Landgericht Oldenburg
Urt. v. 23.05.2003, Az.: 13 S 1054/02
Anforderungen an das grob fahrlässige Herbeiführen eines Versicherungsfalles i.S.d. § 61 Versicherungsvertragsgesetz (VVG); Befreiung von der Leistungspflicht des Versicherers wegen eines Rotlichtverstoßes
Bibliographie
- Gericht
- LG Oldenburg
- Datum
- 23.05.2003
- Aktenzeichen
- 13 S 1054/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 33832
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGOLDBG:2003:0523.13S1054.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Oldenburg - 21.11.2002 - AZ: E6 C 6462/02 (VI)
Rechtsgrundlage
- § 61 VVG
Fundstelle
- zfs 2003, 504-505 (Volltext mit amtl. LS)
Verfahrensgegenstand
Versicherungsleistung
In dem Rechtsstreit
...
hat die 13. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg
auf die mündliche Verhandlung vom 09.05.2003
durch
den Vorsitzenden Richter am Landgericht Weinreich,
die Richterin Dr. Wilken und
die Richterin am Landgericht Blohm
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Amtsgerichts Oldenburg vom 21.11.2002, unter Zurückweisung des Rechtsmittels im übrigen wie folgt abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2.668,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5% über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 11.10.2002 zu zahlen.
Die weitergehende Klage wird abgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren beträgt 2.668 EUR.
Tatbestand
Zur Darstellung des Tatbestandes wird gemäß § 540 Absatz 1 Nr. 1 ZPO auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil (Bl. 20 ff. d.A.) Bezug genommen, die hinsichtlich des Vortrags der Parteien wie folgt abgeändert werden:
Die Klägerin behauptet, der am Tag des Verkehrsunfalls neben ihr auf dem Beifahrersitz mitfahrende, geistig behinderte Herr Fleischer habe, bevor sie den Kreuzungsbereich erreicht habe, ins Lenkrad gegriffen; zu diesem Zeitpunkt habe die Ampel für sie noch grünes Licht gezeigt. Da sie das Eingreifen mit ihrer rechten Hand habe abwehren müssen, sei sie abgelenkt und nicht mehr in der Lage gewesen, den rechtsseitig neben dem Lenker befindlichen Bremshebel zu betätigen. Das Verhalten des Herrn Fleischer sei für sie völlig überraschend gewesen, da er sich zuvor niemals derart unkontrolliert gezeigt habe.
Die Beklagte bestreitet dieses Vorbringen der Klägerin und behauptet, die Rotlichtphase habe für die Klägerin zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes bereits mehrere Sekunden angedauert, so dass kein Augenblicksversagen vorliege.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung hat Erfolg.
Die Beklagte ist aufgrund des zwischen den Parteien geschlossen Kfz-Vollkaskoversicherungsvertrages gemäß §§ 1 Absatz 1 Satz 1, 49 VVG verpflichtet, den der Klägerin durch den Verkehrsunfall verursachten Fahrzeugschaden in Höhe von 3.000,00 Euro abzüglich der Selbstbeteiligung von 332,00 Euro zu ersetzen.
Eine Befreiung von der Leistungspflicht nach § 61 VVG ist nicht eingetreten, da die Beklagte den Nachweis einer grob fahrlässigen Herbeiführung des Verkehrsunfalls durch die Klägerin nicht zu führen vermochte.
Zwar stellt ein Rotlichtverstoß in objektiver Hinsicht stets ein grob verkehrswidriges Verhalten dar. Die grob fahrlässige Herbeiführung eines Versicherungsfalls gemäß § 61 VVG erfordert darüber hinaus jedoch auch subjektiv ein unentschuldbares Fehlverhalten, das über das normale Maß hinausgeht. Die Beweislast für ein auch in subjektiver Hinsicht erheblich gesteigertes Verschulden hat der Versicherer zu tragen; der objektiv feststehende Rotlichtverstoß begründet hierfür grundsätzlich keinen Anscheinsbeweis (vgl. BGH VersR 1986, 254; OLG Stuttgart VersR 1980, 1140).
Nach dem nicht widerlegten Vorbringen der Klägerin ist der Vorwurf grober Fahrlässigkeit nicht gerechtfertigt. Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts stellt der Umstand, dass die Klägerin den geistig behinderten Herrn Fleischer auf dem Beifahrersitz mitnahm, keinen Sorgfaltsverstoß dar. Die Annahme, dass bei geistig behinderten Personen stets mit unkontrolliertem Verhalten, insbesondere der hier vorliegenden Art, zu rechnen sei, ist nicht haltbar. Sie führte letztlich zu der Verpflichtung, geistig behinderte Menschen entweder überhaupt nicht mehr privat zu befördern oder nur noch mit einer, über den Sicherheitsgurt hinausgehenden Fixierung, was die Grenze des Zumutbaren deutlich übersteigt. Somit ist hier vielmehr auf die konkreten Umstände des Einzelfalls abzustellen. Nach dem Vortrag der Klägerin, die den 30-jährigen Herrn Fleischer als dessen Betreuerin seit Jahren kennt und diesen schon des öfteren in ihrem Fahrzeug mitgenommen hat, hatte dieser ihr zuvor nie ins Lenkrad gegriffen und auch durch sein Verhalten am Unfallstag keinen Anlass zu einer solchen Befürchtung gegeben. Unter diesen Umständen war die Klägerin nicht gehalten, eine besondere Vorsorge zu treffen, da die Reaktion ihres Beifahrers für sie nicht vorhersehbar war. Dass sie selbst körperlich behindert und aufgrunddessen auf eine völlige Handsteuerung ihres Fahrzeug angewiesen ist, ändert nichts an dieser Beurteilung.
Nach dem weiteren Vorbringen der Klägerin zeigte die Ampelanlage für sie noch grünes Licht, als sie sich dem Kreuzungsbereich näherte und ihr Beifahrer plötzlich ins Lenkrad griff. Demnach war eine unverzügliche Abwehrhandlung ihrerseits geboten, um ein Abweichen von der Fahrbahn und eine dadurch drohende Unfallgefahr abzuwenden. Dass sie in dieser Situation ihre Aufmerksamkeit nicht mehr auf den Verkehr richtete, ist nachvollziehbar und rechtfertigt auch dann nicht die Annahme grober Fahrlässigkeit, wenn das Lichtzeichen beim Überfahren der Grenzlinie bereits für mehrere Sekunden auf "rot" gestanden haben sollte. Denn zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Klägerin notwendig ihre rechte Hand zum Abwehren einsetzen musste und daher nicht in der Lage war, den rechtsseitig
gelegenen Bremshebel zu betätigen. Es handelt sich im vorliegenden Fall somit auch gar nicht um eine Problematik des Augenblickversagens, sondern um eine von der Klägerin nicht zu vertretene Notlage, deren Bestehen zum Unfallzeitpunkt von der Beklagten nicht widerlegt wurde.
Der Zinsanspruch rechtfertigt sich aus §§ 288 Absatz 1, 291 ZPO; da ein Verzug der Beklagten mit ihrer Leistungspflicht nicht schlüssig vorgetragen worden ist, konnten der Klägerin Verzugszinsen erst ab Rechtshängigkeit zugesprochen werden.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 91 Abs. 1, 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10 ZPO analog, 711,713 ZPO sowie auf § 543 ZPO.
Dr. Wilken
Blohm