildung und die erhaltene Ausbildungsvergütung vorlegte, hob der Beklagte mit Bescheid vom 30.03.1998 die Kindergeldfestsetzung, gestützt auf § 70 Abs. 2 Einkommensteuergesetz (EStG), wegen Änderung der Verhältnisse rückwirkend ab 10/1996 bis 12/1997 und für die Zukunft ab 1/1998 auf und forderte das in diesem Zeitraum noch ausgezahlte Kindergeld in Höhe von 3.240 DM gemäß § 37 Abs. 2 Abgabenordnung (AO) zurück.
Im Einspruchsverfahren stellte sich heraus, dass die Tochter aufgrund Kündigung durch den Ausbildungsbetrieb während der Probezeit die Ausbildung im Dezember 1996 abbrechen musste, bis April 1997 Sozialhilfe erhalten hatte, danach bis Juli inhaftiert war, erneut bis Oktober Sozialhilfe bezogen hatte und seit November in einem Arbeitsverhältnis stand. Da die Ausbildung erst im Dezember 1996 geendet hatte, änderte der Beklagte den angefochtenen Bescheid dahin, dass die Kindergeldfestsetzung erst mit Wirkung ab 1/1997 aufgehoben wurde und nur noch 2.640 DM zurückgefordert wurden. Im übrigen hatte der Einspruch keinen Erfolg.
Hiergegen richtet sich die Klage. Der Kläger meint, er habe für das gesamte Jahr 1997 noch Anspruch auf Kindergeld. Die Tochter habe zwar im Dezember 1996 ihre Ausbildung abgebrochen und auch nicht wieder fortgesetzt, vielmehr Sozialhilfe beantragt. Hierüber sei der Beklagte aber auch schon im Dezember 1996 informiert worden. Die Tochter selbst sei nämlich im Dezember 1996 beim Beklagten gewesen und habe sich arbeitslos melden wollen; ihr sei damals bedeutet worden, sie habe keine Ansprüche vom Arbeitsamt zu erwarten und müsse sich deshalb bei der Sozialhilfe melden. Außerdem sei das Kindergeld bei der Sozialhilfe der Tochter abgezogen worden. Aus seiner Sicht sei es damals unerheblich gewesen, ob er weiterhin Kindergeld erhalte und die Tochter weniger Sozialhilfe oder ob er kein Kindergeld erhalte, dafür die Tochter mehr Sozialhilfe. Da der Beklagte über die veränderten Verhältnisse rechtzeitig informiert gewesen sei, dürfe er, wenn er gleichwohl das Kindergeld weiter gezahlt habe, dieses nicht zurückfordern.
Der Kläger beantragt,
den angefochtenen Bescheid vom 04.06.1998 dahingehend zu ändern, dass die Aufhebung des Kindergeldes für den Zeitraum Januar 1997 bis Dezember 1997 rückgängig gemacht wird und entsprechend der Rückforderungsbetrag von 2.640 DM entfällt.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hält an der Begründung der Einspruchsentscheidung fest. Soweit der Kläger nunmehr noch auf die Folgewirkungen bei der seiner Tochter gewährten Sozialhilfe verweise, sei dieses unbeachtlich, weil es sich insoweit um einen anderen Leistungsträger handele. Im Übrigen ergebe sich aus den Akten kein Hinweis darauf, dass der Familienkasse der Abbruch der Ausbildung im Dezember 1996, wie der Kläger behauptet, auch schon zu diesem Zeitpunkt bekanntgeworden wäre.
Gründe
Die Klage ist unbegründet.
1.
Der Beklagte ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger für das hier streitige Kalenderjahr 1997 keinen Anspruch mehr auf Kindergeld für seine Tochter hatte.
Nach §§ 63 Abs. 1 Nr. 1, 32 Abs. 4 EStG wird ein Kind, welches das 18. Lebensjahr vollendet hat, bei der Zahlung von Kindergeld nur noch berücksichtigt, wenn die in § 32 Abs. 4 EStG geregelten besonderen Voraussetzungen vorliegen.
Hieran fehlt es, was zwischen den Beteiligten auch nicht streitig ist. So konnte die Tochter, da sie schon vor 1997 das 21. Lebensjahr vollendet hatte, nicht mehr als Arbeitslose berücksichtigt werden (§ 32 Abs. 4 Nr. 1 EStG); sie war auch weder in Ausbildung (§ 32 Abs. 4 Nr. 2 a) EStG), noch befand sie sich in einer Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten von höchstens vier Monaten (§ 32 Abs. 4 Nr. 2 b) EStG) noch konnte sie eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen (§ 32 Abs. 4 Nr. 2 c) EStG), da sie dieses nach Abbruch ihrer Ausbildung im Dezember 1996 nicht mehr ernsthaft beabsichtigte. Die weiteren Ausnahmetatbestände des § 32 Abs. 4 Nr. 2 d) EStG und § 32 Abs. 4 Nr. 3 EStG kommen offensichtlich nicht in Betracht.
2.
Entgegen der Auffassung des Klägers war der Beklagte auch berechtigt und zudem verpflichtet, die bisherige Kindergeldfestsetzung, die aufgrund des im September 1996 begonnenen Ausbildungsverhältnisses ergangen war, mit Wirkung ab Januar 1997, mithin rückwirkend, wieder aufzuheben.
a)
Denn nach § 70 Abs. 2 EStG ist, wenn sich die Verhältnisse, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sind, geändert haben, die Festsetzung des Kindergeldes mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben oder zu ändern. Durch den Abbruch der Ausbildung im Dezember 1996 ohne die konkrete Absicht, diese anderweitig fortzusetzen, hatten sich die für die Festsetzung des Kindergeldes erheblichen Verhältnisse geändert.
b)
Entgegen der Auffassung des Klägers ist die rückwirkende Änderung nach § 70 Abs. 2 EStG nicht etwa schon dann ausgeschlossen, wenn dem Arbeitsamt die Änderung der Verhältnisse zeitnah bekannt geworden sind, es aber nicht sogleich die Kindergeldfestsetzung aufhebt, sondern das Kindergeld zunächst noch längere Zeit, aus welchen Gründen auch immer, auszahlt.
Denn nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift ist die Aufhebung oder Änderung zwingend vorzunehmen, handelt es sich insoweit um eine gebundene Entscheidung; auch kommt es nicht auf ein etwaiges Verschulden der Familienkasse oder des Berechtigten an (allgemeine Meinung: Bergkemper in Herrmann-Heuer-Raupach, § 70 EStG, Anm. 13; Seewald-Felix, Kindergeldrecht, § 70 EStG, Rdn. 48; Berlebach, Familienleistungsausgleich, § 70 EStG, Rdn. 14). Zudem kann hinsichtlich des Behaltendürfens von Kindergeldzahlungen grundsätzlich ein Vertrauens- und Dispositionsschutz nicht entstehen, weil der Gesetzgeber demjenigen, der Kindergeld beantragt hat oder erhält, in § 68 Abs. 1 EStG die Pflicht auferlegt hat, Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich der zuständigen Familienkasse mitzuteilen (Seewald-Felix a.a.O.). Wer der ihm obliegenden Pflicht nicht nachkommt, genießt keinen Vertrauensschutz. Aber auch wer ihr nachkommt, muss gleichermaßen damit rechnen, dass aufgrund der veränderten Umstände ein Anspruch nicht mehr gegeben sein könnte.
Mit § 70 Abs. 2 EStG verfolgt der Gesetzgeber den Zweck, die Festsetzung des zutreffenden Kindergeldes sicherzustellen, räumt er der materiellen Richtigkeit Vorrang vor der Bestandskraft des Dauerverwaltungsakts der Kindergeldfestsetzung ein; sonst hätte es der Regelung des § 70 Abs. 2 EStG nicht bedurft und hätte die des § 70 Abs. 3 EStG ausgereicht, wonach materielle Fehler durch Änderung mit Wirkung ab dem auf die Bekanntgabe der Neufestsetzung oder Aufhebung der Festsetzung folgenden Monat beseitigt werden können.
Grundsätzlich ist mithin die Durchführung der nach § 70 Abs. 2 EStG zwingend vorgeschriebenen Änderung noch bis zum Ablauf der vierjährigen Festsetzungsfrist (§ 31 Satz 3 EStG in Verbindung mit §§ 155 Abs. 4, 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO) möglich.
Allerdings können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis als Ausfluss der Grundsätze von Treu und Glauben auch verwirken, wenn sich gerade die verspätete Rechtsausübung als illoyal und rechtsmissbräuchlich darstellt, wenn auch grundsätzlich die zeitliche Begrenzung von Ansprüchen durch die Verjährung bestimmt bleibt (vgl. Tipke/Kruse § 4 AO, Rdn. 67 ff). Selbst wenn der Beklagte trotz Kenntnis der veränderten Umstände noch etwa dreizehn Monate (Rückfrage vom 26.01.1998) untätig geblieben sein sollte, würde dieser Zeitablauf grundsätzlich nicht genügen, einen Vertrauenstatbestand zu schaffen, wonach der Kläger nicht mehr mit einer Aufhebung mit Wirkung ab Änderung der Verhältnisse hätte rechnen müssen. Verwirkung setzt regelmäßig jahrelanges Untätigbleiben des Berechtigten voraus.
Soweit einzelne Finanzgerichte hier in Anlehnung an die Frist des § 171 Abs. 8 AO - danach endet die Festsetzungsfrist, wenn die Festsetzung der Steuer nach § 165 AO ausgesetzt oder die Steuer vorläufig festgesetzt ist, nicht vor Ablauf eines Jahres, nachdem die Ungewissheit beseitigt ist und die Finanzbehörde hiervon Kenntnis erlangt hat (sog. Ablaufhemmung) - die Bildung eines zu berücksichtigenden Vertrauenstatbestandes bei Weiterzahlung des Kindergeldes über mehr als 1 Jahr für denkbar halten (jeweils in obiter dicta: Urteil des FG Köln vom 31.08.2000 2 K 4876/99, EFG 2000, 1394, zugleich mit Zweifeln, ob die bloße Weiterzahlung überhaupt einen Vertrauenstatbestand schaffen kann; Nds. FG Urteil vom 10.04.2001 6 K 810/98 Ki , zur Veröffentlichung freigegeben, vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen. Denn bei den Regelungen über die Ablaufhemmung hatte der Gesetzgeber abzuwägen, unter welchen besonderen Voraussetzungen und in welchem Umfang eine Verlängerung der Festsetzungsfrist gerechtfertigt ist, wohingegen es hier um eine mögliche Anspruchsbegrenzung während des Laufs der normalen Festsetzungsfrist geht. Die Vertrauenssituationen sind insofern nicht vergleichbar. Die Untätigkeit muss sich deshalb über mehrere Jahre erstrecken, wenn nicht weitere Umstände hinzukommen, die darauf hindeuten, dass ein Berechtigter seinen bestehenden Anspruch nicht geltend machen will. Eine entsprechende vertrauensbildende Verhaltensweise lässt sich indes allein aus der Weiterzahlung des Kindergeldes nicht ableiten. Hierin kommt kein besonderes vertrauensbildendes Verhalten gegenüber dem Kindergeldberechtigten zum Ausdruck, sondern der Rechtsnatur des Dauerverwaltungsakts entsprechend lediglich die bloße Untätigkeit der Familienkasse.
Der Senat kann deshalb offenlassen, ob die Tochter des Klägers tatsächlich schon im Dezember 1996 beim Arbeitsamt vorstellig gewesen ist und diesem deshalb schon seither bekannt war, dass sie ihre Ausbildung vorzeitig hatte abbrechen müssen und auch nicht die Absicht hatte, diese anderweitig fortzusetzen. Es kann deshalb ebenfalls offenbleiben, ob sich die für das Kindergeld zuständigen Familienkassen der Arbeitsämter die Kenntnis der für die übrigen Bereiche der Arbeitsämter, insbesondere der Abteilungen Arbeitsverwaltung und Berufsberatung, überhaupt zurechnen lassen müssen. Dagegen dürfte allerdings schon sprechen, dass derjenige, der Kindergeld beantragt oder erhält, nach § 68 Abs. 1 EStG Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich der zuständigen Familienkasse mitzuteilen hat, also nicht schlechthin irgendeiner Abteilung des Arbeitsamtes. Außerdem wird die zur Frage des nachträglichen Bekanntwerdens von Tatsachen zu § 173 AO ergangene Rechtsprechung heranzuziehen sein, wonach es auf die Kenntnis der zur Bearbeitung zuständigen Dienststelle ankommt und dieser nicht die Kenntnis anderer Dienststellen zuzurechnen ist (vgl. die Rechtsprechungshinweise bei Tipke/Kruse, § 173 AO, Rdn. 38).
3.
Der mit dem Aufhebungsbescheid verbundene Rückforderungsbescheid ist ebenfalls rechtmäßig. Denn aufgrund der rechtmäßigen Aufhebung der Kindergeldfestsetzung mit Wirkung ab Januar 1997 ist für die erfolgten Zahlungen in Höhe von 2.640 DM der Rechtsgrund nachträglich entfallen, hat mithin der Beklagte als Leistender gegen den Kläger als Leistungsempfänger gemäß § 37 Abs. 2 AO Anspruch auf Rückzahlung der Leistungen.
Darauf, dass die Tochter des Klägers nur eine um das Kindergeld gekürzte Sozialhilfe erhalten hat, kommt es entgegen der Auffassung des Klägers nicht an. Ansprüche auf Kindergeld und solche auf Sozialhilfe richten sich an verschiedene Leistungsträger, gegenüber denen im Streitfall zudem noch unterschiedliche Rechtswege gegeben sind. Eine etwaige Wechselwirkung kann deshalb nur aufgrund einer besonderen gesetzlichen Regelung Berücksichtigung finden, an der es indes fehlt.
4.
Soweit der Kläger schließlich noch auf seine derzeitige wirtschaftliche Lage verweist und seine Inanspruchnahme deshalb für unangemessen hält, erstrebt er eine Billigkeitsmaßnahme. Hierüber ist jedoch unabhängig davon, ob aus Billigkeitsgründen schon von der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung abgesehen werden soll (Billigkeitsmaßnahme nach § 31 Satz 3 EStG in Verbindung mit §§ 155 Abs. 4, 163 AO) oder lediglich der Erlass des zurückgeforderten Kindergeldes begehrt wird (Billigkeitsmaßnahme nach § 31 Satz 3 EStG in Verbindung mit §§ 37 Abs. 1, 227 AO) in einem von der Kindergeldfestsetzung und Rückforderung getrennten Verfahren durch einen eigenständigen Verwaltungsakt zu entscheiden, kann mithin nicht in diesem Verfahren befunden werden (zum Besteuerungsverfahren BFH-Urteil vom 18.11.1998 X R 110/95, BStBl II 1999, 225 unter 3.; zum Kindergeldverfahren BFH-Urteil vom 24.10.2000 VI R 65/99, BStBl II 2001, 109 unter 6.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.