Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 06.03.2017, Az.: 13 A 5695/16

Amtsermittlung; Asylantrag; Bescheidungsurteil; Durchentscheiden; Herkunftsland; Libanon; Libyen; Palästinenser; Spruchreifmachung; Staatenloser

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
06.03.2017
Aktenzeichen
13 A 5695/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2017, 53940
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

nachfolgend
OVG - 18.05.2017 - AZ: 11 LA 133/17

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Bei Staatenlosen ist die Prüfung des Asylantrags gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b) AsylG an dem Land des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts (also des nicht nur vorübergehenden Lebensmittelpunktes) auszurichten.

2. Das Amtsermittlungsprinzip des § 86 Abs. 1 VwGO gilt nicht ausnahmslos. Eine Ausnahme liegt vor, wenn das in rechtlicher Hinsicht mit umfassender Entscheidungskompetenz sowie daneben in tatsächlicher Hinsicht mit Spezialwissen über die verschiedenen Herkunftsländer ausgestattete Bundesamt die Prüfung des Asylantrags am Maßstab eines unzutreffenden Herkunftslandes vorgenommen hat.

3. Ein Durchentscheiden des Verwaltungsgerichts kommt dann nicht in Betracht. Andernfalls würde dem Asylsuchenden die behördliche Entscheidungsinstanz genommen, gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz aus Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG verstoßen sowie unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG eine gerichtliche Kontrollinstanz genommen.

Tenor:

Der Bescheid der Beklagten vom 20. September 2016 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, über den Asylantrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Der Kläger hat am 2. Februar 2015 erstmals einen Asylantrag gestellt.

In seiner mündlichen Anhörung vor dem Bundesamt am 25. Juli 2016 hat er unter anderem angegeben, dass er am 1. April 1980 in Beirut (Libanon) geboren sei. Er sei palästinensischer Volkszugehörigkeit und staatenlos. Im Jahr 1982 sei seine Familie mit ihm wegen des dortigen Krieges aus dem Libanon nach Libyen ausgereist. Seitdem habe er mit seinen Verwandten, die sich noch immer dort aufhalten würden, mehrere Jahrzehnte in Libyen gelebt. Er habe in Tripoli (Libyen) Architektur studiert und seit 1997 seinen Lebensunterhalt durch eine selbständige Berufstätigkeit erwirtschaften können. Nach dem Sturz der Regierung in Libyen sei er drei Mal das Opfer von Entführungen durch Milizen geworden. Über einen palästinensischen Freund aus dem Libanon habe er einen Weg zur Flucht aus Libyen gefunden. Er besitze auch einen Ausweis für palästinensische Flüchtlinge aus dem Libanon.

Am 10. Oktober 2013 habe er Libyen verlassen und sei über das Meer nach Malta gelangt, wo er sich einen Monat aufgehalten habe. Von dort sei er im November 2013 in die Niederlande gereist, wo er ein Jahr und drei Monate gelebt habe; dort habe er am 14. April und erneut am 26. November 2014 Asyl beantragt. Sein Antrag sei abgelehnt und er sei aufgefordert worden, die Niederlande zu verlassen. Anschließend sei er in die Bundesrepublik Deutschland eingereist.

Mit Bescheid vom 20. September 2016 erkannte die Beklagte dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1. des Bescheides), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2. des Bescheides) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3. des Bescheides); dabei legte die Beklagte ihrer Beurteilung die Verhältnisse im Libanon zugrunde.

Außerdem stellte die Beklagte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4. des Bescheides) - wobei sie wiederum die Verhältnisse im Libanon zugrunde legte -, forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik innerhalb von 30 Tagen zu verlassen und drohte ihm für den Fall des Nichteinhaltens der Ausreisefrist die Abschiebung in den Libanon an (Ziffer 5. des Bescheides). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot befristete die Beklagte gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6. des Bescheides).

Gegen diesen Bescheid der Beklagten richtet sich die mit dem am 5. Oktober 2016 beim Verwaltungsgericht Hannover eingegangen Schriftsatz erhobene Klage.

Der Kläger beantragt:

Die Beklagte wird unter Aufhebung von Ziffer 1, 3, 4, 5 und 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. September 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen,

hilfsweise subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 AsylG festzustellen,

weiterhin hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 S. 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf ihre angefochtene Entscheidung.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 12. Januar 2017 auf den Einzelrichter übertragen. Die Verfahrensbeteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 101 Abs. 2 VwGO einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Verpflichtungsklage hat in der Sache in dem tenorierten Umfang Erfolg.

In dem gemäß § 77 Abs. 1 S. 1 AsylG für die zugrunde zu legende Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtliche Entscheidung ist der Bescheid der Beklagten rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten; da die Sache indes noch nicht spruchreif ist, ist die Beklagte gemäß § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO zu verpflichten, über den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Die Beklagte hat einen unzutreffenden Prüfungsmaßstab angelegt hat, als sie ihre Prüfung am Libanon als Herkunftsland des Klägers ausgerichtet hat. Sie hat dabei verkannt, dass der Kläger in seinen Anhörungen angegeben hat, dass er zwar Palästinenser und im Libanon geboren sei, jedoch (lediglich) die ersten zwei Jahre seines Lebens dort verbracht habe und danach in den letzten dreißig Jahren vor seiner Flucht - von 1983 bis zum 10. Oktober 2013 - in Libyen gelebt und von dort seine Flucht angetreten habe.

Der Kläger ist - nach derzeitigem Erkenntnisstand - nach seinen Angaben aufgrund seiner palästinensischen Volkszugehörigkeit und mangels Erwerbs einer Staatsangehörigkeit als Staatenloser zu behandeln (vgl. BVerwG Urt. v. 23. Februar 1993, 1 C 45/90, juris 14 ff.).

Nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b) AsylG hätte die Prüfung somit an dem Land ausgerichtet werden müssen, in dem der Kläger als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt, also seinen nicht nur vorübergehenden Lebensmittelpunkt hatte (vgl. BVerwG Urt. v. 26. Februar 2009, 10 C 50/07, juris Rn. 30 ff.). Das wäre hier Libyen gewesen. Dabei hat weder das Bundesamt geltend gemacht, dass die Angaben des Antragstellers zu seiner Herkunft unglaubhaft seien noch ist dies ersichtlich. Zu Libyen aber enthält der Bescheid keinerlei Ausführungen, so dass eine behördliche Sachentscheidung bezogen auf den richtigen Sachverhalt des vom Kläger gestellten Antrags fehlt.

Entgegen der Ansicht der Beklagten im Schriftsatz vom 8. Februar 2017 führt der Umstand, dass der Kläger in Libyen keinen Aufenthaltsstatus besessen hat, zu keiner anderen Beurteilung. Denn die Rechtmäßigkeit ist von der Dauerhaftigkeit des Aufenthalts zu unterscheiden; für den dauernden Aufenthalt genügt es, dass die Ausländerbehörde des Herkunftslandes unbeschadet ihrer rechtlichen Möglichkeiten davon Abstand nimmt, den Aufenthalt des Staatenlosen zu beenden (BVerwG Urt. v. 26. Februar 2009, 10 C 50/07, juris Rn. 32 f.). So liegt der Fall mangels entgegenstehender Erkenntnisse hier; denn der Kläger konnte sich offensichtlich dreißig Jahre lang unbehelligt in Libyen aufhalten, dort studieren und arbeiten, mithin dauerhaft in Libyen leben. Hier hat das Bundesamt indes die materielle Rechtslage im Hinblick auf das eigentlich zugrunde zu legende Herkunftsland des Klägers (Libyen) und sein auf dieses Land bezogen geschildertes Verfolgungsschicksal (Entführungen) noch gar nicht geprüft und insofern über den eigentlichen Antrag noch nicht entschieden.

Insofern kann der angefochtene Bescheid weder Bestand haben noch ist die Sache spruchreif, so dass neben einer Aufhebung des Bescheides keine konkrete Verpflichtung der Beklagten ausgesprochen werden und nur ein Bescheidungsurteil ergehen kann, § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO.

Es kam hingegen nicht in Betracht, dass das Verwaltungsgericht die Sache im Verwaltungsprozess selbst spruchreif macht und damit über den Asylantrag des Klägers auf der Basis des richtigen Sachverhalts als erste Stelle überhaupt (durch-)entscheidet. Denn die grundsätzliche Verpflichtung der Verwaltungsgerichte im Bereich gebundener begünstigender Verwaltungsakte die Sache bei fehlender Sachentscheidung der Behörde gemäß § 113 Abs. 5 VwGO in Verbindung mit dem Amtsermittlungsprinzip des § 86 Abs. 1 VwGO spruchreif zu machen, gilt nicht ausnahmslos (vgl. BVerwG Urt. v. 7. März 1995, 9 C 264/94, juris Rn. 14). Die in der Rechtsprechung insofern anerkannten Ausnahmen von dem vorstehenden Grundsatz beziehen sich dabei auf Fallkonstellationen, in denen das Bundesamt das Asylbegehren sachlich überhaupt nicht geprüft hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 7. März 1995, 9 C 264.94, juris, Rn. 14 ff.; Urt. v. 5. September 2013, 10 C 1.13, juris, Rn. 14 - jeweils betreffend die Einstellung des Asylverfahrens wegen Nichtbetreibens; OVG NRW Beschl. v. 13. Januar 2017, 4 A 3051/15.A, juris Rn. 7; OVG Nds. Urt. v. 24. März 1997, 3 L 4655/96, juris).

Dabei geht das Gericht davon aus, dass hier angesichts des Fehlens einer sachlichen Prüfung des Asylbegehrens anhand des zutreffend zugrunde zu legenden Herkunftslandes (Libyen) eine solche Ausnahme vorliegt. In solchen Fallkonstellationen ist es nicht Aufgabe der Verwaltungsgerichte anstelle des mit besonderer Sachkunde versehenen Bundesamts, das sich mit der Sache insofern noch gar nicht selbst beschäftigt hat, durchzuentscheiden (vgl. BVerfG Beschl. v. 13. März 1993, 2 BvR 1988/92, juris Rn. 23 - insoweit zu Asylfolgeanträgen). Denn dem Bundesamt ist durch § 5 Abs. 1 i.V.m. § 13 Abs. 2 AsylG eine umfassende Entscheidungskompetenz eingeräumt, so dass zunächst das Bundesamt als diejenige Behörde, die mit besonderem Spezialwissen über die Situation in den verschiedenen Herkunftsländer ausgestattet ist, eine eigenständige Prüfung durchzuführen und dabei auf der Basis dieses Spezialwissens die gesetzlichen Beurteilungsspielräume eigenständig auszufüllen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO 18. Aufl. 2012, § 113 Rn. 199), hier insbesondere auch den Zielstaat für die Abschiebungsandrohung ggf. (neu) auszuwählen hat.

Würde das Verwaltungsgericht sogleich durchentscheiden, würde dem - Kläger hinsichtlich der Erstentscheidung über den von ihm gestellten Antrag und die von ihm dazu vorgebrachten Angaben - die behördliche Entscheidungsinstanz genommen, obwohl diese nach § 24 AsylG mit umfangreichen Verfahrensgarantien ausgestattet ist (vgl. BayVGH Beschl. v. 2. Februar 2015, 13a ZB 14.50068, juris Rn. 6). Eine solche Vorgehensweise würde das behördliche Asylverfahren zu den Gerichten verlagern, was einen Verstoß gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz aus Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG bedeuten würde, welcher auch nicht durch die vom Gesetzgeber angestrebte Beschleunigung von Asylverfahren zu rechtfertigen wäre. Das Gericht würde, statt die Entscheidung des Bundesamts zu kontrollieren, an Stelle des Bundesamts entscheiden. Der hier anzuwendenden Prozessordnung (VwGO) lässt sich in § 113 Abs. 3 VwGO - unabhängig davon, ob die Vorschrift auf Anfechtungsklagen beschränkt ist - jedenfalls der Rechtsgedanke entnehmen, dass die Verwaltungsgerichte auch bei der Kontrolle eines rechtlich gebundenen Verwaltungsakts nicht in jedem Falle selbst die Spruchreife herbeiführen müssen, sondern bei erheblichen Aufklärungsdefiziten zunächst der Behörde Gelegenheit geben können, eine den Streitstoff erschöpfende Sachentscheidung zu treffen. Die besondere - auf Beschleunigung und Konzentration auf eine Behörde gerichtete - Ausgestaltung des Asylverfahrens durch das Asylgesetz steht im Falle versäumter Sachentscheidung durch das Bundesamt der Annahme entgegen, dass das Verwaltungsgericht die Sache spruchreif zu machen hätte (BVerwG, Urteil vom 07. März 1995 – 9 C 264/94 –, juris Rn. 15).

Im Falle eines Durchentscheidens des Verwaltungsgerichts würde zudem der Gesichtspunkt der Verfahrensökonomie verletzt, weil die Verwaltungsgerichte personell nicht ansatzweise dafür ausgestattet sind, asylrechtliche Erstentscheidungen zu treffen.

Außerdem würde dem Kläger, wenn das Gericht anstelle der Behörde die erste Entscheidung in der Sache treffen würde, eine gerichtliche Kontrollinstanz genommen, worin eine Verletzung des aus Art. 19 Abs. 4 GG herzuleitenden Grundsatzes auf effektiven Rechtsschutz zu sehen wäre.

Das Gericht weist abschließend darauf hin, dass es im Rahmen der Neubescheidung ggf. in Betracht kommen kann, erneut die Abschiebung des Klägers in den Libanon anzudrohen, weil nicht zwingend die Abschiebung in das Land des früheren gewöhnlichen Aufenthaltes (hier Libyen) angedroht werden muss, sondern der insofern ausgewählte Zielstaat ein anderer als der des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts sein kann.

Nicht angängig ist es hingegen, den Zielstaat, in den die Abschiebung angedroht wird (hier Libanon), automatisch auch als den Staat des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts (Herkunftsland) und damit bei der Beantwortung der Fragen nach der Gewährung von Asyl, der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes zugrunde zu legen.

Eine solche Vorgehensweise ist selbst dann sachlich nicht gerechtfertigt, wenn der Asylantragsteller - wie hier - über eine UNRWA-Registrierung in diesem Land verfügen. Denn durch eine UNRWA-Registrierung in einem bestimmten Land wird dieses Land asylrechtlich nicht zum Herkunftsland; eine solche Registrierung kann lediglich einen Indizwirkung haben. Hier hat das Bundesamt diesbezüglich ungeklärt gelassen, wann eine solche Registrierung des Klägers erfolgt ist (etwa durch die Eltern bei der Geburt vor mehr als dreißig Jahren oder ggf. 2013 im Zusammenhang mit der Organisation der Flucht über einen palästinensischen Freund?). Erst wenn derartige Fragen möglichst genau geklärt sind, können daraus auch tragfähige Schlüsse hinsichtlich der Bewertung des Umstands einer UNRWA-Registrierung im Verhältnis zu den übrigen Angaben des Antragstellers zu seinem Herkunftsland gezogen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die Nichterhebung von Gerichtskosten aus § 83 b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.