Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 24.04.2003, Az.: 6 B 155/03

Alkoholabhängigkeit; Alkoholmissbrauch; Fahrerlaubnis; Fahrerlaubnisentziehung; vorläufiger Rechtsschutz

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
24.04.2003
Aktenzeichen
6 B 155/03
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 48366
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Zur Annahme einer Alkoholabhängigkeit.

2. Zur Feststellung einer Trennung zwischen Alkoholkonsum und Fahren.

3. Fehlende Aussagekraft des CDT-Wertes.

Gründe

1

I. Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz dagegen, dass der Antragsgegner ihm mit sofortiger Wirkung die Fahrerlaubnis entzogen hat.

2

Der im Jahre 1961 geborene Antragsteller erhielt vom Antragsgegner im Jahre 1993 die Fahrerlaubnis der Klassen 1 und 2. Im September 2001 beantragte er, nunmehr als Berufskraftfahrer tätig, die Erweiterung seiner Fahrerlaubnis auf die Klasse D. Dazu legte er die Bescheinigung eines Internisten und Arbeitsmediziners vor, der eine weitergehende Untersuchung des Nervensystems des Klägers für erforderlich hielt und eine Erteilung der begehrten Fahrerlaubnis nur unter der Bedingung empfahl, dass durch Fachgutachten eines Neurologen oder Psychiaters bestätigt werde, dass Bedenken gegen die Erteilung der Fahrerlaubnis nicht bestünden. In dem vom Antragsteller auf Anforderung des Beklagten daraufhin in Auftrag gegebenen verkehrsmedizinischen Gutachten des TÜV Hannover/Sachsen-Anhalt e.V. vom 29.11.2001 wird u.a. ausgeführt, dass eine für die Fahreignung des Antragstellers erhebliche neurologisch-psychiatrische Erkrankung nicht habe festgestellt werden können. Indessen seien ein Gamma-GT-Wert sowie ein MCV-Wert festgestellt worden, die auf eine alkoholtoxische Leberschädigung hinweisen könnten, die umgehend aufgrund einer Kontrolluntersuchung abgeklärt werden sollten.

3

Auf die entsprechende Aufforderung des Antragsgegners vom 07.01.2002, ein Gutachten eines Arztes für innere Krankheiten vorzulegen, reichte der Antragsteller zunächst eine „Arbeitsmedizinische Bescheinigung“ der BAD Gesundheitsvorsorge und Sicherheitstechnik GmbH vom 06.06.2002 ein, wonach er seinem Arbeitgeber, einem Verkehrsbetrieb, wegen eines eventuellen Alkoholmissbrauchs nicht aufgefallen sei; beigefügt waren Laborbefunde und Blutdruckwerte, die im Mai 2002 erhoben wurden.

4

Nach weiterem Schriftwechsel mit dem Antragsgegner zur Notwendigkeit eines fachärztlichen Gutachtens binnen bestimmter Frist legte der Kläger das unter dem 07.08.2002 erstellte Gutachten eines Facharztes (u.a.) für Innere Medizin vor, in dem ihm u.a. eine (sonographisch nachgewiesene) Fettleber und der Verdacht auf chronischen Alkoholgebrauch bescheinigt wurde. Dazu führte der Arzt aus, die Blutuntersuchung im Juni 2002 (die Angabe im Gutachten "26.07.2001" beruht offenbar auf einem Versehen) habe einen erhöhten Wert für das Carbohydrate-Deficient-Transferien (CDT) von "3,5 % (2,5 - 3,0 Graubereich)" ergeben, die Kontrolluntersuchung vom 01.08.2002 einen Wert von 3,3%. Da der durch ansonsten normale Leberwerte nicht in Frage gestellte „CDT-Wert als der zur Zeit spezifischste Marker für chronischen Alkoholabusus“ nach einem Monat angeblicher Karenz noch nicht normalisiert gewesen sei, bestehe der Verdacht auf einen chronischen Alkoholgebrauch fort und sei eine Kontrolluntersuchung der lebertypischen Laborwerte und des CDT-Wertes bei absoluter Alkoholkarenz nach 6 Monaten angezeigt. Bis dahin sollte der Untersuchte ein Kraftfahrzeug der Klasse D, DE nicht führen. Aus internistischer Sicht beeinträchtigten die festgestellten körperlichen Gesundheitsstörungen die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Klassen A bis D nicht. In Bezug auf den Umgang mit Alkohol solle ein fachpsychologisches Gutachten veranlasst werden.

5

Mit Schreiben vom 16.08.2002 forderte der Antragsgegner den Antragsteller daraufhin auf, das Gutachten einer Begutachtungsstelle für Fahreignung zu der Frage vorzulegen, ob zu erwarten sei, dass der Antragsteller zukünftig ein Kraftfahrzeug unter Alkoholeinfluss führen werde und/oder ob als Folge eines unkontrollierten Alkoholkonsums Beeinträchtigungen vorlägen, die das sichere Führen eines Kraftfahrzeugs der bestehenden Klassen und der neu beantragten Klassen in Fragen stellten.

6

Am 19.09.2002 stellte sich der Antragsteller der geforderten Untersuchung, kam aber mit den Gutachter überein, ihm die Gelegenheit einzuräumen, ergänzende fachärztliche Unterlagen einzureichen.

7

In dem vom Antragsteller daraufhin auch beim Antragsgegner eingereichten Arztbericht vom 25.11.2002 hielt ein anderer Facharzt für Innere Medizin fest, sonographisch finde sich kein Anhalt für eine Lebererkrankung. Bei gleichzeitig normalen Transaminasen sehe er auch keinen Anlass zu weiterer Diagnostik. Die CDT-Erhöhung müsse auch unter Berücksichtigung von ihm nicht bekannten verkehrsmedizinischen Vorgutachten gutachterlich bewertet werden. CDT sei generell ein hochspezifischer Parameter für aktuell erhöhten Alkoholkonsum. Im Falle des Antragstellers könne anhand der klinisch und durch Laboruntersuchungen erhobenen Daten ausgeschlossen werden, dass insoweit ein falsch positiver Befund erhoben worden sei, außer der Antragsteller habe die in Mitteleuropa seltene genetische D-Transferrinvariante. Zu berücksichtigen sei jedoch, dass die Spezifität der CDT-Erhöhung auch eine Frage der Quantität sei. Der Antragsteller weise nur eine geringe Erhöhung des CDT auf. Es gebe Labors, bei denen der Referenzbereich für CDT bei < 5-6 % liege und erst Werte von > 6 % als hochwahrscheinlicher Indikator für einen Alkoholmissbrauch interpretiert würden.

8

Das unter Verwertung auch dieses Arztberichtes unter dem 09.01.2003 erstellte Gutachten der Begutachtungsstelle für Fahreignung, das beim Antragsgegner am 24.01.2003 einging, und auf das wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, kam zu einem für den Antragsteller negativen Ergebnis. In dem Gutachten wird abschließend ausgeführt, dass der bei einer Norm von weniger als 2 % mit 4,1 % erhöhte CDT-Wert sowie durch körperliche Zeichen (Erweiterungen feinster Venen [Teleangiektasien] sowie ein diskretes feinschlägiges Fingerzittern) begründete Verdacht auf einen problematischen Alkoholkonsum ("gewohnheitsmäßiger Alkoholmissbrauch oder alkoholbedingte Auswirkungen eines Langzeitkonsums"), "der noch nicht ausreichend bewältigt worden ist, nicht auszuschließen" sei. Es sei deshalb "mit hoher Wahrscheinlichkeit" zu erwarten, dass zukünftig ein Kraftfahrzeug unter Alkoholeinfluss geführt werde, auch wenn keine Beeinträchtigungen als Folge eines unkontrollierten Alkoholkonsums festzustellen seien, die das sichere Führen eines Kraftfahrzeuges der beantragten Klassen bzw. der bestehenden Klassen in Frage stellen würden und es bislang auch nicht zu Alkoholauffälligkeiten im Straßenverkehr oder in anderer Hinsicht gekommen sei.

9

Mit Bescheid vom 02.04.2003 hat der Antragsgegner daraufhin dem Antragsteller unter Anordnung des Sofortvollzugs die erteilte Fahrerlaubnis entzogen und ihn aufgefordert, seinen Führerschein abzuliefern. Ferner hat er den Antrag auf Erweiterung der Fahrerlaubnis auf die Klasse D abgelehnt.

10

Über den dagegen eingelegten Widerspruch des Antragstellers ist - soweit ersichtlich - noch nicht entschieden.

11

Mit dem am 11.04.2003 gestellten Rechtsschutzantrag macht der Antragsteller im Wesentlichen geltend:

12

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei nur mangelhaft begründet und könne auch deshalb Bestand nicht haben, weil das nicht zuletzt durch die Berufssituation des Antragstellers geprägte private Interesse überwiege. Es sei schon fraglich, ob der Antragsgegner das Gutachten vom 09.01.2003 hätte fordern dürfen. Jedenfalls fehle dem Gutachten die Überzeugungskraft, da eine Auseinandersetzung mit der allein maßgeblichen Frage fehle, ob eine strikte Trennung zwischen Fahren und Trinken gewährleistet sei.

13

Der Antragsteller beantragt (sinngemäß),

14

die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 09.04.2003 wiederherzustellen und dem Antragsgegner aufzugeben, ihm den abgelieferten Führerschein unverzüglich wieder zurückzugeben.

15

Der Antragsgegner verteidigt seine Entscheidung und beantragt,

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den Antrag zurückzuweisen.

17

Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des vorgelegten Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

18

II. Der nach § 80 Abs. 5 VwGO statthafte Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist begründet. Die angefochtene Entziehungsverfügung, um die es in diesem Verfahren geht, da die Ablehnung der beantragten Fahrerlaubnis der Klasse D unstreitig nicht von der Anordnung der sofortigen Vollziehung erfasst ist, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken, sodass ein öffentliches Interesse an ihrer sofortigen Vollziehung im Sinne des § 80 Abs. 1 Nr. 4 VwGO nicht bestehen kann.

19

Die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Entziehung der Fahrerlaubnis sind ersichtlich nicht erfüllt.

20

Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.d.F. der Bekanntmachung vom 05.03.2003 (BGBl I S. 310) i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1 der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) vom 18. August 1998 (BGBl. I, S. 2214), zuletzt geändert durch Gesetz vom 11.09.2002 (BGBl. I S. 3574), hat die Straßenverkehrsbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich der Inhaber dieser Fahrerlaubnis als zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet erwiesen hat. Dies ist gemäß § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere anzunehmen, wenn Erkrankungen oder Mängel nach Anlagen 4, 5 oder 6 zu den §§ 11,13 und 14 FeV vorliegen, die die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausschließen. Davon kann im Falle des Antragstellers, bei dem eine Alkoholabhängigkeit unstreitig nicht festgestellt worden ist, nach gegenwärtigem Erkenntnisstand nicht gesprochen werden.

21

Der vom Antragsgegner der Sache nach angenommene Alkoholmissbrauch im Sinne der Nr. 8.1 der Anlage 4 zu den §§ 11,13 und 14 FeV ist zumindest gegenwärtig nicht hinreichend festgestellt. Ein Alkoholmissbrauch im Sinne dieser Bestimmung ist nicht bereits durch gesundheitsschädlichen Alkoholgebrauch begründet. Wie sich bereits aus dem Wortlaut des dieser Regelung im Sinne einer Legaldefinition beigefügten Klammerzusatzes ergibt, kann von einem Alkoholmissbrauch im Sinne dieser Bestimmung nur dann gesprochen werden, wenn das Führen von Kraftfahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden können. Nach den vom Bundesminister für Verkehr herausgegebenen Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung des Gemeinsamen Beirats für Verkehrsmedizin (Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Heft M 115 vom Februar 2000) ist dies regelmäßig in den folgenden Fällen anzunehmen:

22

in jedem Fall (ohne Berücksichtigung der Höhe der Blutalkoholkonzentration), wenn wiederholt ein Fahrzeug unter unzulässig hoher Alkoholwirkung geführt wurde,

23

nach einmaliger Fahrt unter hoher Alkoholkonzentration (ohne weitere Anzeichen einer Alkoholwirkung),

24

wenn aktenkundig belegt ist, dass es bei dem Betroffenen in der Vergangenheit im Zusammenhang mit der Verkehrsteilnahme zu einem Verlust der Kontrolle des Alkoholkonsums gekommen ist.

25

Unstreitig hat der Antragsteller keine dieser Voraussetzungen (nachweislich) erfüllt.

26

Ob und ggf. welche weiteren Umstände einen die Fahreignung ausschließenden Alkoholmissbrauch infolge fehlenden Trennvermögens begründen können, ist in Literatur und Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt (vgl. zum Streitstand etwa VGH Bad.-Württ., Beschl. vom 29.07.2002 - 10 S 1164/02 -, NZV 2000, 582; Hess. VGH, Beschl. vom 09.11.2000 - 2 TG 3571/00 - < Juris>), muss aber auch hier nicht vertieft werden.

27

Denn das der Entscheidung des Antragsgegners zugrunde gelegte Gutachten des medizinisch-psychologischen Instituts Braunschweig des TÜV Hannover/Sachsen-Anhalt e.V. vom 09.01.2003 eignet sich nicht, die Entziehung der Fahrerlaubnis des Antragstellers zu begründen. Es trifft zu der entscheidenden Frage, ob das (durch die erhobenen Laborwerte nicht näher aufgeklärte) Alkoholtrinkverhalten des Antragstellers mit nicht sicherer Trennfähigkeit verbunden ist, keine begründeten Feststellungen. Die Gutachter haben zwar ausgeführt, es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Antragsteller zukünftig ein Kraftfahrzeug unter Alkoholeinfluss führen werde. Sie haben diese Aussage aber ersichtlich vor dem Hintergrund der ihres Erachtens nicht ausgeräumten Eignungsbedenken getroffen und nachvollziehbare eigene Feststellungen zur maßgeblichen Frage eines hinreichenden Trennvermögens und daraus zu folgernden Eignungsmängeln nicht dargelegt. Die ermittelten Laborwerte insbesondere zum CDT, deren Aussagekraft im Übrigen nicht sicher geklärt zu sein scheint, lassen selbst mit Blick auf die festgestellten körperlichen Anzeichen für einen schädlichen Alkoholgebrauch offenbar nicht den Schluss zu, der Antragsteller könne nicht hinreichend sicher zwischen dem Führen eines Kraftfahrzeuges und einem die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholgenuss trennen. Sie erlauben - soweit ersichtlich und von der medizinischen Gutachterin auf telefonische Anfrage des Berichterstatters bestätigt - keinen Rückschluss auf das konkrete Trinkverhalten des Antragstellers und bieten deshalb auch kein ausreichendes Indiz für eine fehlende Trennfähigkeit. Der aus medizinischer Sicht hoch wahrscheinlich festgestellte, aber nicht näher auf seine straßenverkehrsrechtliche Relevanz untersuchte Alkoholabusus, dessentwegen dem Antragsteller aus ärztlicher Sicht geraten worden ist, zukünftig völlig auf Alkohol zu verzichten und sich mit fachkundiger Unterstützung mit seinem Alkoholtrinkverhalten bzw. der Alkoholvorgeschichte eingehend auseinander zu setzen, reicht indessen nicht aus, die (engeren) Voraussetzungen für einen Alkoholmissbrauch im Sinne der hier in Rede stehenden Vorschriften zu begründen. Hinreichend konkrete sonstige Anhaltspunkte, die diese Annahme begründen könnten, liegen ebenfalls nicht vor.

28

Zur Aufhebung der bereits durchgeführten Vollziehungsmaßnahme hat der Beklagte, wie nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO anzuordnen ist, dem Antragsteller seinen Führerschein zurückzugeben.

29

Dem Antrag ist deshalb mit der Kostenfolge aus § 154 VwGO stattzugeben.

30

Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 2 GKG und entspricht der ständigen Rechtsprechung der Kammer, die in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Hälfte des für ein Hauptsacheverfahren maßgeblichen Streitwertes festsetzt (hier: 4000 Euro für die Fahrerlaubnis der Klasse 1 sowie 6000 Euro für die Klasse 2 zuzüglich eines sog. Berufszuschlags mit Rücksicht auf eine nicht unerhebliche berufliche Nutzung in Höhe von 2000 Euro; vgl. dazu auch die Streitwertannahmen des Nds. Oberverwaltungsgerichts, Nds. VBl. 1995,116).