Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 18.02.1998, Az.: 2 W 19/98

Neuer selbstständiger Beschwerdegrund bei verweigerter Akteneinsicht; Voraussetzungen von Haftanordnung und Haftbefehl; Anforderungen an eine ordnungsgemäße Ladung bei öffentlicher Zustellung trotz bekannter Geschäftsanschrift

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
18.02.1998
Aktenzeichen
2 W 19/98
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1998, 28969
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:1998:0218.2W19.98.0A

Fundstelle

  • OLGReport Gerichtsort 1998, 315-316

Amtlicher Leitsatz

§ 568 Abs. 2 ZPO: Neuer selbst. Beschwerdegrund bei verweigerter Akteneinsicht. - Haftbefehl: Keine ordnungsgemäße Ladung bei öffentlicher Zustellung trotz bekannter Geschäftsanschrift.

Gründe

1

Die sofortige weitere Beschwerde ist zulässig. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts enthält einen selbstständigen Beschwerdegrund (§ 568 Abs. 2 S. 2 ZPO). Zwar stimmen die Entscheidungen des Amtsgerichts Varel und des Landgerichts in der Sache überein. Die Entscheidung des Landgerichts beruht jedoch auf einer Verletzung wesentlicher Vorschriften des Beschwerdeverfahrens (dazu Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 568 Rn. 9 und 10).

2

Die Verfahrensbevollmächtigten des Schuldners hatten mit einem noch an das Amtsgericht gerichteten Schreiben vom 04.12.1997 gebeten, ihnen das Aktenzeichen des Landgerichts mitzuteilen, und um Akteneinsicht für in Oldenburg zugelassene Rechtsanwälte ersucht. Das Schreiben wurde an das Landgericht zur Akte nachgereicht und ging dort als Telefax am 08.12.1997 und im Original am 09.12.1997 ein. Am 05.01.1998 wurde in der Sache entschieden, ohne insbesondere die erbetene Akteneinsicht gewährt zu haben. Dem Schuldner ist damit das rechtliche Gehör versagt worden.

3

Das Recht auf Akteneinsicht (§ 299 ZPO) ist wesentlicher Teil der Parteiöffentlichkeit und dient insbesondere der Verwirklichung des durch Art. 103 GG verfassungsrechtlich garantierten Anspruchs auf Gewährung des rechtlichen Gehörs (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, a.a.O., § 299 Rn. 2). Gleichwohl stellt nicht jede vorenthaltene Akteneinsicht ein Verstoß gegen dieses Gebot dar; entscheidend sind immer die Umstände des Einzelfalls (BVerwG NJW 1988, 1280 [BVerwG 03.11.1987 - 9 C 235/86] und NJW 1990, 1313). Hier hatte der Schuldner von dem gesamten bereits seit Dezember 1996 anhängigen Verfahren keine Kenntnis gehabt und von der Existenz des Haftbefehls erstmals im Oktober 1997 erfahren. In seinen Schriftsätzen hatte er darauf hingewiesen, dass nach seiner Ansicht die Voraussetzungen für einen Antrag auf Abgabe der eidesstattlichen Versicherung (§ 807 ZPO) nicht vorliegen könnten. Die Bitte um Akteneinsicht war vor diesem Hintergrund in keiner Weise missbräuchlich, sondern sachgerecht und offensichtlich darauf gerichtet, weitere Erkenntnisse zu erhalten, um das eingelegte Rechtsmittel vor dem Landgericht weiter erläutern zu können. Diese Möglichkeit wurde dem Schuldner genommen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Entscheidung des Landgerichts bei korrektem Vorgehen anders ausgefallen wäre (vgl. BVerfGE 10, 177, 184) [BVerfG 03.11.1959 - 1 BvR 13/59], zumal wenn der Schuldner die Ausführungen zu seinem "ehemaligen" Geschäftssitz präzisiert hätte. Die Gehörsverletzung ist damit beachtlich.

4

Das Rechtsmittel ist begründet. Der Haftbefehl hätte nicht ergehen dürfen.

5

Haftanordnung und Haftbefehl setzten voraus, dass der Schuldner trotz ordnungsgemäßer Ladung im Termin ausgeblieben ist. Der Schuldner war hier nicht ordnungsgemäß geladen. Da die Anordnung einer Entziehung der persönlichen Freiheit das Grundgesetz verletzt, wenn sie nicht insgesamt auf einer Entscheidung des Richters beruht, ist hier auch die vom Rechtspfleger bewilligte öffentliche Zustellung zu prüfen (OLG Düsseldorf Rpfl. 1993, 412). Der Termin ist hier zwar in korrekter Art öffentlich bekannt gemacht und der Schuldner in gleicher Form dazu geladen worden. Gleichwohl konnte diese Bekanntmachung die in § 203 Abs. 1 ZPO geregelte Zustellungsfiktion nicht auslösen. Denn eine Zustellung kann im Hinblick auf das damit zur Verwirklichung stehende rechtliche Gehör in öffentlicher Form verfahrensrechtlich nur gerechtfertigt werden, wenn eine andere Art der Zustellung nicht oder nur schwer durchführbar ist (BVerfG NJW 1988, 2361 [BVerfG 26.10.1987 - 1 BvR 198/87]; BGH NJW 1992, 2280, 2281) [BGH 06.04.1992 - II ZR 242/91]. Dies war hier nicht der Fall. Der Schuldner hat vorgetragen, der Gläubigerin sei seine Geschäftsanschrift .......... in ..... H...... bekannt gewesen. Dort sei er seit August 1996 bis Ende Dezember 1997 geschäftsansässig gewesen. Dieses Vorbringen hat die Gläubigerin zu keinem Zeitpunkt bestritten. Sie hat nur darauf hingewiesen, dass ihr die Wohnanschrift des Schuldners nicht bekannt gewesen sei, und daraus "gefolgert", dass der Aufenthalt des Schuldners offenkundig unbekannt sei. Eine Zustellung an den Schuldner - persönlich (§ 900 Abs. 3 ZPO) - wäre rechtlich auch an seinem Geschäftssitz möglich gewesen (vgl. § 181 ZPO). Der Senat muss davon ausgehen, dass dies auch in tatsächlicher Hinsicht möglich gewesen wäre, jedenfalls hat die Gläubigerin nichts Gegenteiliges vorgebracht. Die öffentliche Zustellung ist damit zu Unrecht erfolgt.

6

Hinzu kommt folgendes: Der Schuldner hat vorgetragen, er sei am 15.07.1997 - also etwa einen Monat vor dem anberaumten Termin zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung - bei der Gläubigerin in F........ gewesen. Er habe für alle Zustellungen Rechtsanwalt W...... in H...... zu seinem Zustellungsvertreter bestellt. Bei dieser Gelegenheit sei das vorliegende Verfahren ihm gegenüber in keiner Weise erwähnt worden. Die Gläubigerin ist auch diesem Vorbringen nicht entgegengetreten. Der Sachverhalt lässt darauf schließen, dass die Gläubigerin den Schuldner wissentlich in Unkenntnis über den anberaumten Termin lassen wollte. In Verbindung mit dem Umstand, dass sie gegenüber dem Amtsgericht weder auf die Geschäftsadresse noch auf den Zustellungsbevollmächtigten des Schuldners hingewiesen hat und dem Verfahren - nach erfolgter öffentlicher Zustellung - unter Aufrechterhaltung des Antrags auf Erlass des Haftbefehls seinen Fortgang ließ, stellt sich das Verhalten der Gläubigerin als Verstoß gegen den das gesamte Recht beherrschenden Grundsatz von Treu und Glauben dar. Das Verhalten des Schuldners, der seinen melderechtlichen Verpflichtungen offensichtlich gezielt nicht nachkommt, tritt vor diesem Hintergrund ausnahmsweise zurück.