Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 02.04.2003, Az.: 4 B 399/02
Selbstbehalt; Stiefvater
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 02.04.2003
- Aktenzeichen
- 4 B 399/02
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 47954
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 16 S 1 BSHG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Bei der Bemessung des Selbstbehalts eines Stiefvaters nach § 16 Satz 1 BSHG stellen die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge einen geeigneten Wertungsrahmen zur Verfügung.
Tenor:
Die Antragsgegnerin wird im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragsstellerin ab dem 1. April 2003 Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 200,93 € monatlich zu gewähren.
Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin zu 7/8 und die Antragstellerin zu 1/8.
Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.
Gründe
Der Antrag der Antragstellerin, die Antragsgegnerin im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zur Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt unter Außerachtlassung des von dem Stiefvater der Antragstellerin erzielten Einkommens zu gewähren, ist überwiegend begründet und im Übrigen unbegründet.
Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt gemäß § 11 BSHG in Höhe von 200,93 € monatlich glaubhaft gemacht.
Dem von der Antragsgegnerin ermittelten Bedarf der Antragstellerin in Höhe von 426,90 € monatlich steht neben dem ihr zugewendeten und nach § 76 Abs. 2 Nr. 5 BSHG bereinigten Kindergeld in Höhe von 143,75 € monatlich ein gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 zweiter Halbsatz BSHG zu berücksichtigendes Einkommen ihrer Mutter in Höhe von 50,81 € monatlich gegenüber. Dieser Betrag ergibt sich aus der Differenz zwischen dem Bedarf der Mutter der Antragstellerin (Regelsatz zuzüglich anteiliger Kosten der Unterkunft) in Höhe von 396,90 € monatlich und dem von der Mutter der Antragstellerin einzusetzenden Einkommen in Höhe von 407,33 € monatlich (Berechnung der Antragsgegnerin im Bescheid vom 13. März 2003 unter Zugrundelegung des Nettoverdienstes für Februar in Höhe von 460,83 € und Abzug des Gewerkschaftsbeitrages in Höhe von 5,50 €) zuzüglich des aufgrund des Einkommens von C. zu ihrer Bedarfsdeckung nicht erforderlichen Anteils an dem für sie gezahlten Kindergeld in Höhe von 40,38 € monatlich (Berechnung der Antragsgegnerin in ihrem Schriftsatz vom 26. März 2003 unter Berücksichtigung der im Februar gezahlten Ausbildungsvergütung in Höhe von 390,96 € ). Der danach verbleibende Bedarf der Antragstellerin wird in Höhe von 30,96 € monatlich durch Unterhaltsleistungen ihres Stiefvaters bedarfsmindernd gedeckt, so dass die Antragsgegnerin Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 200,93 € monatlich zu gewähren hat.
Die Anrechnung von Unterhaltsleistungen des Stiefvaters der Antragstellerin folgt aus der Regelung in § 16 BSHG. Gemäß § 16 Satz 1 BSHG wird vermutet, dass ein Hilfesuchender, der in Haushaltsgemeinschaft mit Verwandten oder Verschwägerten lebt, von ihnen Leistungen zum Lebensunterhalt erhält, soweit dies nach ihrem Einkommen und Vermögen erwartet werden kann. Die durch § 16 Satz 1 BSHG begründete Vermutung bewirkt, dass die Leistungen der Angehörigen zu den die Hilfsbedürftigkeit mindernden, anrechnungsfähigen Leistungen zu rechnen sind. Vermutungsvoraussetzungen sind einmal das Leben in einem Haushalt mit Verwandten oder Verschwägerten, zum anderen die Leistungsfähigkeit der Angehörigen.
Die Antragstellerin lebt in Haushaltsgemeinschaft mit ihrer Mutter, ihrer Schwester und ihrem Stiefvater, mit dem sie verschwägert ist (§ 1590 BGB). Nach dem Einkommen ihres Stiefvaters kann die Gewährung von Unterhalt in der genannten Höhe erwartet werden.
Das Gericht hält es im vorliegenden Fall für sachgerecht, bei der Prüfung, inwieweit von dem Angehörigen nach dessen Einkommen und Vermögen Leistungen zum Lebensunterhalt an den mit ihm in Haushaltsgemeinschaft lebenden Hilfesuchenden erwartet werden können, auf die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge für den Einsatz von Einkommen und Vermögen in der Sozialhilfe (NDV 2002, 431 ff.) zurückzugreifen. Die darin enthaltene unterhaltsrechtliche Anknüpfung wird dem Regelungsanliegen des § 16 BSHG für Fallgestaltungen der vorliegenden Art am Ehesten gerecht. Denn das Unterhaltsrecht ist Ausdruck der diesbezüglichen Erwartungen der Rechtsgemeinschaft. Diese Anknüpfung findet sich denn auch in der Begründung des Entwurfs zur Vorschrift des § 16 BSHG (seinerzeit: § 15 BSHG-E), die im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens insoweit nicht geändert worden ist, wenn es darin (BT-Drucksache III/1799 S. 40) heißt: „Der Entwurf geht davon aus, dass die durch das bürgerliche Recht bestimmte Unterhaltspflicht nicht durch das Fürsorgerecht erweitert werden darf.“ Dieser Wertung folgend hat das Bundesverwaltungsgericht in der die Inanspruchnahme Unterhaltspflichtiger regelnden Vorschrift des § 91 BSHG, die den Kreis der zivilrechtlich Verpflichteten insoweit sogar noch einschränkt, einen geeigneten Ausgangspunkt zur Konkretisierung der in § 16 BSHG normierten Leistungserwartung gesehen, weil es nicht der Sinn des § 16 BSHG sei, die sozialhilferechtliche Hilfeerwartung an unterhaltspflichtige Angehörige über die gesetzlich vorgesehene Inanspruchnahme durch die Träger der Sozialhilfe hinaus zu erweitern (Urteil vom 1. Oktober 1998 – 5 C 32/97 –, NVwZ-RR 1999, 251 f.). Die demnach sachgerechte Anknüpfung an unterhaltsrechtliche Maßstäbe bedeutet jedoch nicht, dass dadurch Unterhaltsleistungen von zivilrechtlich nicht zum Unterhalt verpflichteten Angehörigen wie Verschwägerten unberücksichtigt bleiben müssten. Auch dies folgt aus der Regelung des § 16 Satz 1 BSHG, denn sie richtet die in ihr begründete Erwartung ganz ausdrücklich eben auch an Verschwägerte. So heißt es in der genannten Entwurfsbegründung (a.a.O.) denn auch weiter: „Andererseits muss dem Gedanken entsprochen werden, dass die Allgemeinheit nicht verpflichtet sein kann, dann einzuspringen, wenn der Hilfesuchende mit leistungsfähigen Angehörigen in Haushaltsgemeinschaft lebt, solange nicht zweifelsfrei feststeht, dass diese Angehörigen dem Hilfesuchenden den Lebensunterhalt nicht gewähren. Der Entwurf versucht, das Problem mit der vorgesehenen Rechtsvermutung zu lösen. Sie soll für die Fälle gelten, in denen der Unterhalt des Hilfesuchenden durch seine Verwandten oder Verschwägerten nach deren Einkommen oder Vermögen erwartet werden kann. Mit dieser allgemein gefassten Bestimmung soll nicht auf ein nach regelsatzmäßigen Gesichtspunkten zu wertendes Einkommen der genannten Angehörigen abgestellt werden, vielmehr soll aus den Gesamtumständen des Einzelfalles geschlossen werden, ob und in welcher Höhe nach allgemeinen Lebenserfahrungen eine Unterhaltsleistung erwartet werden kann." Indem die genannten Empfehlungen des deutschen Vereins (a.a.O., Nr. 66) hinsichtlich des angemessenen Eigenbedarfs des Angehörigen durch Verweis auf seine Empfehlungen für die Heranziehung Unterhaltspflichtiger in der Sozialhilfe (NDV 2002, 161 ff., Nr. 118) die unterhaltsrechtlichen Tabellen und Leitlinien des jeweiligen Oberlandesgerichts zum Maßstab nimmt und dem Umstand, dass Verschwägerte zivilrechtlich keinen Unterhalt schulden, in Nr. 67 seiner Empfehlungen für den Einsatz von Einkommen und Vermögen in der Sozialhilfe (a.a.O.) dadurch Beachtung verschafft, dass in diesen Fällen das übersteigende Einkommen des Verschwägerten nicht wie bei unterhaltspflichtigen Verwandten zur Hälfte, sondern nur zu 30 % als Einkommen des Hilfeempfängers berücksichtigt werden, stellen sie insgesamt einen sachgerechten Wertungsrahmen für den in Fällen der vorliegenden Art gemäß § 16 Satz. 1 BSHG zu leistenden Ausgleich dar.
Die beiden Familiensenate des Oberlandesgerichts Braunschweigs wenden die jeweils aktuelle Düsseldorfer Tabelle (NDV 2001, 406 ff.) an. In ihr findet sich mangels diesbezüglicher Unterhalspflicht naturgemäß keine Angabe zum Selbstbehalt in den Fällen der Verschwägerung. Nach Auffassung des Gerichts kann in diesen Fällen die Unterhaltserwartung jedoch nicht höher sein, als in den „entferntesten“ zivilrechtlichen Unterhaltsbeziehungen, d. h. es können von dem Stiefvater der Antragstellerin keine höheren Einschränkungen erwartet werden, als wenn er seine eigenen Eltern unterhalten würde. Das Gericht hat angesichts der nach den Empfehlungen in den Fällen der Verschwägerung vorgesehenen geringeren Berücksichtigung des übersteigenden Einkommens davon abgesehen, den in Anmerkung D 1 der Düsseldorfer Tabelle gegenüber Eltern vorgesehenen Selbstbehalt in Höhe von 1.250 € zu erhöhen. Es legt der sich hiernach ergebenden Zumutbarkeitsberechnung das von der Antragsgegnerin (Schriftsatz vom 12. März 2003) als berücksichtigungsfähig erachtete monatliche Einkommen des Stiefvaters der Antragstellerin in Höhe von 1637,08 € zugrunde, setzt hiervon jedoch in der Gehaltsabrechnung ausgewiesene weitere Spesen in Höhe von 80 € ab, weil bisher nicht ersichtlich ist, dass diesem Zufluss keine entsprechenden Kosten gegenüberstehen. Zusätzlich setzt das Gericht neben monatlichen Aufwendungen für die sogenannten Riester Rente (4,17 €), Haftpflichtversicherung (6,20 €), Hausratversicherung (3,02 €) und Gewerkschaftsbeitrag (20,92 €) einen Betrag zur Schuldentilgung in Höhe von 169,57 € monatlich ab. Bei der unterhaltsrechtlichen Berücksichtigung von Schulden (Düsseldorfer Tabelle a.a.O., Anmerkung A 4) ist eine umfassende Interessenabwägung nach billigem Ermessen vorzunehmen, wobei der Zeitpunkt des Entstehens und die Art der Verbindlichkeit, deren Zweck, die Dringlichkeit der beiderseitigen Bedürfnisse sowie die Möglichkeiten des Schuldners, die Leistungsfähigkeit in zumutbarer Weise etwa durch Streckung wiederherzustellen und die schutzwürdigen Belange Dritter berücksichtigt werden müssen (vgl. nur: OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Juli 1999 – 2 WF 78/99 –, FamRZ 200, 1091). Hiernach erscheint es angesichts des Umstandes, dass der Stiefvater der Antragstellerin seine Schuldentilgung derzeit bereits „streckt“, indem er Forderungen seines Sohnes wegen rückständigen Unterhalts und weitere Zahlungsverpflichtungen gegenwärtig nicht bedient, ermessensgerecht, die Tilgung von Schulden in Höhe der gegenwärtig tatsächlich gezahlten Raten anzuerkennen.
Unter Berücksichtigung des angemessenen Selbstbehalts ergibt sich ein „Einkommensüberhang“ in Höhe von 103,20 € monatlich, wobei von dem Stiefvater der Antragstellerin erwartet werden kann, dass er 30% davon, mithin 30,96 € monatlich, der Antragstellerin anspruchsmindernd zuwendet.
Die hinsichtlich dieses Betrages vorliegende Regelvermutung hat die Antragstellerin nicht gemäß § 16 Satz 2 BSHG widerlegt. Sie hat nicht glaubhaft gemacht, dass ihr Stiefvater zumutbare Unterstützungsleistungen tatsächlich verweigert. Sie hat zwar eine Erklärung ihres Stiefvaters ohne Datum vorgelegt, in der dieser erklärt, er weigere sich für die Antragstellerin Unterhalt zu zahlen und sei hierzu auch wirtschaftlich nicht in der Lage. Das Gericht hält diese offenbar zu Verfahrenszwecken abgegebene Erklärung jedoch nicht für ernstgemeint. Bei lebensnaher Betrachtung ist wenig wahrscheinlich, dass der Stiefvater der Antragstellerin, der mit ihr, ihrer Schwester und seiner Ehefrau, der Mutter der Mädchen, in familiärer Gemeinschaft lebt, nur auf sein finanzielles Wohl bedacht ist und sich ihm zumutbaren Hilfeleistungen versagt. Andernfalls wäre auch zu erwarten gewesen, dass er – anders als geschehen – auf eine steuerliche Berücksichtigung der Mädchen verzichtet.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer Anwendung der Regelung in § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und berücksichtigt das Maß des jeweiligen Obsiegens und Unterliegens der Beteiligten. Die Kostenfreiheit des Verfahren folgt aus § 188 Satz 2 VwGO.