Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 29.07.1997, Az.: 5 U 46/97

Bemessung der Mehrbedarfsrente nach einer fehlerhaften Hüftgelenksoperation; Anforderungen an die Überwachung einer Anfängeroperation; Anforderungen an den Entlastungsbeweis bei Operationen; Berücksichtigung des Übergewichts des Anspruchsstellers bei der Berechnung der Minderung der Erwerbstätigkeit

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
29.07.1997
Aktenzeichen
5 U 46/97
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1997, 21711
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:1997:0729.5U46.97.0A

Fundstellen

  • KHuR 2001, 127-128
  • MDR 1998, 47 (Volltext mit red. LS)
  • OLGReport Gerichtsort 1998, 35-37
  • VersR 1998, 1380-1381 (Volltext mit amtl. LS)

Amtlicher Leitsatz

Aufsichtsbereitschaft und Aufsichtsfähigkeit bei sog. Anfängeroperationen; Anforderungen an den Entlastungsbeweis; Mehrbedarfsrente ist nicht nach der abstrakten MdE zu bemessen.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt Schmerzensgeld und eine Mehrbedarfsrente wegen einer fehlerhaft durchgeführten Hüftgelenksoperation.

2

Am 6.8.1992 wurde die damals 67 Jahre alte Klägerin in dem von dem Beklagten zu 1) getragenen Krankenhaus durch den in der Weiterbildungszeit befindlichen Beklagten zu 3) unter Assistenz eines Oberarztes (des früheren Beklagten zu 2) wegen einer Coxarthrose links durch Versorgung mit einer Endoprothese operiert. Dabei kam es infolge nicht fachgerechter Einbringung des um die Hüftgelenkspfanne geführten Operationshakens durch den Beklagten zu 3) zu einer Verletzung der Femoralarterie und des Nervus femoralis. Während die Gefäßschädigung nach einer End-zu-Endanastomose folgenlos verheilte, ist die Nervschädigung irreparabel. Die Klägerin ist dadurch nicht mehr in der Lage, den Oberschenkel zu bewegen und aus liegender Stellung den Oberkörper aufzurichten. Das Einsinken der Knie beim Stehen und Gehen kann sie nur durch Vorneigung des Rumpfes vermeiden. Sie kann nicht mehr Treppensteigen und nicht mehr ohne Unterarmstützen gehen. Sie leidet unter dauernden Schmerzen und ist außer Haus auf einen Rollstuhl angewiesen. Im Haushalt und beim An- und Auskleiden bedarf sie fremder Hilfe.

3

Die Beklagten haben eingewandt, dass bei der Berechnung des Mehrbedarfs das anlagebedingte Übergewicht der Klägerin berücksichtigt werden müsse. Bei ordnungsgemäßem Operationsverlauf wäre bei der Klägerin eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 25 % zurückgeblieben. Angesichts der vom Schlichtungsgutachter angenommenen 50 % MdE deckten die Rentenzahlung von 400,- DM im Monat den operationsbedingten Mehrbedarf ab.

4

Das Landgericht hat sachverständig beraten die Klage gegen den Oberarzt abgewiesen, sei unwidersprochen nicht in der Lage gewesen, den Fehler des Beklagten zu 3) zu verhindern, da das Operationsfeld für ihn nicht einsehbar gewesen sei. Gegen die Beklagten zu 1) und 3) hat es dem Schmerzensgeldbegehren in vollem Umfang und dem Rentenverlangen unter Abzug der freiwilligen Rentenzahlungen und der Leistungen aus der Pflegeversicherung von dem vollen Mehrbedarfsbetrag i.H.v. 28.400,00 DM stattgegeben, da die Klägerin allein praktisch nicht mehr zurecht komme.

Entscheidungsgründe

5

Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.

6

Das haftungsbegründende Fehlverhalten des Beklagten zu 3) durch nicht fachgerechte Einbringung der Operationshaken ist außer Streit. Dagegen ist auch sonst nichts zu erinnern.

7

Das Landgericht hat im Ergebnis zu Recht angenommen, dass auch der Krankenhausträger neben dem Beklagten zu 3) zum Ausgleich der dadurch entstandenen immateriellen und materiellen Schäden der Klägerin verpflichtet ist (§§ 831, 843, 847 BGB). Die dagegen und gegen die Höhe der Mehrbedarfsrente gerichteten Angriffe der Berufung greifen insgesamt nicht durch.

8

Allerdings ist der Senat im Gegensatz zum Landgericht der Auffassung, dass der Beklagte zu 1) bereits wegen unzureichender Aufsichtsführung des früheren Beklagten zu 2) zum Schadensersatz verpflichtet ist. Der operierende Arzt - der Beklagte zu 3) - befand sich noch in der Weiterbildung und war daher allein noch nicht in der Lage, den geschuldeten guten fachärztlichen Behandlungsstandard zu gewährleisten. Die mit der Notwendigkeit einer Weiterbildung zum Arzt mit einer Gebietsbezeichnung durch Sammeln und Erlernen von Fachkenntnissen und -erfahrungen verbundenen Risiken bei sogenannten Anfängeroperationen sind keinesfalls von den Patienten zu tragen. Diese Gefahren müssen durch besondere Vorkehrungen neutralisiert werden. Damit korrespondiert, dass auch über die Beteiligung eines so auszubildenden Arztes nicht aufgeklärt werden muss, da die Behandlungsqualität bei richtigem Vorgehen nicht verkürzt wird (vgl. dazu insgesamt Steffen, Neue Entwicklungslinien der BGH-Rechtsprechung zum Arzthaftungsrecht, 6. Aufl., Seite 113 ff, 114, 117 m.v.w.N.). Operiert der Auszubildende selbst, muss grundsätzlich durchgängig Anwesenheit und Eingriffsbereitschaft sowie Korrekturmöglichkeit bei sich anbahnenden schadensträchtigen Fehlleistungen durch eine Assistenz des aufsichtsführenden erfahrenen Facharztes gegeben sein, solange nicht feststeht, dass der Auszubildende die Operation auch praktisch beherrscht.

9

Diesen Anforderungen ist nach dem Vorbringen der Beklagten nicht genügt worden. So entlastet es den früheren Beklagten zu 2) allein nicht, dass er mangels Einsehbarkeit des Operationsfeldes die Nervschädigung nicht habe verhindern können. Es fehlt jede erklärende Angabe dazu, welche Vorkehrungen gegen Fehlleistungen mit so gravierenden Schadensfolgen bei Freilegung und Offenhalten des eigentlichen Operationsfeldes durch Operationshaken getroffen worden sind. Der bloße Hinweis, das Operationsfeld sei verdeckt gewesen, rechtfertigt es nicht, diese Risiken den Patienten als von ihm hinzunehmende zu überbürden. Kann die ständige Eingriffsbereitschaft und -fähigkeit des Aufsichtsführenden aus operationstechnischen Gründen nicht sichergestellt und dieser Mangel auch nicht auf andere Weise ausgeglichen werden, so muss auf diese Art der Operation durch einen Anfänger verzichtet werden. Die unzureichende Beaufsichtigung, von der hier daher auszugehen ist, begründet einen Behandlungsfehler, der dem behandlungsführenden Arzt und dem Krankenhausträger als Organisations- und Aufsichtsverschulden zuzurechnen ist.

10

Der Beklagte zu 1) vermag sich auch nicht durch die Behauptung zu entlasten, der Beklagte zu 3) habe bereits 12 Operationen dieser Art fehlerfrei vorgenommen. Die Rechtsprechung stellt hohe Anforderungen an den Entlastungsnachweis bei der auch für die Qualifikationsfrage bestehenden Verschuldensvermutung des § 831 BGB (Steffen a.a.O., Seite 119). Insbesondere ist eine vorausgehende Kontrolle des theoretischen Wissens des Auszubildenden über das Behandlungsfeld, die zu erwartenden Komplikationen und ihre Begegnung zu verlangen und bezieht mithin auch die hier betroffene Eröffnung des Operationsfeldes mit ein. Die erforderlichen Angaben über den theoretischen und praktischen Ausbildungs- und Wissensstandes des Beklagten zu 3) und ihre Kontrollen werden durch den bloßen Hinweis, er beherrsche nach 12 durchgeführten Operationen diesen Eingriff, nicht ersetzt. Auch insoweit ist von einem dem Krankenhausträger zuzurechnenden Behandlungsfehler über ein entsprechendes Organisations- und Aufsichtsverschulden auszugehen, der ihn zum Ausgleich der immateriellen und materiellen Schäden gem. §§ 847, 843 BGB verpflichtet.

11

Die Angriffe der Berufung gegen die zuerkannte Höhe der Mehrbedarfsrente wegen Unterschreitens des erforderlichen Prozentsatzes der Minderung der Erwerbsfähigkeit übersieht, dass sich die Höhe der Rente wegen Vermehrung der Bedürfnisse gem. § 843 Abs. 1 2. Alternative BGB nicht nach einem abstrakten Beeinträchtigungssatz richtet, sondern nach den konkret erforderlichen verletzungsbedingten Mehraufwendungen (vgl. statt aller nur Palandt/Thomas, BGB, 56. Aufl., § 843 Rn. 3 und 5). Die Beklagten haben aber die vom Landgericht fehlerfrei getroffenen Feststellungen, wonach die Klägerin infolge der Nervschädigung nicht mehr ohne Hilfe anderer zurecht kommt, was insbesondere für den Haushalt und ihre weitere eigene persönliche Versorgung in und außerhalb des Hauses gilt, nicht angegriffen. Danach sind Abstriche von dem unstreitigen Höchstsatz der Mehrbedarfsrente nicht zu rechtfertigen. dass der Klägerin bei gelungener Operation eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 25 % zuerkannt worden wäre, sie übergewichtig ist und ein altes Haus mit großem Garten zu versorgen hat, erlaubt bereits deswegen keine Anspruchsminderung, da die vermehrten Bedürfnisse, zu deren Ausgleich die Rentenzahlungen erfolgen sollen, dadurch nicht mit ausgelöst werden. Verletzungsbedingte Erhöhungen der Bedürfnisse hat der Schädiger aber grundsätzlich so auszugleichen, wie sie nach den Gegebenheiten der jeweiligen Situation des Geschädigten anfallen.