Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 24.10.2001, Az.: 4 K 139/97 Ki
Anforderungen an das Anerkennen als Pflegekind; Berücksichtigung Behinderter; Familienangehörigkeit oder Verwandtschaft mit Pflegeeltern keine gesetzliche Voraussetzung
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 24.10.2001
- Aktenzeichen
- 4 K 139/97 Ki
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2001, 14646
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2001:1024.4K139.97KI.0A
Fundstelle
- EFG 2002, 772 (Volltext mit red. LS)
Tatbestand
Streitig ist, ob eine volljährige hilflose Person deshalb kein Pflegekind i.S. des § 32 Einkommensteuergesetz (EStG) ist, weil sie keine Familienangehörige der Person ist, die sie in ihren Haushalt aufgenommen hat.
Der verheirate Kläger nahm gegen Ende 1995 die nicht erwerbstätige volljährige A. (geb. am 15.12.1957) in Vollzeitpflege in seinen Haushalt auf. A., die keinen Kontakt zu ihren leiblichen Eltern hat, ist zumindest seit dem 09.10.1975 zu 100 % in ihrer Erwerbsfähigkeit gemindert. In ihrem Schwerbehindertenausweis vom 17.12.1991 sind die Merkmale G (gehbehindert) und H (hilflos) eingetragen. A. bezieht Pflegegeld der Pflegestufe 1 (§ 37 Abs. 2 Nr. 1 SGB XI) in Höhe von monatlich 400,00 DM und Eingliederungshilfe (§§ 39, 40 Abs. 1 Nr. 8 BSHG) in Höhe von monatlich 1.769,20 DM. Die Beträge wurden an den Kläger gezahlt. Außerdem erhält A. ein monatliches Taschengeld in Höhe von 159,00 DM. Bei der Aufnahme von A. bestand die Absicht, diese auf längere Dauer aufzunehmen. Ab Oktober 1997 wurde A. anderweitig untergebracht, weil sich ihr Zustand derart verschlechterte, dass sie im Haushalt des Klägers nicht mehr betreut werden konnte.
Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers auf Zahlung von Kindergeld für A. aus hier nicht mehr relevanten Gründen ab.
Dagegen richtet nach erfolglos gebliebenen Vorverfahren die Klage.
Der Kläger beantragt,
den Einspruchsbescheid vom 10.02.1997 und den Ablehnungsbescheid vom 31.05.1996 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, Kindergeld für die Zeit ab Januar 1996 bis einschließlich September 1997 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Ein Kindergeldanspruch bestehe nicht. Denn A. sei kein Pflegekind des Klägers. Aus Abschnitt 63.2.2.3 Abs. 2 Satz 6 der Dienstanweisung zur Durchführung Familienlastenausgleich vom 12.05.2000, BStBl I , 636 ff (DA-FamEStG) sei zu schließen, dass ein Pflegekindschaftsverhältnis unabhängig vom Alter eines schwer geistig oder seelisch Behinderten, der in seiner geistigen Entwicklung einem Kinde gleichstehe, nur zwischen Familienangehörigen begründet werden könne. Diese Voraussetzung liege nicht vor, weil A. keine Familienangehörige des Klägers sei.
Gründe
Die Klage ist begründet.
Anspruch auf Kindergeld hat, wer im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat und ein Kind i. S. § 63 EStG in seinen Haushalt aufgenommen hat (§§ 62 Abs. 1 Nr. 1, 64 Abs. 2 EStG). Kinder i. S. des § 63 EStG sind Kinder i. S. des § 32 Abs. 1 EStG. Hierunter fallen"im ersten Grad verwandte Kinder" (§ 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG) und Pflegekinder (§ 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG). Nach der gesetzlichen Definition der letztgenannten Vorschrift sind Pflegekinder Personen, mit denen der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie in seinen Haushalt aufgenommen hat, das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht und der Steuerpflichtige sie mindestens zu einem nicht unwesentlichen Teil auf seine Kosten unterhält. Ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, wird u.a. berücksichtigt, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG in der für den Streitfall geltenden Fassung i.V. mit § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG).
Zwischen den Beteiligten besteht Einvernehmen darüber, dass A. i. S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG behindert und außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, dass der Kläger A. in der Absicht, sie auf Dauer in häuslicher Gemeinschaft zu betreuen, in seinen Haushalt aufgenommen hat, dass ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen A. und ihren leiblichen Eltern nicht bestanden hat, dass jedoch zwischen dem Kläger und A. in tatsächlicher Hinsicht eine Elternteil-Kind-Beziehung i. S. eines Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis bestanden und dass der Kläger A. zu einem nicht unwesentlichen Teil auf seine Kosten unterhalten hat. Da - auch unter Beachtung der Rechtsprechung des BFH (vgl. z.B. Urteile vom 12.06.1991 - III R 108/89 -, BStBl II 1992, 20; 15.10.1999 - VI R 183/97 -, BStBl II 2000, 72; 15.10.1999 - VI R 40/98 -, BStBl II 2000, 75) - keine entgegenstehenden Anhaltspunkte ersichtlich sind, ist von einem diesem Streitstand entsprechenden Sachverhalt auszugehen. Damit sind sämtliche Voraussetzungen für den Kindergeldanspruch des Klägers erfüllt. Das gilt insbesondere auch für die Annahme, dass A. Pflegekind des Klägers i. S. des§ 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG war.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist das Pflegekindschaftsverhältnis zwischen dem Kläger und A. nicht deshalb zu verneinen, weil A. bei ihrer Aufnahme in die häusliche Gemeinschaft des Klägers bereits das 27. Lebensjahr vollendet hatte und keine Familienangehörige des Klägers ist.
Die Familienangehörigkeit ist kein Merkmal des in§ 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG definierten Pflegekindbegriffs. Aus dem gebotenen Umkehrschluß aus § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG ("im ersten Grad verwandte Kinder") folgt vielmehr, dass als Pflegeeltern alle Personen in Betracht kommen, die nicht leibliche Eltern oder Adoptiveltern sind. Damit ist die von der Beklagten aus Abschnitt 63.2.2.3 Satz 6 DA-FamEStG herausgelesene Rechtsauffassung, ein Pflegekindschaftsverhältnis zu einem erwachsenen geistig oder seelisch schwer Behinderten könne nur zwischen Familienangehörigen, also miteinander Verwandten begründet werden, nicht nachvollziehbar. Eine fehlende Verwandtschaft zwischen dem Kläger und A. steht daher einem Pflegekindschaftsverhältnis nicht entgegen. Gefordert ist vielmehr ein "familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band". Dies setzt voraus, dass zwischen dem Steuerpflichtigen und dem Kind Beziehungen tatsächlicher Art wie zu einem eigenen Kind bestehen. Davon ist auszugehen, wenn der Steuerpflichtige das Kind wie ein eigenes Kind betreut, sämtliche wesentlichen Entscheidungen für das Kind trifft und so für das Kind zum maßgebenden Ansprechpartner und damit zum Ersatzelternteil geworden ist (vgl. BFH-Urteil vom 07.09.1995 - III R 95/93, BStBl II 1996, 63). Diese Voraussetzung und auch die weiteren für ein Pflegekindschaftsverhältnis bereits genannten notwendigen Voraussetzungen liegen im Streitfall vor, wie die Beklagte in der mündlichen Verhandlung selbst eingestanden hat.
Das Alter von A. steht einem Pflegekindschaftsverhältnis mit dem Kläger ebenfalls nicht entgegen. Behinderte Kinder - wie vorliegend A. - sind nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG in der für den Streitfall geltenden Fassung auch über das 27. Lebensjahr hinaus ohne Altersgrenze zu berücksichtigen. Die Einschränkung, dass die Behinderung vor dem 27. Lebensjahr eingetreten sein muss, gilt erst nach der mit Wirkung ab dem 01.01.2000 geltenden Änderung des§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG durch das Familienförderungsgesetz vom 22.12.1999 (BGBl 2552). Diese Änderung hat im Streitfall ohnehin keine Bedeutung, weil die Behinderung A. bereits vor ihrem 27. Lebensjahr eingetreten ist.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO), die über die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren auf § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO und die über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 151 Abs. 1 und 3 FGO i. V. mit§§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.