Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 03.04.2002, Az.: 8 B 144/02
Annehmbarkeit einer offensichtlichen Unbegründetheit eines Asylantrags bei einer gefestigten und hinreichend aktuellen obergerichtliche Rechtsprechung über das Bestehen inländischer Fluchtalternativen; Annehmbarkeit einer offensichtlichen Unbegründetheit eines Asylantrags bei neueren und eindeutigen sowie widerspruchsfreien Auskünften sachverständiger Stellen zu inländischen Fluchtalternativen
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 03.04.2002
- Aktenzeichen
- 8 B 144/02
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2002, 30656
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGBRAUN:2002:0403.8B144.02.0A
Rechtsgrundlagen
- § 30 AsylVfG
- § 36 Abs. 4 S. 1 AsylVfG
- § 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG
- § 51 Abs. 1 AuslG
Fundstellen
- NVwZ 2002, 102-103
- NVwZ (Beilage) 2002, 102-103 (Volltext mit red. LS)
Verfahrensgegenstand
Asyl, §§ 51, 53 AuslG, Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung
In der Verwaltungsrechtssache
...
hat das Verwaltungsgericht Braunschweig - 8. Kammer -
am 3. April 2002
durch
den Einzelrichter ...
beschlossen:
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 27. März 2002 - 8 A 143/02 - gegen die Abschiebungsandrohung in dem Bescheid des Bundesamtes vom 15. März 2002 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.
Gründe
Der zulässige Eilantrag ist begründet, weil zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylVfG) ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen (§ 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG).
Die Ablehnung des Antrags auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG als offensichtlich unbegründet ist weder gemäß § 30 Abs. 1 AsylVfG noch nach § 30 Abs. 2 AsylVfG gerechtfertigt.
Die Antragsgegnerin selbst verneint das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG trotz einer von ihr eingeräumten "allgemein schwierigen Lage" und "fehlenden Sicherheit in Tschetschenien" lediglich unter Hinweis auf das Vorhandensein einer inländischen Fluchtalternative in der Russischen Föderation. Sie geht daher wohl - und dies ist hier nicht zu beanstanden - von dem Bestehen einer asylrelevanten kollektiven Verfolgungssituation für Tschetschenen in Tschetschenien aus, sei es in Gestalt einer regionalen Gruppenverfolgung, sei es in Form einer örtlich begrenzten Verfolgung (zur Begrifflichkeit vgl.: BVerwG, Urt. v. 9. 9. 1997 - BVerwG 9 C 43.96 -, NVwZ 1999, 388). Hiernach könnte jedoch eine qualifizierte Ablehnung des Antrags auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG grundsätzlich nur dann noch auf § 30 Abs. 1 AsylVfG gestützt werden, wenn entweder eine gefestigte und hinreichend aktuelle obergerichtliche Rechtsprechung des Inhalts vorläge, dass Tschetschenen aus Tschetschenien in der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative offen steht, oder zumindest neuere eindeutige und widerspruchsfreie Auskünfte sachverständiger Stellen einen solchen Schluss zuließen (vgl. Marx, AsylVfG, 4. Aufl., § 30 RN 16; Stumpe in: Hailbronner, AuslR, Stand: September 2001, § 30 RN 25, jeweils m. z. w. N.). Der angegriffene Bescheid führt jedoch weder eine gefestigte ober gerichtliche Rechtsprechung des genannten Inhalts an, noch vermag er sich auf eine eindeutige und widerspruchsfreieErkenntnislage zu stützen. Vielmehr liegt dem erkennenden Gericht auch neueres Erkenntnismaterial vor, das Zweifel daran zu erwecken vermag, ob Tschetschenen nach den Ereignissen des 11. September 2001 in der Russischen Föderation über eine inländische Fluchtalternative verfügen (vgl. namentlich: ai, Auskunft vom 20. 02. 02. an das VG Braunschweig [Gesch.-Z der Bekl.: 2 633 149 - 160]). Jedenfalls sieht die Kammer diese Problematik noch nicht als in einem das Offensichtlichkeitsurteil der Beklagten rechtfertigenden Sinne geklärt an. Dazu, ob zumindest die Antragstellerinnen gerade des vorliegenden Einzelfalls die Möglichkeit hatten und haben, in Slipzovsk, Inguschetien, wo sie sich einen Monat aufhielten, eine dauerhafte Zuflucht zu finden, sind in dem Verwaltungsverfahren genügende tatsächliche Feststellungen nicht getroffen worden (vgl. § 36 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG).
Auf § 30 Abs. 2 AsylVfG lässt sich das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes schließlich schon deshalb nicht stützen, weil die Antragstellerinnen erkennbar auch vor der "allgemein schwierigen Lage" in Tschetschenien geflohen sind und eine Würdigung der dortigen Verhältnisse als eine sich nicht in kriegerischen Auseinandersetzungen erschöpfende Situation politischer Verfolgung der Tschetschenen nicht fernliegend erscheint (vgl. Marx, a.a.O., § 30 RN 50 f.).
Die Antragsgegnerin trägt nach § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden gemäß § 83b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben.