Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 16.03.2017, Az.: 10 A 7713/16
Amtsermittlung; Asylverfahren; Internationaler Schutz; Schutzgesuch; Zweitantrag
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 16.03.2017
- Aktenzeichen
- 10 A 7713/16
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2017, 54092
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 29 Abs 1 Nr 5 AsylVfG
- § 71a Abs 1 AsylVfG
- Art 18 Abs 2 UAbs 2 S 1 EUV 604/2013
- Art 29 Abs 2 EUV 604/2013
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die Ablehnung eines Schutzgesuchs gem. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässigen Zweitantrag setzt voraus, dass der erfolglose Ausgang des Asylverfahrens im Drittstaat bekannt und belegt ist. Sie kann nicht allein auf rudimentäre (zudem widersprüchliche) Angaben des Schutzsuchenden gestützt werden.
2. Keine Verpflichtung des Gerichts, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, wenn lediglich Indizien dafür bekannt sind, dass überhaupt ein Schutzgesuch gestellt worden ist (Anschluss VG Schwerin, Urteil vom 8.7.2016 - 15 A 190/15 -, juris Rn. 21).
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 9. Dezember 2016 () wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die vorläufige Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v. H. des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110 v. H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen die Androhung seiner Abschiebung nach Mali und begehrt die Prüfung seines Asylbegehrens durch die Beklagte im nationalen Verfahren.
Der Kläger ist nach eigenen Angaben malischer Staatsangehöriger. Er reiste ebenfalls nach eigenen Angaben am 30. September 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 28. Oktober 2015 einen Asylantrag. Die Überprüfung der Fingerabdrücke des Klägers im EURODAC-System ergab, dass er in Italien wegen illegalen Grenzübertritts und am 28. Oktober 2014 im Zusammenhang mit einem Asylantrag erkennungsdienstlich behandelt worden war. Unter dem 23. August 2015 richtete die Beklagte daher ein Übernahmeersuchen an Italien, auf das die zuständige italienische Behörde in der Folgezeit nicht reagierte.
Mit Bescheid vom 1. Dezember 2015 lehnte das Bundesamt den Antrag als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung des Klägers nach Italien an. Nachdem die Abschiebung bis zum Ende der Überstellungsfrist nicht erfolgt war, hob die Beklagte den Bescheid am 26. Oktober 2016 auf und setzte das Verfahren in eigener Zuständigkeit fort.
Mit Bescheid vom 9. Dezember 2016, dem Kläger zugestellt am 14. Dezember 2016, lehnte die Beklagte den Antrag als unzulässig ab, verneinte Abschiebungshindernisse und forderte ihn unter Androhung der Abschiebung nach Mali zur Ausreise auf. Das Asylverfahren des Klägers in Italien sei bestandskräftig abgeschlossen. Sein in Deutschland gestellter Antrag sei daher als Zweitantrag zu prüfen. Die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens seien nicht gegeben.
Am 21. Dezember 2016 hat der Kläger Klage erhoben und um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung seiner Klage und des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz macht er geltend, dass die Beklagte seinen Asylantrag zu Unrecht als Zweitantrag betrachtet und Wiederaufnahmegründe verneint habe. Er habe Anspruch auf die materielle Prüfung seines Asylgesuchs durch die Beklagte. Dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz hat das Gericht mit Beschluss vom 12. Januar 2017 entsprochen (10 B 7714/16).
Der Kläger beantragt,
den Bescheid () der Beklagten vom 9. Dezember 2016 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie beruft sich auf die Gründe ihres Bescheides.
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Der Inhalt sämtlicher Akten war Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe
Das Gericht entscheidet durch den Einzelrichter, dem die Kammer den Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 AsylG mit Beschluss vom 26. Januar 2017 übertragen hat, und im erklärten Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
I. Die Klage ist zulässig. In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens bei Folge- und Zweitanträgen, die nach aktueller Rechtslage als Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ergeht, mit der Anfechtungsklage anzugreifen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.12.2016 – BVerwG 1 C 4.16 – juris Rn. 16).
II. Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Beklagte stützt die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens auf § 71 a Abs. 1 AsylG. Danach wird, wenn der Ausländer in einem sicheren Drittstaat ein Asylverfahren erfolglos abgeschlossen hat, ein weiteres Asylverfahren nur durchgeführt, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen.
Ob der danach erforderliche „erfolglose Abschluss des Asylverfahrens“ in dem Drittstaat im Sinne des § 71 a Abs. 1 AsylG vorliegt, ist hier nicht ersichtlich. Ein solcher Abschluss des Verfahrens ist nur dann anzunehmen, wenn über den Antrag in der Sache entschieden worden und die Entscheidung rechtskräftig ist (vgl. VG Schwerin, Urteil vom 8.7.2016 – 15 A 190/15 As –, juris Rn. 18). Andere Arten der Beendigung des Asylverfahrens im Drittstaat wie die dauernde Einstellung des Verfahrens oder die Einstellung aufgrund einer fingierten Rücknahme bei Nichtbetreiben des Asylverfahrens, sind vom Anwendungsbereich des § 71 a Abs. 1 AsylG dagegen schon aufgrund vorrangigen Europäischen Rechts ausgenommen. Denn nach Art. 18 Abs. 2 UA 2 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (vom 29.6.2013, Abl. L 180) – Dublin III VO – hat der zuständige Mitgliedstaat in den Fällen (Absatz 1 lit. c), in denen über den Erstantrag im ersten Mitgliedstaat in erster Instanz keine sachliche Entscheidung getroffen worden war, sicherzustellen, dass die Betroffenen einen neuen Antrag stellen können, der nicht als Folgeantrag gewertet werden darf. Diese formale und materielle Rechtsstellung des Klägers geht auch dann nicht verloren, wenn im Rahmen der Zuständigkeitsbestimmung nach der Dublin III VO die Zuständigkeit für die Prüfung des neuerlichen Schutzgesuchs auf den nunmehr ersuchten Mitgliedsstaat übergeht (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 29.4.2015 – A 11 S 121/15 –, juris; VG Hannover, Urteil vom 3.9.2016 – 10 A 3550/15 –, juris).
Ob der Antrag nach § 71 a AsylG als unzulässig abgelehnt werden kann oder die Voraussetzungen einer materiellen Prüfung aufgrund der Verpflichtung aus Art. 18 Abs. 2 UA 2 Satz 1 Dublin III VO vorliegen, muss positiv feststehen, wenn die Entscheidung über den Antrag ergeht. Daran fehlt es hier.
Aktenkundig sind allein zwei EURODAC-Einträge mit den Kennnummern IT2KR01F91 vom 16. Juli 2014 und IT1KR01FLK vom 13. August 2014. Dabei markiert die Ziffer 2 hinter den Länderkennbuchstaben eine erkennungsdienstliche Behandlung wegen illegaler Einreise und die Leitziffer 1 eine erkennungsdienstliche Behandlung im Zusammenhang mit einem Schutzgesuch. Der Stand des demnach eingeleiteten Asylverfahrens ist weder von der Beklagten bei den italienischen Behörden abgefragt worden noch sonst offiziell bestätigt. Die Beklagte stützt sich allein auf die Aussagen des Klägers, die – was die Beklagte selbst erkannt und in dem angefochtenen Bescheid erwähnt hat – uneinheitlich und in sich widersprüchlich sind. Einen zuverlässigen Ausschluss auf den Verfahrensstand erlauben diese Angaben nicht; die Beklagte hat auch nach der Entscheidung über vorläufigen Rechtsschutz keine weiteren Erkenntnisse mitgeteilt.
Das Gericht ist auch nicht gehalten, den Ausgang des Asylverfahrens im Wege der Amtsermittlung in Erfahrung zu bringen. Der Amtsermittlungsgrundsatz verpflichtet nur, bei hinreichend konkret dargelegten Einwänden eines Beteiligten vorliegenden Hinweisen oder Einwänden nachzugehen und den entscheidungserheblichen Sachverhalt weiter aufzuklären (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.2.2015 – BVerwG 1 B 2.15 –, juris Rn. 4). Daran fehlt es hier, weil weder der Akteninhalt noch der EURODAC-Treffer Aufschluss darüber erlauben, ob das offenbar eingeleitete Asylverfahren in Italien überhaupt durchgeführt, geschweige denn zum Abschluss gebracht worden ist (vgl. VG Schwerin, Urteil vom 8.7.2016 – 15 A 190/15 –, juris Rn. 21).
Die Entscheidung kann nicht auf anderer Rechtsgrundlage aufrechterhalten bleiben. Der Unzulässigkeitstatbestand des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG scheidet aus, weil seine tatsächlichen Voraussetzungen ebenso ungeklärt sind wie die des § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG. Der sodann allein noch in Betracht kommende Unzulässigkeitstatbestand des § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG greift schon deshalb nicht ein, weil die Beklagte für die Durchführung des hier in Rede stehenden Asylverfahrens aufgrund des Ablaufs der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO zuständig ist. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein Staat, der bereit ist, den Ausländer wieder aufzunehmen, als für den Ausländer sicherer Drittstaat gemäß § 26 a AsylG betrachtet wird. Gemäß § 26 a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylG schließt die Einreise aus einem sicheren Drittstaat die Berufung auf Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes jedoch nicht aus, wenn die Bundesrepublik Deutschland – wie hier – aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Dies gilt nicht nur bei einer originären Zuständigkeit Deutschlands, sondern auch bei einem nachträglichen Zuständigkeitswechsel; entsprechendes gilt für § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.12.2016 – BVerwG 1 C 4.16 –, juris).
2. Die Aufhebung des Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung (Nr. 3 des angefochtenen Bescheides) folgt aus § 34 Abs. 1 Nr. 3 AsylG; zugleich entfällt auch die Grundlage des unter Nr. 4 des angefochtenen Bescheides ausgesprochenen Einreise- und Aufenthaltsverbots.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden aufgrund von § 83 b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.