Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 28.12.2004, Az.: 4 A 205/03

Eingliederungshilfe; Legasthenietherapie; relevante seelische Störung; seelische Behinderung

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
28.12.2004
Aktenzeichen
4 A 205/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 50223
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Der im Jahr 1987 geborene Kläger begehrt Leistungen der Eingliederungshilfe für eine Legasthenietherapie, die in der Zeit von Februar 2002 bis zum Juni 2003 an dem Institut für Entwicklungs- und Lerntherapie durchgeführt wurde.

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Die Übernahme der Kosten für die Therapie beantragte er bei dem Beklagten am 6. Juni 2002. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 6. August 2002 ab. Wegen des Alters des Klägers sei eine derartige Therapie nicht geeignet, um eine evtl. vorliegende seelische Behinderung zu beseitigen oder zu mildern. Der Kläger erhob hiergegen am 28. August 2002 Widerspruch. Die Auffassung des Beklagten sei falsch, denn bei ihm habe die Therapie bereits einen Teilerfolg erzielt. Zum Schuljahr 2002/2003 sei er in die 9. Klasse der Realschule versetzt worden. Mit Bescheid vom 12. Juni 2003 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung wiederholte er zunächst seine bisherigen Ausführungen. Ergänzend machte er geltend, der Kläger sei nicht dem Personenkreis der seelisch Behinderten zuzuordnen. Er sei nach Angaben seiner Eltern altersgemäß entwickelt und zeige weder im häuslichen Bereich noch in der Freizeitgestaltung Auffälligkeiten.

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Der Kläger hat am 9. Juli 2003 Klage erhoben. Er wiederholt und vertieft zur Begründung sein Widerspruchsvorbringen und macht weiter geltend, er sei zwar nicht seelisch behindert, sicher aber von einer solchen Behinderung bedroht gewesen.

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Der Kläger beantragt,

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den Bescheid des Beklagten vom 6. August 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Juni 2003 aufzuheben, und den Beklagten zu verpflichten, die Kosten für die von ihm in der Zeit von Februar 2002 bis Juni 2003 absolvierte Therapie in Höhe von 3.473,80 € zu übernehmen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Zur Begründung wiederholt er die Ausführungen der angegriffenen Bescheide.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die im Gerichtsverfahren gewechselten Schriftsätze und auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen. Das Gericht hat Beweis erhoben, indem es ein Gutachten der Dipl- Psychologin B. eingeholt hat. Wegen des Ergebnisses wird auf das Gutachten vom 7. Juni 2004 verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage bleibt ohne Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet.

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Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Übernahme der Kosten für die von ihm absolvierte Legasthenietherapie aus Mitteln der Jugendhilfe, weil die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe nicht vorliegen. Nach § 35a Abs. 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (§ 35a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII) und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (§ 35a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII).

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Dies kann im Fall des Klägers nicht festgestellt werden. Eine bestehende oder drohende seelische Behinderung im Sinne des § 35a Abs. 1 SGB VIII ist nicht bereits deswegen anzunehmen, weil der Kläger unstreitig an Legasthenie leidet. Zwar ist die Legasthenie in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD - 10) in der Gruppe „Entwicklungsstörungen“ des Kapitels V (Psychische und Verhaltensstörungen) erfasst (F 81.0). Das Vorliegen einer Entwicklungsstörung rechtfertigt aber nicht ohne Weiteres den Schluss, dass hierdurch auch die Teilhabe des Kindes oder des Jugendlichen am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder dass eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Allerdings können als Folge einer Legasthenie psychische Störungen eintreten. Letztere erfüllen den Tatbestand der seelischen Behinderung, wenn sie so intensiv sind, dass sie die Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigen. Dabei reichen zu erwartende geringfügige Beeinträchtigungen nicht aus. Erforderlich ist, dass eine nachhaltige Einschränkung der sozialen Funktionstüchtigkeit gegeben ist (Stähr, in Hauck/Haines, SGB VIII, Stand: April 2002, Bd. 1, K § 35a Rn. 29). Daraus folgt, dass bei bloßen Schulproblemen, wie sie auch andere Kinder haben, z.B. Gehemmtheit, Versagensängsten oder Schulunlust, eine seelische Behinderung noch nicht gegeben ist. Dagegen liegt beispielsweise bei einer auf Versagensängsten beruhenden Schulphobie, einer totalen Schul- und Lernverweigerung, dem Rückzug aus jedem sozialen Kontakt oder der Vereinzelung in der Schule eine nach § 35a Abs. 1 SGB VIII relevante seelische Störung vor (vgl. Stähr in Hauck/Haines, a.a.O., K § 35 a Rn. 26, vgl. auch zu ADS: BVerwG, Urt. v. 26.11.1998 - 5 C 38.97 -, FEVS 49, 487).

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Der Kläger trägt selbst nicht vor, dass in seinem Fall in dem maßgebenden Zeitraum eine seelische Behinderung im Sinne des § 35a Abs. 1 SGB VIII bereits gegeben war. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass eine Beeinträchtigung seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wegen der Legasthenie zu erwarten war. Dabei reicht es nicht aus, dass eine derartige Beeinträchtigung allgemein oder theoretisch möglich ist. Vielmehr ist notwendig, dass sie nach den konkreten Umständen des Einzelfalls mit überwiegender Wahrscheinlichkeit bevorsteht (Stähr, in Hauck/Haines, a.a.O. K § 35 Rn. 34). Es ist nicht ersichtlich, dass im Fall des Klägers diese Voraussetzung in dem umstrittenen Zeitraum vorlag. Die Sachverständige hat in ihrem Gutachten vom 7. Juni 2004 zusammenfassend u.a. ausgeführt:

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„Das Vorliegen oder Drohen einer seelischen Beeinträchtigung konnte bei dem Kläger für den genannten Zeitraum im Nachhinein nicht nachgewiesen werden. Im Gegenteil, die erhaltene Befundlage sowie die sehr detaillierten telefonischen Äußerungen der Leiterin des Instituts für Entwicklungs- und Lerntherapie ergeben das Bild eines durchaus in sich ruhenden, motivierten und sozial kompetenten Jugendlichen, welcher zwar über sein Handicap deutlich frustriert und mit einer erhöhten Schulunlust reagiert, dies jedoch nicht im Umfang einer drohenden oder eingetretenen seelischen Beeinträchtigung. ...Zwar zeigt sich aus der Schilderung des Klägers selbst, seiner Mutter, der Leiterin des Instituts für Entwicklungs- und Lerntherapie, der Eindrücke der zuständigen Sachbearbeiter des Amtes für Jugend und Familie des Landkreises Harburg sowie aus den Ergebnissen der applizierten Persönlichkeitsverfahren, dass C. in diesem Zeitraum schulisch deutlich frustriert war, jedoch nicht in einem Ausmaß, dass daraus die eingetretene oder drohende Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit abgeleitet werden könnte. Die von den Eltern geschilderte soziale Scheu und Zurückgezogenheit erscheint nicht in einem Maße gravierend, um daraus eine länger als sechs Monate andauernde Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit zweifelsfrei ableiten zu können. Auch ist zu berücksichtigen, dass ein erhöhte Neigung zu Scheu und Zurückgezogenheit in diesem Alter häufig zu beobachten ist.“

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Diesen Ausführungen folgt die Einzelrichterin, denn sie sind in dem Gutachten nachvollziehbar und plausibel begründet. Die Sachverständige hat insbesondere auch berücksichtigt, dass der Kläger durchaus in der fraglichen Zeit wegen der Legasthenie psychisch belastet war. Sie hat aber auf der Grundlage der eingeholten Stellungnahmen und der vorgenommenen Testdiagnostik die nachvollziehbare Wertung vorgenommen, dass diese Belastung noch nicht das Ausmaß angenommen hatte, wie es erforderlich wäre, um eine bestehende oder drohende seelische Behinderung annehmen zu können.

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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

17

Gründe für eine Zulassung der Berufung (§§ 124 Abs. 1, 124a Abs. 1 VwGO) liegen nicht vor.