Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 08.08.2022, Az.: 14 ME 203/22

2-Chlorethanol; Ethylenoxid; Gesundheitsschädlichkeit; Inverkehrbringen; Rückruf; Vorsorgegrundsatz; Vorsorgeprinzip; Öffentlichkeitswarnung Öffentlichkeitswarnung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
08.08.2022
Aktenzeichen
14 ME 203/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 59748
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 16.03.2022 - AZ: 6 B 9/22

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die Annahme einer Gesundheitsschädlichkeit (Art. 14 Abs. 2 lit. a BasisVO) von Produkten, die 2-Chlorethanol enthalten, ist auf der Grundlage der derzeit vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht hinreichend nachvollziehbar belegt.

2. Ist eine lebensmittelrechtliche Verbotsverfügung zur Abwehr einer bestehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit ergangen, kann sie unter Rückgriff auf das Vorsorgeprinzip (Art. 7 BasisVO) nur Bestand haben, wenn sie den allgemeinen Grundsätzen eines ordnungsgemäßen Risikomanagements gemäß Art. 6 Abs. 3 BasisVO genügt und entsprechendes Ermessen ausgeübt worden ist.

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 6. Kammer - vom 16. März 2022 geändert.

Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid vom 25. Januar 2022 wird angeordnet.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen einen Beschluss des Verwaltungsgerichts, mit dem dieses die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen eine lebensmittelrechtliche Verfügung des Antragsgegners abgelehnt hat. In dieser lebensmittelrechtlichen Verfügung (Bescheid vom 25. Januar 2022) hat der Antragsgegner

1. der Antragstellerin das Inverkehrbringen bestimmter Produkte untersagt,

2. der Antragstellerin das Inverkehrbringen bestimmter Produkte untersagt, bis durch ein akkreditiertes Labor nachgewiesen wurde, dass sich in den Produkten kein 2-Chlorethanol befindet,

3. einen Rückruf und eine Öffentlichkeitswarnung für die Produkte unter 1. und für die Produkte unter 2. unter bestimmten Maßgaben angeordnet,

4. die Übermittlung bestimmter Daten angeordnet sowie

5. bezogen auf einen Teil der unter 4. angeforderten Daten bei Nichtvorlage ein Zwangsgeld angedroht.

Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage des Art. 138 Abs. 1 lit. b, Abs. 2 lit. d und g VO (EU) 2017/625 für die Untersagung des Inverkehrbringens, den Rückruf und die Öffentlichkeitswarnung vorliegen. Der dort vorausgesetzte Verstoß gegen Vorschriften nach Art. 1 Abs. 2 lit. a VO (EU) 2017/625 folge daraus, dass die in der Anordnung des Antragsgegners bezeichneten Produkte wegen der Belastung mit 2-Chlorethanol gesundheitsschädliche Lebensmittel und deshalb nach Art. 14 Abs. 2 lit. a VO (EG) 178/2002 (im Folgenden: BasisVO) als nicht sicher zu bewerten seien. Ebenfalls nicht zu beanstanden seien die Ermittlungsmaßnahmen nach Nr. 4; sie ließen sich auf Art. 138 Abs. 1 lit. a VO (EU) 2017/625 bzw. Art. 138 Abs. 1 lit. b VO (EG) 2017/625 in Verbindung mit § 40 Abs. 2 Satz 2 LFGB stützen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das Verwaltungsgericht hätte den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht ablehnen dürfen.

Ausgehend von dem für den Senat maßgeblichen Prüfungsmaßstab des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO hat die Antragstellerin die die erstinstanzliche Entscheidung tragende Annahme, dass die in der Anordnung des Antragsgegners bezeichneten Produkte wegen der Belastung mit 2-Chlorethanol gesundheitsschädliche Lebensmittel nach Art. 14 Abs. 2 lit. a BasisVO seien, durchgreifend erschüttert. Der angefochtene Bescheid vom 25. Januar 2022 stellt sich in dem für die gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt als offensichtlich rechtswidrig dar. An seiner sofortigen Vollziehung kraft gesetzlicher Anordnung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 39 Abs. 7 Nr. 1 LFGB) kann kein öffentliches Interesse bestehen. Nach der im Beschwerdeverfahren allein möglichen vorläufigen Einschätzung kann der Antragsgegner die getroffenen Maßnahmen nicht darauf stützen, dass es sich bei den fraglichen Produkten der Antragstellerin um gesundheitsschädliche Lebensmittel im Sinne des Art. 14 Abs. 2 lit. a BasisVO handelt (dazu unter 1.). Der Bescheid lässt sich auch nicht unter Heranziehung des Art. 7 BasisVO auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips aufrechterhalten (dazu unter 2.).

1. Der Antragsgegner hat die in dem angefochtenen Bescheid angeordneten Maßnahmen zu 1. bis 4 allein darauf gestützt, dass die Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 1, Abs. 2 lit. a BasisVO vorliegen. Diese Einschätzung teilt der Senat im Rahmen der im vorliegenden Eilverfahren nur vorzunehmenden summarischen Prüfung nicht. Bei dieser Prüfung und damit bei der rechtlichen und tatsächlichen Beurteilung, ob die Voraussetzungen des Art. 14 BasisVO vorliegen, ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblich. Denn bei der angefochtenen lebensmittelrechtlichen Verfügung handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (vgl. BayVGH, Beschl. v. 25.4.2022 - 20 CS 22.530 -, juris Rn. 26; OVG SH, Beschl. v. 16.6.2022 - 3 MB 8/22 -, juris Rn. 7).

Nach Art. 14 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 dürfen Lebensmittel, die nicht sicher sind, nicht in Verkehr gebracht werden. Nach Absatz 2 lit. a der Vorschrift gelten Lebensmittel nicht als sicher, wenn davon auszugehen ist, dass sie gesundheitsschädlich sind. Der Senat geht unter Berücksichtigung der von dem Antragsgegner im Rahmen der Risikobewertung (vgl. zu diesem Erfordernis im Einzelnen BayVGH, Beschl. v. 25.4.2022 - 20 CS 22.530 -, juris Rn. 28; OVG SH, Beschl. v. 16.6.2022 - 3 MB 8/22 -, juris Rn. 11 f.) herangezogenen Stellungnahme Nr. 024/2021 des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) vom 1. September 2021 sowie auf der Grundlage der Stellungnahme („Statement on the BfR opinion regarding the toxicity of 2-chloroethanol“) der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food Safety Authority - EFSA) vom 25. Februar 2022 davon aus, dass die betroffenen Produkte der Antragstellerin nicht mit der erforderlichen Gewissheit als gesundheitsschädlich im Sinne des Art. 14 Abs. 2 lit. a BasisVO eingestuft werden können (so auch OVG SH, Beschl. v. 16.6.2022 - 3 MB 8/22 -, juris Rn. 7; in diesem Sinne wohl auch BayVGH, Beschl. v. 25.4.2022 - 20 CS 22.530 -, juris Rn. 31; a.A. OVG Hamburg, Beschl. v. 8.6.2022 - 3 Bs 263/21 -, V.n.b., zum Gegenstand des Verfahrens gemacht).

Der Antragsgegner stützt seine Auffassung, dass es sich bei den betroffenen Produkten der Antragstellerin um gesundheitsschädliche Lebensmittel handelt, in dem angefochtenen Bescheid allein auf die Stellungnahme des BfR vom 1. September 2021. Bei den vorliegenden Proben sei die vom BfR festgesetzte Grenze (Aufnahmemenge geringer Besorgnis) überschritten, weshalb das gesundheitliche Risiko nicht ausgeschlossen werden könne. Dies führe zur Beurteilung der Produkte als gesundheitsschädlich und begründe die Anordnung des Rückrufs und die erforderliche Warnung der Öffentlichkeit. Im gerichtlichen Verfahren macht der Antragsgegner geltend, die Stellungnahme der EFSA bestätigte die Einschätzung des BfR. Die Erwägungen des Antragsgegners stellen jedoch keine nachvollziehbare Risikobewertung dar, die die Schlussfolgerung der Gesundheitsschädlichkeit der Produkte der Antragstellerin tragen könnte.

Die Stellungnahmen des BfR und der EFSA hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (Beschl. v. 25.4.2022 - 20 CS 22.530 -, juris Rn. 30 f.) wie folgt bewertet:

„Die Stellungnahme des BfR enthält keine eindeutige Risikoeinschätzung hinsichtlich der Gesundheitsgefahr von 2-Chlorethanol. Auch der Stellungnahme des BfR lässt sich nämlich die Feststellung entnehmen, dass bei der Bestimmung der von mit 2-Chlorethanol kontaminierten Lebensmitteln ausgehenden Gesundheitsgefahr durchaus wissenschaftliche Unsicherheiten bestehen. Unter der Prämisse eines höchstmöglichen gesundheitlichen Schutzes und um Unterschätzungen vorzubeugen, stuft das BfR 2-Chlorethanol jedoch grundsätzlich in Anlehnung an Ethylenoxid als genotoxisch ein. Nach Einschätzung des Senats verbleiben jedoch auch nach der Risikobewertung durch das BfR Unsicherheiten, die durch die zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts noch nicht vorliegende Stellungnahme der EFSA vom 28. Januar 2022 (https://efsa.onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.2903/j.efsa.2022.7147) bestätigt und bekräftigt wurden. Auf der Grundlage der der EFSA vorliegenden Informationen, d.h. der im Rahmen des BfR-Gutachtens bewerteten Studien und zusätzlicher Daten, die von Interessengruppen vorgelegt wurden und vom BfR nicht bewertet wurden, hält die EFSA die Genotoxizität von 2-Chlorethanol für nicht schlüssig (vom Antragsgegner als „uneindeutig“ übersetzt). Auf dieser Grundlage würde die EFSA nicht empfehlen, Referenzwerte für die Risikobewertung oder gesundheitsbezogene Richtwerte festzulegen, bis das genotoxische Potenzial von 2-Chlorethanol geklärt ist. Die EFSA empfiehlt daher, In-vitro-Genmutationstests und In-vitro-Mikronukleustests mit 2-Chlorethanol gemäß den Empfehlungen der jüngsten technischen OECD-Leitlinien durchzuführen, um sein genotoxisches Potenzial zu klären. Falle das Ergebnis eines der Tests positiv aus, sollten die Empfehlungen des Wissenschaftlichen Ausschusses der EFSA (2011) befolgt werden. Wenn die Genotoxizität von 2-Chlorethanol endgültig geklärt und insgesamt negativ sei, würde die EFSA empfehlen, den Referenzpunkt für die Ableitung gesundheitsbezogener Richtwerte auf der Grundlage vorhandener Toxizitätsstudien zu 2-Chlorethanol festzulegen. Der Stellungnahme der EFSA kommt aufgrund des ihr zugewiesenen Aufgabenbereiches (vgl. Art. 22 f. BasisVO) besonderes Gewicht zu. Auf der Grundlage der Stellungnahmen des BfR vom 1. September 2021 und der EFSA vom 28. Januar 2022 geht der Senat davon aus, dass die Möglichkeit gesundheitsschädlicher Auswirkungen durch 2-Chlorethanol-haltige Lebensmittel festgestellt ist, wissenschaftlich aber noch Unsicherheit besteht.“

Dieser Einschätzung schließt sich der Senat an (ebenso OVG SH, Beschl. v. 16.6.2022 - 3 MB 8/22 -, juris Rn. 19).

Ergänzend ist hervorzuheben: Zu den krebserzeugenden Eigenschaften (Kanzerogenität) von 2-Chlorethanol lässt sich auf Basis der derzeit vorliegenden Informationen schon nach den Ausführungen des BfR mangels relevanter Daten keine sichere Aussage treffen. Dies ergibt sich sowohl aus der Stellungnahme des BfR vom 1. September 2021 als auch aus dessen aktualisierten FAQ vom 22. Juni 2022 („Somit kann zu den krebserzeugenden Eigenschaften von 2-Chlorethanol auf Basis der derzeit vorliegenden Informationen keine sichere Aussage getroffen werden.“). Die Stellungnahme der EFSA bestätigt dies.

Hinsichtlich der Genotoxität lässt sich diesen Stellungnahmen nach vorläufiger Einschätzung jedenfalls nichts entnehmen, was die Annahme einer Gesundheitsschädlichkeit bereits zu diesem Zeitpunkt hinreichend belegen würde. Belegt ist vielmehr lediglich die Möglichkeit gesundheitsschädlicher Auswirkungen durch 2-Chlorethanol-haltige Lebensmittel - und das auch nur auf der Grundlage einer erheblichen wissenschaftlichen Unsicherheit. Verdeutlicht wird diese erhebliche wissenschaftliche Unsicherheit u.a. durch folgende Gesichtspunkte:

- Der Stellungnahme der EFSA ist zu entnehmen:

- Die EFSA kann auf der Grundlage des bezeichneten Datenmaterials nicht auf die Genotoxität und Kanzerogenität von 2-Chlorethanol schließen. - „Based on the aforementioned data, EFSA could not conclude on the genotoxicity and carcinogenicity of 2-chloroethanol.“ (Summary Seite 3)

- Die Datengrundlage ist bezogen auf die Frage der Genotoxität veraltet und von geringer Verlässlichkeit. (...) Genmutation wurde in vivo nicht ermittelt. - „The assessment of the existing in vitro and in vivo genotoxicity data permitted to conclude that they are outdated and of low reliability. This was also in line with BfR opinion.In vitro tests are indicative of positive results for apical endpoints (gene mutation and clastogenicity), while in vivo some indication of negative results for apical endpoints (clastogenicity) was noted. Gene mutation was however not investigated in vivo.“ (Summary, Seite 3)

- (...) Das genotoxische Potential von 2-Chlorethanol sollte nach aktuellen Standards nach wie vor als nicht schlüssig angesehen werden. - „These new studies reduce some of the uncertainties on the existing data package, however, given the limitations of the old and new genotoxicity studies, the genotoxic potential of 2-chloroethanol, according to current standards, should be still considered inconclusive.“ (Toxicological assessment of 2-chloroethanol, Seite 7)

- Die EFSA betrachtet den Ansatz des BfR (entsprechende Behandlung zu Ethylenoxid bezüglich der Aufnahmemenge geringer Besorgnis) als zulässigen worst-case approach im Rahmen des Risikomanagements; nicht dagegen wird damit die Einordnung des Stoffes an sich oder bei Überschreitung des Schwellenwertes als gesundheitsschädlich bestätigt. - „BfR concluded that the available in vivo data are not suitable to waive the genotoxic effects observed in vitro with sufficient certainty. BfR concluded that the genotoxic and carcinogenic potency of 2-chloroethanol is not expected to exceed that of ethylene oxide after oral intake. EFSA agreed with this statement as a worst-case approach, given the uncertainties on genotoxicity as described by BfR and the differences between the two substances as highlighted by stakeholders.“(Toxicological assessment of 2-chloroethanol, Seite 7)

- Das genotoxische und kanzerogene Potential von 2-Chlorethanol ist nicht geklärt. - „The potential consumer exposure to 2-chloroethanol as a residue should be considered a priori as a concern since its genotoxic and carcinogenic potential have not been clarified and a threshold for a genotoxic substance cannot be assumed.“ (Exposure assessment – margin of exposure approach assessment, Seite 8)

- Erneuter Hinweis auf die Unschlüssigkeit der Genotoxität und Kanzerogenität von 2-Chlorethanol, selbst wenn Mutagenität (in Studien) als plausibel bezeichnet wird. „On the other hand, even though a mutagenic activity is considered plausible for 2-chloroethanol, the inconclusive genotoxicity and carcinogenicity assessment is partially related to the low reliability of the data or even lack of data.“ (Exposure assessment – margin of exposure approach assessment, Seite 8)

- In seinen aktualisierten FAQ vom 22. Juni 2022 weist das BfR bezüglich der Risikobewertung von 2-Chlorethanol auf „große Datenlücken“ hin. Es führt weiter zur Frage des gesundheitlichen Risikos von 2-Chlorethanol aus: „Für 2-Chlorethanol ist die Datenlage widersprüchlich und teilweise unvollständig. Somit kann zu den krebserzeugenden Eigenschaften von 2-Chlorethanol auf Basis der derzeit vorliegenden Informationen keine sichere Aussage getroffen werden. Aufgrund der vorliegenden Daten ist davon auszugehen, dass 2-Chlorethanol potentiell ebenfalls erbgutverändernd wirken kann.“ Zu dem letztgenannten Gesichtspunkt führt das BfR aber in seiner Stellungnahme vom 1. September 2021 lediglich aus, dass es (zahlreiche) Hinweise aus Tierstudien auf eine erbgutverändernde Wirkung von 2-Chlorethanol gebe. Die „In-vivo-Relevanz“ sei aber nicht abschließend geklärt. Im Einzelnen ist der Stellungnahme des BfR zu entnehmen, dass die Datenlage bezüglich der Mutagenität teilweise widersprüchlich ist und die herangezogenen Studien teilweise nicht überprüfbar sind bzw. formale Mängel aufweisen. Unter Berücksichtigung der Ausführungen auf Seite 5 bis 6 der Stellungnahme ergeben sich „in vitro“ - angesichts teilweise abweichender und nicht nachvollziehbarer Ergebnisse - lediglich Anhaltspunkte für eine Mutagenität. (Lediglich) diese konnten bislang „in vivo“ nicht widerlegt werden. Das dürfte auch der Einschätzung der EFSA entsprechen.

Diese erhebliche wissenschaftliche Unsicherheit führt dazu, dass die Annahme einer Gesundheitsschädlichkeit der betroffenen Produkte der Antragstellerin im Sinne des Art. 14 Abs. 2 lit. a Basis-VO nicht hinreichend nachvollziehbar belegt ist. Art. 14 Abs. 1, Abs. 2 lit. a BasisVO greift zwar nicht nur ein, wenn tatsächlich eine Schädigung der Gesundheit eingetreten ist; es reicht die Eignung zur Gesundheitsschädigung aus. Diese Eignung muss allerdings tatsächlich und konkret bestehen, d. h. der Stoff muss bestimmte feststellbare Eigenschaften aufweisen, die eine Gesundheitsschädigung verursachen können (vgl. Rathke, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, 182. EL, November 2021, Art. 4 BasisVO Rn. 39). Die insoweit beweisbelastete Behörde muss konkret dartun, dass durch den Verzehr eines Lebensmittels die Gesundheit von Menschen gefährdet sein kann, was im Ergebnis bedeutet, dass eine Maßnahme nach Art. 14 BasisVO nicht lediglich mit einer rein hypothetischen Betrachtung des Risikos begründet werden darf, die auf wissenschaftlich noch nicht verifizierte bloße Vermutungen gestützt ist (vgl. OVG SH, Beschl. v. 16.6.2022 - 3 MB 8/22 -, juris Rn. 10).

Gemäß Art. 14 Abs. 4 BasisVO sind bei der Beurteilung, ob ein Lebensmittel gesundheitsschädlich i. S. d. Art. 14 Abs. 2 lit. a BasisVO ist, die wahrscheinlichen sofortigen und/oder kurzfristigen und/oder langfristigen Auswirkungen des Lebensmittels nicht nur auf die Gesundheit des Verbrauchers, sondern auch auf nachfolgende Generationen (a), die wahrscheinlichen kumulativen toxischen Auswirkungen (b), und die besondere gesundheitliche Empfindlichkeit einer bestimmten Verbrauchergruppe, falls das Lebensmittel für diese Gruppe von Verbrauchern bestimmt ist (c), zu berücksichtigen. Für die Wahrscheinlichkeit, dass ein Lebensmittel gesundheitsschädliche Auswirkungen hat, reicht einerseits eine nur theoretische Möglichkeit gesundheitsschädlicher Auswirkungen nicht aus, andererseits bedarf es auch keiner an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Von der Wahrscheinlichkeit gesundheitsschädlicher Auswirkungen ist vielmehr dann auszugehen, wenn die wissenschaftlichen Auffassungen, die solche Auswirkungen erwarten, überwiegen. Dies kann allerdings nicht zahlenmäßig festgestellt werden; erforderlich ist vielmehr eine Gewichtung der wissenschaftlichen Qualifikation und der wissenschaftlichen Grundlagen sowie insbesondere, wie hoch in den einzelnen wissenschaftlichen Äußerungen die Wahrscheinlichkeit eingeschätzt wird (vgl. VGH BW, Beschl. v. 17.09.2020 - 9 S 2343/20 -, juris Rn. 14; Rathke, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, 182. EL, November 2021, Art. 4 BasisVO Rn. 47).

Betrachtet man die oben dargestellten wissenschaftlichen Aussagen zu 2-Chlorethanol anhand dieser Maßgaben, ist die Wahrscheinlichkeit gesundheitsschädlicher Auswirkungen aus Sicht des Senats derzeit nicht hinreichend nachvollziehbar (in diesem Sinne auch OVG SH, Beschl. v. 16.6.2022 - 3 MB 8/22 -, juris Rn. 23 f.). Das bedeutet aber, dass sowohl die Risikobewertung des Antragsgegners in dem angefochtenen Bescheid, die allein auf der Stellungnahme des BfR vom 1. September 2022 beruht, als auch die ergänzenden Erwägungen des Antragsgegners im Beschwerdeverfahren den Anforderungen an eine vertretbare Risikobewertung nicht entsprechen. Zutreffend hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in dem oben zitierten Beschluss festgestellt, dass auf der Grundlage der Stellungnahmen des BfR vom 1. September 2021 und der EFSA vom 28. Januar 2022 nur die „Möglichkeit“ gesundheitsschädlicher Auswirkungen durch 2-Chlorethanol-haltige Lebensmittel festgestellt ist. Er hat weiter hervorgehoben, dass damit gerade ein Fall des Art. 7 Abs. 1 BasisVO vorliegt, wonach vorläufige Risikomanagementmaßnahmen zur Sicherstellung des in der Gemeinschaft gewählten hohen Gesundheitsschutzniveaus getroffen werden, bis weitere wissenschaftliche Informationen für eine umfassendere Risikobewertung vorliegen (vgl. auch Rathke, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, 182. EL November 2021, Art. 7 BasisVO Rn. 9)

Eine Gesundheitsschädlichkeit der betroffenen Produkte im Sinne des Art. 14 Abs. 2 lit. a BasisVO folgt auch nicht allein daraus, dass sie den vom BfR in seiner Stellungnahme vom 1. September 2021 für 2-Chlorethanol definierten Schwellenwert nicht einhalten. Ist bereits die genotoxische und kanzerogene Potenz von 2-Chlorethanol nicht „schlüssig“ wissenschaftlich belegt, kann die Definition dieses Schwellenwertes im Sinne einer „Aufnahmemenge geringer Besorgnis“ bei der Prüfung des Kriteriums der Gesundheitsschädlichkeit keine darüberhinausgehenden Erkenntnisse vermitteln (anders: HambOVG, Beschl. v. 8.6.2022 - 3 Bs 263/21 -, V.n.b.). Der angefochtene Bescheid geht aber auf Seite 4 gerade hiervon aus. („Da bei den vorliegenden Proben diese vom BfR empfohlene Grenze überschritten ist, kann das gesundheitliche Risiko nicht ausgeschlossen werden. Dies führt zur Beurteilung als gesundheitsschädlich und begründet die Anordnung des Rückrufs und die erforderliche Warnung der Öffentlichkeit.“). Nicht gesagt ist damit allerdings, dass dieser Schwellenwert im Rahmen der Beurteilung, ob - und wenn ja welche - vorläufigen Risikomanagementmaßnahmen im Rahmen des Vorsorgeprinzips nach Art. 7 BasisVO zu treffen sind, keine bedeutsame Rolle spielen kann.

2. Besteht - wie hier - (nur) die Möglichkeit gesundheitsschädlicher Auswirkungen oder besteht hinsichtlich festgestellter Auswirkungen wissenschaftlich noch Unsicherheit, können nach Art. 7 Abs. 1 BasisVO vorläufige Maßnahmen des Risikomanagements getroffen werden. Die Zulässigkeit solcher Maßnahmen ist jedoch in mehrerlei Hinsicht eingeschränkt: Zugelassen sind nur vorläufige Maßnahmen, sie müssen zur Sicherstellung des Gesundheitsschutzniveaus erforderlich sein, sie müssen gemäß Abs. 2 Satz 1 verhältnismäßig sein, sie sind befristet, bis weitere wissenschaftliche Informationen für eine umfassendere Risikobewertung vorliegen und sie müssen nach Abs. 2 Satz 2 innerhalb angemessener Frist überprüft werden (vgl. Rathke, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, 182. EL November 2021, Art. 7 BasisVO Rn. 6).

Der Antragsgegner hat indessen in dem angefochtenen Bescheid keine Maßnahme des Risikomanagements getroffen, die den Vorgaben des Art. 7 BasisVO genügt. Die Verfügung des Antragsgegners ist ausweislich der Begründung seines Bescheids schon nicht auf Grundlage des Vorsorgeprinzips ergangen, sondern zur Abwehr einer bestehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit (vgl. zum insoweit bestehenden Unterschied Rathke, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, 182. EL, November 2021, Art. 7 BasisVO Rn. 11; BayVGH, Beschl. v. 25.04.2022 - 20 CS 22.530 -, juris Rn. 34). Denn der Antragsgegner geht in seinem Bescheid - wie erörtert - davon aus, dass die Voraussetzungen von Art. 14 Abs. 1 und Abs. 2 lit. a BasisVO vorliegen.

Um die angefochtene Verfügung gleichwohl unter Rückgriff auf das Vorsorgeprinzip zu rechtfertigen, was nicht von vorneherein ausgeschlossen sein mag (vgl. dazu HambOVG , Beschl. v. 8.6.2022 - 3 Bs 263/21 -, V.n.b.), muss die Maßnahme den allgemeinen Grundsätzen eines ordnungsgemäßen Risikomanagements gemäß Art. 6 Abs. 3 VO (EG) 178/2002 genügen und Ermessen ausgeübt werden (vgl. Meyer, in: Meyer/Streinz, LFGB, BasisVO, HCVO, 2. Aufl. 2012, Art. 7 BasisVO Rn. 27 ff.; Streinz, in: Streinz/Meisterernst, BasisVO, LFGB, 2021, Art. 7 BasisVO Rn. 22; OVG SH, Beschl. v. 16.6.2022 - 3 MB 8/22 -, juris Rn. 25; BayVGH, Beschl. v. 25.04.2022 - 20 CS 22.530 -, juris Rn. 37). Diesen Anforderungen entsprechen die Ausführungen im angefochtenen Bescheid nicht.

Gemäß Art. 3 Nr. 12 BasisVO bezeichnet der Ausdruck „Risikomanagement“ den von der Risikobewertung unterschiedenen Prozess der Abwägung strategischer Alternativen in Konsultation mit den Beteiligten unter Berücksichtigung der Risikobewertung und anderer berücksichtigenswerter Faktoren und gegebenenfalls der Wahl geeigneter Präventions- und Kontrollmöglichkeiten. Zwar können im Rahmen des Risikomanagements nach Art. 7 BasisVO auch über die Definition des Art. 3 Nr. 12 BasisVO hinaus weitere Maßnahmen, auch Verkehrsverbote, Produktrückrufe und Öffentlichkeitswarnungen zulässig sein (vgl. Rathke, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, 182. EL, November 2021, Art. 7 BasisVO Rn. 16 f.). Die getroffenen Maßnahmen müssen aber gleichwohl gemäß Art. 7 Abs. 2 Satz 1 BasisVO verhältnismäßig sein und dürfen den Handel nicht stärker beeinträchtigen, als dies zur Erreichung des in der Gemeinschaft gewählten hohen Gesundheitsschutzniveaus unter Berücksichtigung der technischen und wirtschaftlichen Durchführbarkeit und anderer angesichts des betreffenden Sachverhalts für berücksichtigenswert gehaltener Faktoren notwendig ist. Die Anwendung des Vorsorgegrundsatzes bedeutet indes nicht eine Risikobeherrschung im Sinne eines Nullrisikos. Vor diesem Hintergrund sind zur Umsetzung des Vorsorgeprinzips einschreitende Behörden gehalten, die mildeste Maßnahme zu wählen. Als Maßnahmen zur Verringerung eines Risikos sind oft Alternativen denkbar, die den Handel weniger einschränken, jedoch ebenfalls das angestrebte Schutzniveau gewährleisten können (vgl. OVG SH, Beschl. v. 16.6.2022 - 3 MB 8/22 -, juris Rn. 25).

In dem angefochtenen Bescheid geht der Antragsgegner von einer Gesundheitsschädlichkeit der betroffenen Produkte aus und sieht die getroffenen Maßnahmen als zwingende Folge an, ohne die nach Art. 7 BasisVO abzuwägenden Handlungsalternativen auch nur in den Blick zu nehmen. In dem Bescheid heißt es dementsprechend: „Dies führt zur Beurteilung der Produkte als gesundheitsschädlich und begründet die Anordnung des Rückrufs und die erforderliche Warnung der Öffentlichkeit. (...) Die Produkte dürfen daher nach Art. 14 Abs. 1 der VO (EG) 178/2002 nicht in den Verkehr gebracht werden. Durch das Inverkehrbringen durch Sie liegt mithin ein Verstoß gegen unmittelbar geltende EU-Vorschriften vor.“ Zwar finden sich in dem angefochtenen Bescheid insoweit Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit, als der Antragsgegner das öffentliche Interesse, den Verbraucher vor der Einnahme gesundheitsschädlicher Lebensmittel zu bewahren, den wirtschaftlichen Interessen der Antragstellerin gegenübergestellt und mit diesen abgewogen hat. Diese Erwägungen knüpfen aber an einen unzutreffenden Maßstab an, denn sie gehen ebenfalls von einer Gesundheitsschädlichkeit der Produkte aus und verkennen den bestehenden Handlungsspielraum (ähnlich OVG SH, Beschl. v. 16.6.2022 - 3 MB 8/22 -, juris Rn. 27; BayVGH, Beschl. v. 25.04.2022 - 20 CS 22.530 -, juris Rn. 38).

Auch das Vorbringen des Antragsgegners im Beschwerdeverfahren rechtfertigt keine andere Einschätzung. Der Antragsgegner geht weiterhin davon aus, dass die Produkte der Antragstellerin aufgrund ihres Gehalts an 2-Chlorethanol als gesundheitsschädlich im Sinne des Art. 14 Abs. 2 lit. a BasisVO gelten. Er behauptet mit Blick auf den vom Senat erteilten Hinweis auf den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 25. April 2022 (20 CS 22.530, juris) lediglich, dass die getroffenen Maßnahmen auch nach dem Vorsorgeprinzip des Art. 7 BasisVO gerechtfertigt seien und setzt sich nur mit der Frage auseinander, ob eine zeitliche Befristung solcher Maßnahmen erforderlich ist. Das genügt den zuvor dargestellten Maßgaben ersichtlich nicht.

Da der Antragsgegner sämtliche Maßnahmen der Nrn. 1 bis 4 des angefochtenen Bescheides auf der Grundlage einer nicht tragfähigen Risikobewertung und der daraus folgenden Annahme eines Verstoßes gegen Vorschriften nach Art. 1 Abs. 2 lit. a VO (EU) 2017/625 i.V.m. Art. 14 Abs. 1, Abs. 2 lit. a BasisVO angeordnet hat - das gilt ausdrücklich auch für die Datenanforderung unter Nr. 4 des Bescheides - und ein Rückgriff auf das Vorsorgeprinzip des Art. 7 BasisVO mangels einer ordnungsgemäßen Maßnahme des Risikomanagements ausscheidet, ist der Bescheid - einschließlich der Androhung des Zwangsgeldes - voraussichtlich insgesamt offensichtlich rechtswidrig.

Der Senat hebt hervor, dass Gegenstand der Überprüfung im vorliegenden Verfahren lediglich der - ggf. durch nachgeschobene Erwägungen konkretisierte - Bescheid ist, der sich aus den zuvor aufgezeigten Gründen als offensichtlich rechtswidrig darstellt (vgl. zur gerichtlichen Kontrolle des Ermessensspielraums auch Meyer, in: Meyer/Streinz, LFGB, BasisVO, HCVO, 2. Aufl. 2012, Art. 7 BasisVO Rn. 28). Ob der Antragsgegner auf der Grundlage der vom BfR vorgenommenen Risikobewertung von 2-Chlorethanol und unter Rückgriff auf den dort bestimmten Schwellenwert im Wege eines ordnungsgemäßen Risikomanagements nach Art. 7 BasisVO vergleichbare Maßnahmen in rechtlich nicht zu beanstandender Weise anordnen könnte, hatte der Senat dagegen nicht zu entscheiden.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG. Der Jahresbetrag der erwarteten wirtschaftlichen Auswirkung der Maßnahme (vgl. Nrn. 25.1 und 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, Fassung 2013, NordÖR 2014, 11) lässt sich auch nach Anhörung der Beteiligten nicht ermitteln. Von einer von Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für den Regelfall vorgesehenen Halbierung des Streitwerts sieht der Senat angesichts der finanziellen Bedeutung der Angelegenheit, die den Regelstreitwert deutlich übersteigen dürfte, ab.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).