Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 28.04.2022, Az.: 1 ME 146/21
Abänderungsantrag; aliud; Ersatzmaßnahme; Identität; Nachtragsbaugenehmigung; Naturraum; Tierhaltung, gewerbliche; Tierhaltung, landwirtschaftliche
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 28.04.2022
- Aktenzeichen
- 1 ME 146/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 59535
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 27.09.2021 - AZ: 4 B 815/20
Rechtsgrundlagen
- § 35 Abs 1 Nr 1 BauGB
- § 35 Abs 1 Nr 4 BauGB
- § 15 Abs 2 S 3 BNatSchG
- § 80 Abs 7 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Eine einem landwirtschaftlichen Betrieb dienende Tierhaltungsanlage ist gegenüber einer gewerblichen Tierhaltungsanlage auch bei im Übrigen gleichen Merkmalen ein mit dieser nicht identisches "aliud". Der Übergang von gewerblicher zu landwirtschaftlicher Tierhaltung kann daher nicht Gegenstand einer Nachtragsbaugenehmigung sein, sondern bedarf einer selbständigen Baugenehmigung.
Ist die ursprüngliche Baugenehmigung nach §§ 80, 80a VwGO außer Vollzug gesetzt, so rechtfertigt die Erteilung einer neuen selbständigen Baugenehmigung keine Entscheidung nach § 80 Abs. 7 VwGO.
Tenor:
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 4. Kammer (Einzelrichterin) - vom 27. September 2021 geändert. Der Abänderungsantrag der Antragstellerin wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 10.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt die Abänderung eines Senatsbeschlusses, mit dem dem Antragsgegner, einem nach § 3 UmwRG anerkannten Umweltschutzverband, vorläufiger Rechtsschutz gegen eine ihr erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Hähnchenmaststalls gewährt worden ist.
Am 19. September 2014 erteilte der Beigeladene der Antragstellerin eine Baugenehmigung für einen Hähnchenmaststall mit 29.745 Plätzen im Außenbereich der Gemeinde A-Stadt als gewerbliche Tierhaltungsanlage; Nachträge zu dieser Baugenehmigung, die Details der Anlage betreffen, datieren vom 10. Oktober 2017, 6. Februar 2018 und 5. März 2018. Über die dagegen nach erfolglosem Widerspruchsverfahren am 24. Mai 2017 erhobene Klage des Antragsgegners ist noch nicht entschieden.
Einen Antrag des Antragsgegners auf vorläufigen Rechtsschutz hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 13. April 2018 abgelehnt. Auf die Beschwerde des Antragsgegners hat der Senat mit Beschluss vom 4. September 2018 (1 ME 65/18) diesen Beschluss geändert und die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet. Zur Begründung hat er ausgeführt, das Vorhaben sei im Außenbereich nicht nach § 35 Abs. 1 Nr. 4 BauGB privilegiert und beeinträchtige öffentliche Belange.
Nachdem die Antragstellerin landwirtschaftliche Nutzflächen im Umfang von 83,66 ha nachgewiesen hatte, die als Futtergrundlage des Betriebes gemäß § 201 BauGB dienen könnten, erteilte der Beigeladene dieser unter dem 23. März 2020 eine „Nachtragsbaugenehmigung Nr. 4“ „für die Änderung vom gewerblichen zum landwirtschaftlichen Betrieb“, strich einige Hinweise aus der bisherigen Baugenehmigung und fügte neue Nebenbestimmungen und Hinweise hinzu.
Einem darauf von der Antragstellerin am 31. März 2020 gestellten Abänderungsantrag hat das Verwaltungsgericht stattgegeben und zur Begründung u.a. ausgeführt: Der Antrag sei nach § 80a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 80 Abs. 7 VwGO zulässig. Namentlich die Erteilung der Nachtragsgenehmigung Nr. 4 begründe eine nachträgliche Änderung verfahrensrelevanter Umstände; die Nachtragsgenehmigung modifiziere die ursprüngliche Baugenehmigung, ohne die Identität des Vorhabens aufzuheben. Der Abänderungsantrag sei auch begründet, denn nunmehr falle die im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotene Interessenabwägung zugunsten der Antragstellerin aus; das Vorhaben verletze voraussichtlich keine Vorschriften mehr, auf die sich der Antragsgegner berufen könne. Eine FFH-Verträglichkeitsprüfung sei nicht geboten gewesen, da die vorhabenbedingten Stickstoffdepositionen im ca. 1.300 m entfernten FFH-Gebiet 051 „F.“ unterhalb des „Abschneidekriteriums“ von 0,3 kg N/ha*a lägen. Bei solchen Einträgen ließen sich mangels Messbarkeit keine kausalen Zusammenhänge zwischen Emission und Deposition nachweisen. Eine FFH-Verträglichkeitsprüfung sei im Übrigen im Änderungsgenehmigungsverfahren vorsorglich mit dem Vorhaben günstigem Ergebnis durchgeführt worden; die Einwände des Antragsgegners erschütterten deren Plausibilität nicht. Die Baugenehmigung sei auch materiell rechtmäßig. Das Vorhaben sei nach § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB privilegiert; insbesondere könne mehr als die Hälfte des Futterbedarfs des Betriebes der Antragstellerin auf eigenen Flächen produziert werden. Die diesbezügliche Berechnung der Landwirtschaftskammer sei, gemessen an den überzeugenden Maßgaben des Nds. OVG (Beschl. v. 15.9.2020 - 12 ME 29/20 -, juris) nicht zu beanstanden. Das Vorhaben beeinträchtige keine öffentlichen Belange gemäß § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB. Es verursache keine schädlichen Umwelteinwirkungen durch Bioaerosole und keine erheblichen Nachteile für schützenswerte Wälder und Biotope in Gestalt von Ammoniakimmissionen bzw. Stickstoffeinträgen - letzteres deshalb, weil das Abschneidekriterium einer Stickstoffzusatzdeposition von max. 5 kg N/ha*a auf benachbarten Waldflächen eingehalten werde und es in allen Lebensraumtypen im Umfeld des Vorhabens zu einer Verbesserung der N-Deposition im Planzustand komme. Gegen § 15 Abs. 2 BNatSchG verstoße die Baugenehmigung ebenfalls nicht; die vorgesehenen Ersatzmaßnahmen seien ausreichend. Die ordnungsgemäße Beseitigung der Abwässer und die ordnungsgemäße Entsorgung der Abfälle seien nun dauerhaft gesichert.
II.
Die dagegen gerichtete Beschwerde, auf deren fristgerecht, d.h. bis einschließlich zum 29. Oktober 2021 vorgetragene Gründe sich die Prüfung des Senats gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt, hat Erfolg.
1.
Bereits der Einwand der Antragsteller, der Bescheid vom 23. März 2020 rechtfertige eine Abänderung des Senatsbeschlusses vom 4. September 2018 schon deshalb nicht, weil die darin genehmigten Modifikationen des Vorhabens keinen zulässigen Gegenstand einer Nachtragsbaugenehmigung darstellten, greift durch.
Zu den nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO berücksichtigungsfähigen "veränderten Umständen" zählt zwar eine Nachtragsbaugenehmigung, die dazu führt, dass die Ausgangsbaugenehmigung die gegen diese vorgehenden Dritten nicht mehr in ihren Rechten verletzt. Die Nachtragsgenehmigung ist allerdings nur dann ein "veränderter Umstand" im Sinne des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO, wenn sie keinen selbständig anfechtbaren Streitgegenstand, kein selbständiges (neues) Vorhaben betrifft. Sie kann dann nur zusammen mit der ursprünglichen Baugenehmigung angegriffen werden, der sie - genauso wie dem genehmigten Vorhaben - eine abschließende Gestalt gibt. Der Entscheidungsrahmen des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ist demgegenüber überschritten, wenn die „Nachtragsgenehmigung“ gegenüber dem ursprünglich genehmigten Vorhaben ein "aliud" zulässt (OVG NRW, Beschl. v. 16.11.2012 - 2 B 1095/12 -, juris Rn. 10, 12 m.w.N.; ebenso VGH BW, Beschl. v. 16.2.2016 - 3 S 2303/15 -, BauR 2016, 812 = juris Rn. 18 m.w.N.). Wird der Genehmigungsgegenstand in dieser Weise ausgetauscht, nicht modifiziert, so kann die neue Genehmigung nicht Gegenstand des auf die Ursprungsgenehmigung bezogenen gerichtlichen Eilverfahrens werden.
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist das Vorhaben, wie es sich nach der „Nachtragsbaugenehmigung Nr. 4“ vom 23. März 2020 darstellt, gegenüber dem ursprünglich genehmigten Vorhaben ein „aliud“ im vorbezeichneten Sinne. Der Umstand, dass, wie der Antragsteller und der Beigeladene ausführen, Standort, Gebäude, Statik, Inneneinrichtung, Tierart, Tierplatzzahlen sowie (vordergründig) Nutzungskonzept und Betriebsweise identisch bleiben, ändert nichts daran, dass das Vorhaben in seiner nunmehr zur Genehmigung gestellten, einem landwirtschaftlichen Betrieb dienenden Form nach den Kategorien des Bauplanungsrechts eine andere Funktion erfüllt als in seiner zunächst zur Genehmigung gestellten Form als gewerbliche Tierhaltungsanlage (zur Unterschiedlichkeit beider Nutzungsarten auch Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand d. Bearb. 136. EL Oktober 2019, § 35 Rn. 57f). Die Änderung seiner Funktion entzieht einem Vorhaben, auch bei Beibehaltung aller übrigen genehmigungsrelevanten Parameter, seine Identität (BVerwG, Urt. v. 15.11.1974 - IV C 32.71 -, BVerwGE 47, 185 = juris Rn. 12; v. 28.10.1983 - 4 C 70.78 -, NVwZ 1984, 510 = juris Rn. 6; v. 11.11.1988 - 4 C 50.87-, NVwZ-RR 1989, 340 = juris Rn. 19). Da Baukörper und Nutzung eine untrennbare Einheit bilden, ist die für eine gewerbliche Tierhaltung erteilte Ursprungsgenehmigung nicht in der Lage, auch nur für Teile des neuen Vorhabens (Anlage zur landwirtschaftlichen Tierhaltung) noch eine Rechtsgrundlage zu bilden; der Funktionswechsel erfordert es, die Genehmigungsfähigkeit des Vorhabens als Ganzes erneut in den Blick zu nehmen. Dass zahlreiche nicht auf die Art der baulichen Nutzung bezogene Vorschriften für beide Vorhaben parallel zu bewerten sind sowie dass bestimmte Nebenbestimmungen der Ursprungsgenehmigung auf beide Vorhaben „passen“ und daher in die neue Genehmigung aufgenommen werden können, ändert daran nichts.
Der Senat muss nicht entscheiden, ob die als Nachtragsgenehmigung bezeichnete Verwaltungsentscheidung - trotz des nach dem eindeutigen Tenor eng begrenzten Regelungsumfangs - in eine neue selbständige Baugenehmigung für das „aliud“ umgedeutet werden kann. Wäre dies der Fall, so wäre diese zunächst gemäß § 212a Abs. 1 BauGB sofort vollziehbar und müsste - sofern noch möglich - vom Antragsteller des Ursprungsverfahrens erneut mit Rechtsbehelfen nach §§ 80a, 80 Abs. 5 VwGO angegriffen werden (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 16.11.2012 - 2 B 1095/12 -, juris Rn. 10, 12 m.w.N.; VGH BW, Beschl. v. 16.2.2016 - 3 S 2303/15 -, BauR 2016, 812 = juris Rn. 18 m.w.N.). Mit Blick auf die Ursprungsgenehmigung würde dies nicht zur Zulässigkeit eines Antrags nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO führen. Dies gilt unabhängig davon, ob die Neugenehmigung selbständig neben die Ursprungsgenehmigung träte - dann änderte sie an deren Regelungsgehalt nichts, und es fehlte mit Blick auf sie an veränderten Umständen i.S.d. § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO - oder ob sie die Ursprungsgenehmigung ersetzen sollte, da der Antragstellerin dann das Rechtsschutzbedürfnis für eine neue Entscheidung über den Fortbestand der ersten Außervollzugsetzung fehlen würde.
2.
Eine Entscheidung über sämtliche weiteren Rügen des Antragsgegners, für die überwiegend die Beiziehung der vom Verwaltungsgericht nicht vorgelegten Verwaltungsvorgänge zur Ursprungsgenehmigung vom 19. September 2014 erforderlich wäre, bedarf es angesichts dessen nicht. Vorsorglich weist der Senat allerdings auf folgende zwei Punkte hin:
a) Ob das sog. Berggebäude in formell baurechtmäßiger Weise zur Zwischenlagerung des anfallenden Festmists genutzt werden kann, ist zweifelhaft. Ein etwaiger Bestandsschutz dürfte sich - unabhängig von der Frage, ob dieser allein aufgrund des Alters des Gebäudes vermutet werden kann und ob er nach Einstellung der Rinderhaltung im Jahr 1997 nach den im Senatsurteil vom 7. Oktober 2021 (- 1 KN 17/20 -, UPR 2022, 112 = juris Rn. 17 ff.) dargelegten Kriterien erloschen ist - ausschließlich auf die Nutzung des Gebäudes als Stall beziehen. Die möglicherweise formell legal betriebene Haltung von Rindern auf Festmist ist mit der Nutzung als reine Festmistlagerstätte nicht gleichzusetzen. Es hätte vor diesem Hintergrund nahegelegen, die Nutzungsänderung in das vorliegende Genehmigungsverfahren einzubeziehen und in diesem Zusammenhang auch seine bauliche Eignung für den neuen Zweck zu prüfen.
Sinngemäß Gleiches gilt für die Nutzung der Güllekanäle der Schweineställe 3 und 4 zur Zwischenlagerung des Reinigungswassers aus dem Geflügelstall.
b) Auch die Rüge des Antragsgegners, die Ersatzmaßnahmen für den mit dem Vorhaben verbundenen Eingriff in Natur und Landschaft seien entgegen § 15 Abs. 2 Satz 3 BNatSchG nicht im betroffenen Naturraum vorgesehen, hat Erhebliches für sich. Die Unterteilung Niedersachsens in Naturräumliche Regionen durch den NLWKN wurde gerade mit Blick auf die Anwendung des § 15 Abs. 2 Satz 3 BNatSchG vorgenommen (Drachenfels, Inform. d. Naturschutz Niedersachs. 2010, 249, vgl. auch https://www.nlwkn.niedersachsen.de/naturschutz/biotopschutz/naturraumliche_regionen/naturraeumliche-regionen-niedersachsens-93476.html) und dürfte den Begriff des „betroffenen Naturraums“ sachverständig konkretisieren. Ob diese Konkretisierung unter Hinweis auf die Ähnlichkeit und - relative - räumliche Nachbarschaft der Untereinheiten, in denen die nach der vorgenannten Kartierung nun einmal unterschiedlichen Naturräumen zugehörigen Standorte liegen, überwunden werden kann, ist eher zweifelhaft, jedenfalls aber nicht substantiiert dargelegt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 3, 162 Abs. 3 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 2, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).