Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 04.05.2005, Az.: 1 B 19/05
Abschiebung; Ausländer; ausländerrechtliche Schutzwirkungen; Ehe und Familie; einwanderungspolitischer Belang; Familie; Kind; Sicherungsanordnung; Sicherungsanspruch; Sicherungsgrund; Unterlassung; Visum; Visumsverfahren
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 04.05.2005
- Aktenzeichen
- 1 B 19/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 50752
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 123 VwGO
- § 906 BGB
- § 1004 BGB
- Art 6 GG
- § 5 Abs 2 S 2 AufenthG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Im Falle einer bevorstehenden Abschiebung kann im Einzelfall ein Unterlassungsanspruch (analog §§ 1004, 906 BGB) aus Art. 6 GG herleitbar sein.
Gründe
Das Verfahren ist aufgrund der übereinstimmenden Erledigungserklärungen einzustellen.
Die Verfahrenskosten waren der Antragsgegnerin aufzuerlegen, weil bei überschlägiger Prüfung der Sach- und Rechtslage die Voraussetzungen für eine Sicherungsanordnung iSv § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO gegeben gewesen sein dürften, wenn das Verfahren nicht aufgrund übereinstimmender Erledigungserklärungen abgeschlossen worden wäre.
Neben der hier deutlichen Gefahr für eine Vereitelung oder wesentliche Erschwerung der Verwirklichung von Rechten, die es durch eine Sicherungsanordnung abzuwehren galt (Sicherungsgrund), bestand für den Antragsteller auch ein Sicherungsanspruch, also ein der Verwirklichung harrendes Recht, dessen Entwertung durch Eingriffe zu verhindern war. Dem Antragsteller stand und steht ein öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch analog den §§ 1004, 906 BGB zur Seite, der klageweise mit einer vorbeugenden Unterlassungs- oder Feststellungsklage verfolgt werden könnte. Im Verfahren der einstweiligen Anordnung (§ 123 VwGO) wird durch die Sicherungsanordnung der dafür erforderliche (Rechts-)Schutz vorab gewährt (vgl. dazu im Einzelnen Finkelnburg, NJW-Schriften Bd. 12, 4. Auflage, Rdn. 175 ff. / 177), u.zw. auch und vor allem gegenüber behördlichen Eingriffen durch schlicht-hoheitliches Handeln und Verhalten aller Art.
Hier standen Rechte des Antragstellers aus der Grundsatznorm des Art. 6 GG im Raum, deren Beeinträchtigung oder gar Vereitelung zu verhindern war. Vgl. dazu die nachfolgende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (NVwZ 2002, S. 849 f [BVerfG 30.01.2002 - 2 BvR 231/00]):
Die in Art. 6 I i.V. mit II GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfGE 76, 1 [49ff.] = NJW 1988, 626; BVerfGE 80, 81 [93] = NJW 1989, 2195 [BVerfG 18.04.1989 - 2 BvR 1169/84]). Ausländerrechtliche Schutzwirkungen entfaltet Art. 6 GG freilich nicht schon auf Grund formal-rechtlicher familiärer Bindungen. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern (vgl. BVerfGE 76, 1 [42f.] = NJW 1988, 626 [BVerfG 12.05.1987 - 2 BvR 1226/83; 2 BvR 101/84; 2 BvR 313/84]), wobei grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist (vgl. BVerfG, [1. Kammer des Zweiten Senats], NVwZ 2000, 59 = InfAuslR 2000, 67 [BVerfG 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99]).
Der Schutz des Art. 6 I i.V. mit II GG gilt zunächst und zuvörderst der Familie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft; in der Familie und der elterlichen Erziehung findet die leibliche und seelische Entwicklung des Kindes eine wesentliche Grundlage (vgl. BVerfGE 80, 81 [90] = NJW 1989, 2195). Besteht eine solche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen dem Ausländer und seinem Kind und kann diese Gemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (vgl. BVerfG [3. Kammer des Zweiten Senats], InfAuslR 1993, 10 [11], und 1994, 394 [395]; vgl. auch BVerfGE 80, 81 [95] = NJW 1989, 2195 [BVerfG 18.04.1989 - 2 BvR 1169/84] zur Erwachsenenadoption). Dies kann selbst dann gelten, wenn der Ausländer vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat (vgl. BVerfG [3. Kammer des Zweiten Senats], NJW 1994, 3155 = InfAuslR 1994, 394 [395] [BVerfG 10.08.1994 - 2 BvR 1542/94]; BVerfG, [1. Kammer des Zweiten Senats], NVwZ 2000, 59 = NJW 2000, 1179 L = InfAuslR 2000, 67 [BVerfG 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99] [68f.]).
Was hier für ein Kind und seine Familie ausgeführt ist, gilt in entsprechendem Maße auch für den Ehemann und seine Beziehungen zu Ehefrau und Kindern (auch Stiefkindern). Dabei bedarf es keiner Betonung, dass Art. 6 GG auch für Ausländer gilt. Werden bei entsprechenden Fallkonstellationen also einwanderungspolitische Belange, wie sie hier mit dem Verweis auf ein Visumsverfahren betont worden sind, von Grundsatznormen regelmäßig verdrängt, so ist hier außerdem zu berücksichtigen, dass es dem Antragsteller wegen seiner Verbundenheit mit seiner Ehefrau und seinem Stiefkind selbstverständlich nicht zuzumuten ist, in sein Heimatland aus- und in einem geordneten Visumsverfahren wieder einzureisen, nur um ein in Gesetzen unterhalb der Verfassung als bloße Regel vorgesehenes Verfahren nachzuholen (vgl. VG Gelsenkirchen, InfAuslR 2003, S. 195). Insoweit wirkt die Verfassung (Art. 6 GG) selbstverständlich unter Wertungs- und Zumutbarkeitsgesichtspunkten auf niederrangige Gesetze ein, u.zw. vor allem im Ermessensbereich, § 5 Abs. 2 Satz 2, 2. Alternative AufenthG.
Die Antragsgegnerin hat im Übrigen jedoch dem Rechtsschutzbegehren entsprochen und sich somit in die Rolle der unterlegenen Partei begeben. Es entspricht dem Rechtsgedanken des § 154 Abs. 1 VwGO, die Kosten des Verfahrens den unterlegenen Teil tragen zu lassen.
Somit entspricht es billigem Ermessen im Sinne des § 161 Abs. 2 VwGO, die Gesamtkosten der Antragsgegnerin aufzuerlegen.
Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 53 Abs. 3 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG.