Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 23.07.1993, Az.: 3 Sa 1369/92

Verteilung betrieblicher Risiken nach der Sphärentheorie als Ausfluss eines allgemeinen Arbeitnehmerschutzprinzips; Gedanke der sozialen Arbeits- und Betriebsgemeinschaft ; Inhalt und Anwendbarkeit der Sphärentheorie ; Anwendbarkeit allgemeiner schuldrechtlicher Grundsätze über den Annahmeverzug bei Zurechnung von Betriebsrisiken; Steuerbarkeit betrieblicher Risiken auf einem Schlachthof; Abdingbarkeit des § 615 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB)

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
23.07.1993
Aktenzeichen
3 Sa 1369/92
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1993, 10729
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:1993:0723.3SA1369.92.0A

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Lüneburg - 21.07.1992 - AZ: 2 Ca 822/92

Prozessführer

...

Prozessgegner

...

In dem Rechtsstreit
hat die 3. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 23. Juli 1993
durch
die Richter Frohner, Kurbjuweit und Wiemers
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Lüneburg vom 21.07.1992 - 2 Ca 822/92 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über restliche Vergütungsansprüche für die Zeit von Mai/Juni 1992.

2

Wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils.

3

Durch dieses Urteil vom 21.07.1992 hat die 2. Kammer des Arbeitsgerichts Lüneburg für Recht erkannt:

"Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 5.989,27 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den sich ergebenden Nettobetrag seit dem 06.07.1992 zu zahlen.

Die Kosten des Verfahrens werden dem Beklagten auferlegt.

Der Streitwert wird auf 5.989,27 DM festgesetzt."

4

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Entscheidungsgründe wiederum Bezug genommen.

5

Mit der Berufung verfolgt der Beklagte sein erstinstanzliches Abweisungsbegehren nach näherer Maßgabe seiner Berufungsbegründung vom 12.10.1992 weiter.

6

Der Beklagte beantragt nunmehr sinngemäß,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils, soweit der Klage stattgegeben worden ist, die Klage abzuweisen.

7

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

8

Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung nach Maßgabe ihrer Berufungserwiderung.

Entscheidungsgründe

9

Die Berufung des Beklagten ist unbegründet.

10

Der Klägerin stehen die geltend gemachten Zahlungsansprüche gemäß § 615 BGB unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs zu. Nachdem der Schlachtbetrieb im privaten Schlachtbetrieb der N. GmbH (N.) in ... mit dem 2. Mai 1992 tatsächlich eingestellt worden ist, befand sich der Beklagte unter dem Gesichtspunkt des Betriebsrisikos in Annahmeverzug.

11

Das Reichsgericht hatte in seiner Entscheidung zum "Kieler Straßenbahnerfall" vom 06.02.1923 (RGZ 106, 272, 275 ff.) die Auffassung vertreten, daß die Problematik der Lohnzahlung bei Betriebsstörungen mit den Mitteln der bürgerlich-rechtlichen Dogmatik nicht überzeugend gelöst werden könne. Man dürfe, um zu einer befriedigenden Lösung des Streites zu gelangen, überhaupt nicht von den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs ausgehen, sondern müsse den Gedanken der sozialen Arbeits- und Betriebsgemeinschaft zugrunde legen. Diese Auffassung nahm für die Regelung des sogenannten Betriebsrisikos eine Lücke im Gesetz an (vgl. auch BAGE 3, 346, 348) [BAG 08.02.1957 - 1 AZr 338/55], und entwickelte eine arbeitsrechtliche Lösung, die sogenannte Sphärentheorie (vgl. RAG Bensheimer Sammlung Bd. 3, 116 ff. ausführlich Biedenkopf, Die Betriebsrisikolehre als Beispiel richterlicher Rechtsfortbildung, 1970). Danach trägt der Arbeitgeber die Gefahr, wenn die Ereignisse, die die Arbeitsleistung unmöglich machen, aus dem Bereich des Unternehmens selbst, aus der von ihm beherrschten oder doch beeinflußten oder beeinflußbaren Gefahrenzone kommen (BAG AP Nr. 3 zu § 615 BGB, Betriebsrisiko; vgl. auch AP Nr. 15 zu § 615 BGB Betriebsrisiko). Es werden grundsätzlich alle Betriebsstörungen der Sphäre des Arbeitgebers zugerechnet, da er den Betrieb organisiert und den Gewinn daraus zieht (BAG AP Nr. 14 zu § 615 BGB, Betriebsrisiko; Der Betrieb 1981, 321). Der Arbeitgeber soll dieses sogenannte Betriebsrisiko grundsätzlich deswegen zu tragen haben, weil er qua Leitungsmacht den Betrieb organisiert und ihm auch die damit erwirtschafteten Gewinne zufallen (vgl. auch bereits BAG AP Nr. 2 zu § 615 BGB, Betriebsrisiko).

12

In der Literatur ist diese Risikotragung auch aus einem allgemeinen "Arbeitnehmerschutzprinzip" hergeleitet worden (Wiedemann, Arbeitsverhältnis, Seite 83 ff.; Kalb, Rechtsgrundlage und Reichweite der Betriebsrisikolehre, 1977, Seite 99 ff.).

13

Nach richtiger Auffassung stellt sich die Betriebsrisikotragung durch den Arbeitgeber bürgerlich-rechtlich wohl als ein Unterfall der Substratsgefahrtragung des Dienstherrn dar (dazu Picker, JZ 1979, 285, 290 ff., JZ 1985, 641, 695 ff.). Das Bürgerliche Gesetzbuch gibt keine ausdrückliche Regelung; ein Blick zurück in die Pandekten Wissenschaft des 19. Jahrhunderts zeigt freilich, daß die durch das Arbeitssubstrat bedingten Risiken der Arbeitgeber zu tragen hat. Dieses Rechtsprinzip ist zwar nicht in einem besonderen Rechtssatz niedergelegt worden. Es ist aber gleichwohl in das BGB rezitiert worden, weil die Gesetzesverfasser dem Annahmeverzug im Dienstvertrag eine weite Auslegung zugrunde gelegt hatten. Das Institut des Annahmeverzugs hat deshalb, wie Picker feststellt, "auch die Funktion, in Unmöglichkeitsfällen die Gefahr zu verlagern". Trotz einer Unmöglichkeit des Arbeitsvollzugs haben bei Betriebsstörungen die Arbeitnehmer den Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts nach § 615 BGB. Für die Richtigkeit dieser These spricht auch die Gefahrtragungsnorm in § 645 BGB, die zwar ausdrücklich nur für den Werkvertrag gilt, aber, worauf Söllner aufmerksam gemacht hat, bereits im Recht der auch das Arbeitsverhältnis umfassenden locatio conductio des gemeinen Rechts vorgezeichnet war und deshalb auch hier anwendbar ist (Söllner, AcP Band 167, 132, 141 ff., 143; vgl. auch Fabricius, Leistungsstörungen im Arbeitsverhältnis, 1970, Seite 72 f., 83; Richardi, ZfA 1974, 3, 14 f.; NJW 1987, 1231, 1234 f.). Von diesem Rechtsprinzip der Substratsgefahrtragung durch den Arbeitgeber ist auch bei der vorliegenden atypischen Sachverhaltsgestaltung auszugehen. Zwar hatte der Beklagte keine Möglichkeit, den privaten Schlachtbetrieb der N. zu organisieren, ihm sind auch die dort erwirtschafteten Gewinne nicht zugefallen. Auch die Stillegungsentscheidung ist nicht durch den Beklagten, sondern selbständig durch die N. getroffen worden. Diese Umstände rechtfertigen dennoch keine Durchbrechung der genannten Gefahrtragungsnorm. Wenn auch der Beklagte auf die Führung des Betriebes keinerlei Einflußmöglichkeit hatte, sondern lediglich, u.a. mit Hilfe der Klägerin, eine hoheitliche Aufgabe im Rahmen der Gesundheitsvorsorge, nämlich die Fleischbeschau, wahrzunehmen hatte, bestanden für den Beklagten durchaus Möglichkeiten, bestimmte Risiken zu "steuern". So hätte die Möglichkeit bestanden, vertraglich eine Regelung insoweit herbeizuführen, als die Stillegung des privaten Schlachthofs nur unter Einhaltung bestimmter Fristen hätte erfolgen können. Der Beklagte hätte auch neben der Möglichkeit, mit der N. eine vertragliche Vereinbarung für den Fall zu schließen, daß der Schlachtbetrieb eines Tages eingestellt werden sollte, unter Wahrung des Äquivalenzprinzips auch die Möglichkeit gehabt, die der N. für durchgeführte tatsächliche Fleischbeschau in Rechnung gestellten Gebühren so zu bemessen, daß irgendwelche wirtschaftlichen Risiken nicht vom Beklagten, sondern eben von dem Betreiber des privaten Schlachthofs hätten getragen werden müssen. Wenn der Beklagte von diesen Möglichkeiten keinen Gebrauch gemacht hat, rechtfertigt dies nicht, entgegen dem allgemeinen Rechtsprinzip im vorliegenden Fall das Risiko der Betriebsschließung auf die Klägerin zu verlagern.

14

Die Regelung des § 615 BGB zählt nicht zu den zwingenden gesetzlichen Bestimmungen (vgl. § 619 BGB), so daß abweichende Vereinbarungen unter Verteilung des Betriebsrisikos denkbar sind (BAG AP Nr. 16 zu § 615 BGB Betriebsrisiko). Eine solche liegt freilich weder einzelvertraglich noch tarifvertraglich vor. Selbst wenn man auch für den hier anwendbaren Tarifvertrag über die Regelung der Rechtsverhältnisse der Fleischbeschautierärzte, Fleischbeschauer und Trichinenschauer außerhalb öffentlicher Schlachthöfe vom 7. April 1969 mit späteren Änderungen eine Regelung des Inhalts entnehmen wollte, dem Arbeitgeber sei ein einseitiges Bestimmungsrecht hinsichtlich der Dauer der Arbeitszeit entsprechend dem Arbeitsanfall eingeräumt, so daß ein Vertrauensschutz in bezug auf eine bestimmte Mindestdauer der Arbeitszeit nicht begründet werden könne (vgl. Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 12.03.1992 - 6 AZR 311/90 - zum Tarifvertrag über die Regelung der Rechtsverhältnisse der nicht vollbeschäftigten amtlichen Tierärzte und Fleischkontrolleure in öffentlichen Schlachthöfen und in Einfuhruntersuchungsstellen vom 1. April 1969), so würde aus einer solchen Regelung nicht mit hinreichender Eindeutigkeit zu entnehmen sein, daß damit auch in Unmöglichkeitsfällen die Substratsgefahrtragung in vollem Umfange auf die Arbeitnehmer verlagert werden sollte. Es besteht ein Unterschied, ob der Arbeitnehmer/die Arbeitnehmerin gewisse Schwankungen hinsichtlich der Dauer seiner/ihrer Arbeitszeit tragen soll, oder ob in vollem Umfange das Lohnrisiko bei Betriebsstörungen auf ihn/sie übergehen soll.

15

Als Rechtsfolge ist gemäß § 615 BGB die Vergütung so zu leisten, als wären die Dienste tatsächlich erbracht worden. Damit erscheint es allerdings als gerechtfertigt, die Einschätzung des hypothetischen Geschehensverlaufs unter Einschluß einer vergangenheitsbezogenen Betrachtung vorzunehmen. Das Arbeitsgericht hat insoweit zutreffend darauf hingewiesen, daß die Tarifvertragsparteien des genannten, hier anwendbaren Tarifvertrags vom 7. April 1969 in zwei Fällen, in denen Anspruch auf Vergütung ohne tatsächliche Erbringung der Arbeitsleistung besteht, im Tarifvertrag eine bestimmte Berechnungsweise im Hinblick auf die erheblichen Schwankungen im Einkommen der betreffenden Arbeitnehmer für angemessen erachtet haben, und zwar dahingehend, daß als Krankenbezüge bzw. als Urlaubsvergütung für jeden Werktag 1/300 der Bezüge des vorangegangenen Kalenderjahres gezahlt werden (§§ 13 Abs. 3, 17 Abs. 2 Tarifvertrag). Insoweit sieht auch das Berufungsgericht eine analoge Anwendung der beiden Regelungsfälle auch auf den hier vorliegenden Sachverhalt des Annahmeverzugs als geboten an.

16

Der Beklagte hat die Kosten der Berufung gemäß § 97 ZPO zu tragen.

17

Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 Abs. 2 ArbGG.

18

Gegen dieses Urteil findet, wie sich aus der Urteilsformel ergibt, die Revision statt.