Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 10.04.2002, Az.: 3 B 48/02

Bedarfsberechnung; Einsatzgemeinschaft; Getrenntleben; Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
10.04.2002
Aktenzeichen
3 B 48/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2002, 41610
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Ein Getrenntleben i.S.v. § 11 Abs. 1 S. 2 BSHG setzt voraus, dass nicht gemeinsam gewirtschaftet wird und mindestens einem Ehegatten für Außenstehende erkennbar der Wille zur Fortsetzung der Lebensgemeinschaft fehlt. - Eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft liegt vor, wenn in den Not- und Wechselfällen des Lebens füreinander eingestanden wird.

Tenor:

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.

Gründe

1

I. Der Antragsteller begehrt laufende Hilfe nach dem BSHG ohne Berücksichtigung der Einkünfte seiner Ehefrau.

2

Er lebt seit Jahren mit seiner Ehefrau in einer Wohnung zusammen und erhielt unter Berücksichtigung der seiner Ehefrau bewilligten Arbeitslosenhilfeleistungen ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt seitens des Antragsgegners. Im Oktober 2001 stellte der Antragsgegner fest, dass die Ehefrau des Antragstellers ohne seine Kenntnis in den letzten drei Monaten zwischen 168,00 DM und 264,00 DM verdient hatte. Mit Schreiben vom 12.10.2001 wies er den Antragsteller darauf hin, dass ab November vorsorglich ein Betrag in Höhe von 300,00 DM als fiktives Einkommen bei der Berechnung der Sozialhilfeleistungen berücksichtigt werde, bis der tatsächliche Verdienst der Ehefrau nachgewiesen werde. Mit Schreiben vom 04.11.2001 legte der Antragsteller "Widerspruch" gegen die Berücksichtigung fiktiven Einkommens ein und teilte mit, dass er seit Oktober 2001 (in der alten Wohnung) von seiner Frau getrennt lebe. Er beantrage daher Neuberechnung der Hilfe zum Lebensunterhalt.

3

Am 27.11.2001 wurde seitens des Antragsgegners ein Hausbesuch zur Prüfung des ehelichen Getrenntlebens durchgeführt. Wegen des Ergebnisses wird auf das Protokoll vom 27.11.2001 (Bl. 99 der Beiakte) verwiesen. Danach ging der Antragsgegner weiterhin davon aus, dass ein Getrenntleben nicht vorliege. Gegen weitere Zahlungen der laufenden Hilfe legte der Antragsteller ebenfalls Widerspruch ein.

4

Am 22.01.2002 beantragte der Antragsteller beim erkennenden Gericht, ihm die vollständige Hilfe zum Lebensunterhalt rückwirkend ab November 2001 im Wege einer einstweiligen Anordnung auszuzahlen (3 B 17/02). Er wies darauf hin, dass er seit 02.10.2001 offiziell von seiner Ehefrau getrennt lebe und ihm die Sozialhilfe zu Unrecht monatlich immer weiter gekürzt werde. Im Rahmen dieses Verfahrens teilte der Antragsgegner mit Schriftsatz vom 07.02.2002 mit, dass die Kriminalpolizei W. im Januar 2002 beim Antragsteller eine Wohnungsdurchsuchung vorgenommen habe. Auch die dort gemachten Feststellungen hätten zu der Erkenntnis geführt, dass der Antragsteller nicht tatsächlich von seiner Ehefrau in der Wohnung getrennt lebe. Mit Beschluss vom 13.02.2002 wurde der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen. Zur Begründung verwies das erkennende Gericht darauf, dass der Antragsteller im Rahmen der nur zulässigen summarischen Prüfung nicht glaubhaft gemacht habe, im Sinne von § 11 Abs. 1 Satz 2 BSHG von seiner Frau getrennt zu leben.

5

Mit Schriftsatz vom 02.03.2002 beantragte der Antragsteller die Abänderung des Beschlusses vom 13.02.2002. Zur Begründung trug er vor, er habe keine Gelegenheit gehabt, sich zu dem Schriftsatz des Antragsgegners vom 07.02.2002, den er erst mit dem Beschluss vom 13.02.2002 erhalten habe, zu äußern. Die dort aufgestellten Behauptungen entsprächen nicht der Wahrheit.

6

Der Antragsteller beantragt,

7

ihm im Wege der Abänderung des Beschlusses vom 13.02.2002 zum Az. 3 B 17/02 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt ohne Berücksichtigung der Einkünfte seiner Ehefrau zu bewilligen.

8

Der Antragsgegner beantragt,

9

den Antrag zurückzuweisen.

10

Er verweist darauf, dass sich die Umstände zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtes am 13.02.2002 nicht ohne Verschulden des Antragstellers geändert hätten.

11

Die Kammer hat Beweis durch Vernehmung der Zeugin R. im Rahmen eines Erörterungstermins vor der Berichterstatterin als beauftragter Richterin erhoben. Insoweit wird auf das Protokoll des Erörterungstermins vom 03.04.2002 (Bl. 147 ff.) Bezug genommen.

12

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte im vorliegenden Verfahren sowie in den Verfahren 3 B 17/02 und 3 A 42/02 und die dort beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Sie waren Gegenstand der Beratung.

13

II. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO hat keinen Erfolg. Es kann dahinstehen, ob der Antrag, mit dem der Antragsteller sinngemäß die Verpflichtung des Antragsgegners zur Bewilligung höherer laufender Hilfe nach dem BSHG im Wege der einstweiligen Anordnung und unter Abänderung des Beschlusses der Kammer vom 13.02.2002 begehrt, in Anwendung des Rechtsgedankens aus § 80 Abs. 7 VwGO im vorliegenden Fall zulässig ist. Jedenfalls ist er unbegründet.

14

Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen werden, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Regelungsanordnung). Da nach Sinn und Zweck des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens die vorläufige Regelung grundsätzlich die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen darf, kann eine Verpflichtung zur Zahlung und Übernahme von Geldleistungen, wie sie im vorliegenden Fall begehrt wird, im einstweiligen Anordnungsverfahren in der Regel nur ausgesprochen werden, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen für einen entsprechenden Anspruch (Anordnungsanspruch) glaubhaft gemacht sind und weiterhin glaubhaft gemacht wird, dass die begehrte Hilfe aus existenzsichernden Gründen so dringend notwendig ist, dass der Anspruch mit gerichtlicher Hilfe sofort befriedigt werden muss und es deshalb nicht zumutbar ist, den Ausgang eines Hauptsacheverfahrens abzuwarten (Anordnungsgrund).

15

Der Antragsteller hat auch im vorliegenden Verfahren nicht glaubhaft gemacht, dass er einen Anspruch auf Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt hat, ohne dass gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 BSHG das Einkommen seiner Ehefrau in die Bedarfsberechnung direkt einbezogen wird.

16

Gemäß § 11 BSHG ist Hilfe zum Lebensunterhalt demjenigen zu gewähren, der seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften, vor allem aus seinem Einkommen und Vermögen, beschaffen kann. Bei nicht getrennt lebenden Ehegatten sind das Einkommen und das Vermögen beider Ehegatten zu berücksichtigen. Hintergrund dieser gesetzlichen Regelung ist, dass im Rahmen einer bestehenden Ehe das Vorliegen einer sogenannten Einsatzgemeinschaft zwischen den Eheleuten, d.h. eine die Beziehung prägende Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft, grundsätzlich angenommen wird (vgl. BVerfG, Entscheidung v. 17.11.1992 - 1 BvL 8/87 -, BVerfGE 87, 234, 264). Diese Beziehung rechtfertigt es, den sozialhilferechtlichen Bedarf beider Personen dem gemeinsamen Einkommen gegenüberzustellen bzw. das lediglich einem Ehegatten zufließende Einkommen auch auf den Bedarf des einkommenslosen Ehepartners anzurechnen.

17

Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, dass diese von § 11 Abs. 1 Satz 2 BSHG vorausgesetzte Einsatzgemeinschaft zwischen ihm und seiner Ehefrau derzeit nicht besteht, d.h. er von seiner Ehefrau getrennt lebt. Ein Getrenntleben im Sinne dieser Vorschrift setzt ein völliges Getrenntsein im ehelichen Leben, im Haushalt und in der Wirtschaftsführung voraus, auf Dauer auch die räumliche Trennung (vgl. Fichtner, BSHG: § 11 Rn. 19). Es darf nicht gemeinsam gewirtschaftet werden und es muss sich aus den Gesamtumständen ergeben, dass mindestens einem Ehegatten der Wille zur Fortsetzung der Lebensgemeinschaft fehlt (vgl. B. d. erk. Gerichts v. 21.02.2000 - 3 B 712/99 -). Dieser Wille muss nach außen erkennbar sein, d.h. die Lebensverhältnisse müssen für Außenstehende sichtbar entsprechend verändert worden sein. Getrenntes Schlafen und getrenntes Essen reichen insoweit regelmäßig nicht aus, wenn die Ehegatten nach der behaupteten Trennung weiterhin in der Ehewohnung leben (vgl. OVG Lüneburg, B. v. 04.11.1987 - 4 B 352/87 -, FEVS 37, 324 ff.).

18

Nach dem Inhalt der Akten, den Ausführungen des Antragstellers im Erörterungstermin sowie der Aussage der Ehefrau des Antragstellers als Zeugin haben die nicht wirksam geschiedenen Eheleute ihre Lebensverhältnisse nicht in einer Weise verändert, die für einen Außenstehenden erkennbar werden lässt, dass mindestens einer der Ehepartner nicht mehr mit dem anderen zusammenleben will. Die von der Zeugin R. glaubhaft geschilderte und vom Antragsteller im Wesentlichen nicht bestrittene derzeitige Beziehung zwischen den Eheleuten rechtfertigt nach wie vor die Annahme einer oben beschriebenen Einsatzgemeinschaft. So hat die Zeugin geschildert, dem Antragsteller wöchentlich 40,00 € zu seiner freien Verfügung zu geben. Damit stockt sie die dem Antragsteller vom Antragsgegner bewilligte laufende Hilfe nach dem BSHG in Höhe von derzeit monatlich 84,71 € um fast das Doppelte auf. Davon bestreitet der Antragsteller seinen laufenden Lebensunterhalt, während die Miete weiterhin vom gemeinsamen Konto (auf das auch das Wohngeld gezahlt wird) abgebucht wird. Damit wirtschaften die Eheleute - so wie in den gesamten Jahren ihres Zusammenlebens - weiter "aus einem Topf", der im Wesentlichen aus den Leistungen nach dem BSHG und der der Ehefrau bewilligten Arbeitslosenhilfe gebildet wird. Allein auf diese Tatsache kommt es an; die Motivation für diese Art des Wirtschaftens ist (zunächst) nicht von Belang.

19

Auch die übrigen Gegebenheiten machen deutlich, dass ein völliges Getrenntsein im ehelichen Leben und im Haushalt im o.g. Sinne, welches nach außen deutlich wird, nicht angenommen werden kann. Nach den Aussagen der Zeugin R. und den Angaben des Antragstellers werden die Räume der Wohnung, mit Ausnahme des vor allem von der Ehefrau genutzten Schlafzimmers, von beiden Ehepartnern genutzt. Auch wenn nach den Angaben der Eheleute sämtliches Mobiliar etc. der Ehefrau gehört, darf der Antragsteller die Küche, das Badezimmer und auch das Wohnzimmer benutzen, und tut dies auch. Wenn es sich ergibt, schauen die Eheleute auch zusammen Fernsehen. Das gemeinsam geführte Konto besteht weiter und die Ehefrau hat bisher auch keinen Anlass gesehen, ein allein ihr zugängliches neues Konto einzurichten. Zwar schlafen die Eheleute in getrennten Schlafzimmern. Jedoch hat die Ehefrau unwidersprochen ausgeführt, dass der Antragsteller schon länger, d.h. auch schon im Zeitraum vor der behaupteten Trennung, in der Stube schlafe und dass dies maßgeblich darauf zurückzuführen sei, dass sie wegen ihrer Allergien immer bei offenem Fenster schlafen müsse. Des weiteren hat sie ausgeführt, dass sie ihr Zimmer insbesondere deshalb abschließe, um zu verhindern, dass die Katze in ihr Schlafzimmer gehe, da sie sonst wegen der Katzenhaare gesundheitliche Probleme bekomme. Die angeschafften Haustiere werden nach wie vor in gemeinsamer Verantwortung versorgt. Eine nach außen erkennbare Veränderung der Lebensverhältnisse nach der behaupteten Trennung im Oktober 2001 hat danach nicht stattgefunden.

20

Auch wenn die Eheleute ihrer Ansicht nach "nebeneinanderher leben" und ggf. andere Vorstellungen von dem Begriff einer intakten Ehe haben, geht die Kammer nach den Gesamtumständen dennoch vom Bestehen einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft zwischen den Eheleuten aus. Eine solche Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft setzt nicht zwingend voraus, dass z.B. gemeinsam gegessen, gemeinsam etwas unternommen oder sexuelle Beziehungen unterhalten werden. Vielmehr kommt es darauf an, ob in den Not- und Wechselfällen des Lebens füreinander eingestanden wird (vgl. BVerfG, a.a.O.).

21

Die bestehende Beziehung geht über eine reine Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft hinaus und ist im genannten Sinne durch ein gegenseitiges Einstehen in den Not- und Wechselfällen des Lebens gekennzeichnet. Insoweit hat die Zeugin R. bei ihrer Vernehmung dargestellt, dass sie dem Antragsteller trotz ihres nicht hohen eigenen Einkommens nicht nur die ihm zustehende Sozialhilfeleistung, sondern fast das Doppelte zukommen lasse, weil er von den Behörden nicht genug Geld bekomme und sie "ein gutes Herz habe". Damit liegt gerade der Fall des Einstehens füreinander in einer besonderen Notlage vor, der durch eine nach wie vor bestehende innere Beziehung motiviert ist. Die oben geschilderte Organisation des täglichen Lebens in der Wohnung bestätigt diese Beziehung; es ist auch in keinster Weise deutlich geworden, dass einer der Ehepartner eine unbedingte und sofortige Änderung dieser Verhältnisse anstrebt.

22

Nach alledem ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit der für den Antragsteller negativen Kostenfolge aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO zurückzuweisen.