Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 03.02.1998, Az.: 5 U 77/97

Entkräftung des Vorwurfs unzureichender Diagnostik und Befundung durch Überweisung an entsprechende Fachärzte; Behandlungsfehler unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung von Befunderhebungspflichten; Trotz Bemühungen um differenzialdiagnostische Abklärung des Beschwerdebildes Vorliegen eines Behandlungsfehlers; Pflichtgemäßes Handeln durch Einschaltung von Fachärzten zum Ausschluss einer lebensbedrohenden Erkrankung durch eine entsprechende Spezialdiagnostik; Beweiserleichterungen aus dem Gesichtspunkt von Dokumentationsversäumnissen; Pflichtwidriges Handeln durch das Unterlassen einer vollständigen Übersendung der Krankenunterlagen an den jeweils befassten Facharzt; Nur Mitteilung der wesentlichen Befunde in der medizinischen Praxis üblich

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
03.02.1998
Aktenzeichen
5 U 77/97
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1998, 28976
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:1998:0203.5U77.97.0A

Fundstellen

  • MDR 1998, 1351-1352 (Volltext mit red. LS)
  • OLGReport Gerichtsort 1998, 224-226

Amtlicher Leitsatz

Der Vorwurf unzureichender Diagnostik und Befundung kann durch Überweisungen an entsprechende Fachärzte entkräftet werden.

Tatbestand

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Die Klägerin und Berufungsklägerin begehrt die Zahlung von Schmerzensgeld sowie die Feststellung der Ersatzpflicht für zukünftige Schäden im Zusammenhang mit der ärztlichen Behandlung durch die Beklagte, die von April 1980 bis Mitte 1986 gedauert hat.

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Die Klägerin erlitt am 4.3.1980 bei einem Verkehrsunfall erhebliche Verletzungen, unter anderem eine Gehirnerschütterung mit Blutergussbildung über dem Scheitelbein links und eine Zerrung der Halswirbelsäule. Wegen der unfallbedingten Verletzungen befand sich die Klägerin vom 4.3.1980 bis zum 3.4.1980 in stationärer Behandlung im ... Krankenhaus in ....

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Nach ihrer Entlassung aus dem ... Krankenhaus begab sich die Klägerin im April 1980 in die Behandlung der Beklagten, die Ärztin für Allgemeinmedizin ist. Dabei gab sie an, seit dem Verkehrsunfall unter zeitweiser Atemnot sowie unter Schmerzzuständen zu leiden. Die Beklagte diagnostizierte bei der Klägerin ein "asthma bronchiale" und hegte den Verdacht auf eine coronare Herzkrankheit. Die von der Klägerin angegebenen anfallsartigen linksseitigen Kopfschmerzen führte sie auf eine Trigeminus- Neuralgie zurück.

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Die Beklagte überwies die Klägerin in der Folgezeit bis zum Abbruch der Behandlung im Jahre 1986 an mehrere Fachärzte und Kliniken, wobei die Klägerin zum Teil wochenlang stationär behandelt wurde.

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Die Klägerin wirft der Beklagten vor, sie habe falsche Diagnosen gestellt, im Hinblick auf eine unstreitig angenommenen Trigeminus- Neuralgie- unterlassen, diese falsche Diagnose durch eine Kontrolluntersuchung zu überprüfen, falsche Diagnosen anderer Ärzte nicht korrigiert und trotz ausbleibender Besserung des Gesundheitszustands der Klägerin die Behandlung nicht geändert, schließlich auch, dass die Beklagte die rechtzeitige und zutreffende

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Diagnose dadurch unmöglich gemacht habe, dass sie die später eingeschalteten Fachärzte von den Erkenntnissen der zuvor befassten Fachärzte nicht vollständig informiert habe; wären alle Fachärzte über die Befunde der vorher eingeschalteten Kollegen unterrichtet worden, wäre die zutreffende Diagnose schon Jahre zuvor gestellt worden. Ferner habe die Beklagte ihre Dokumentationspflicht verletzt, da sie in ihrer Patientenkartei nicht die von der Klägerin angegebenen Beschwerden und ihre Diagnosen aufgeführt habe.

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Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass es weder eine Fehlleistung der Beklagten darstelle, dass sie eine durch den Verkehrsunfall verursachte Kieferhöhlenfraktur nicht entdeckt habe, noch dass ihr vorgeworfen werden könne, falsche Diagnosen aufgestellt, gebotene Behandlungen selbst oder die vollständige Unterrichtung der von ihr eingeschalteten Fachärzte versäumt zu haben.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.

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Die auf Grund der in der erstinstanzlichen Beweisaufnahme nach sachverständiger Beratung getroffenen Feststellungen belegen keinen Behandlungsfehler der Beklagten bei der ärztlichen Betreuung der Klägerin.

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Zunächst kommt ein Behandlungsfehler unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung von Befunderhebungspflichten nicht deshalb in Betracht, weil es die Beklagte unterlassen hatte, eine röntgenologische Untersuchung der Kieferhöhlen der Beklagten oder sogar eine Kieferenhöhlenendoskopie zu veranlassen. Das Unterlassen dieser Maßnahmen im Rahmen der von der Beklagten vorgenommenen Bemühungen um differenzialdiagnostische Abklärung des Beschwerdebildes stellt keinen Behandlungsfehler der Beklagten dar, denn im vorliegenden Fall hatte die Beklagte alle in Betracht kommenden Fachärzte eingeschaltet, darunter auch solche, in deren Fachwissen das Erkennen des später festgestellten Defekts in der Kieferhöhle gestellt ist. Der Sachverständige Prof. Dr. L... hat in seinem Gutachten überzeugend ausgeführt, dass die Beklagte pflichtgemäß handelte, indem sie durch die Einschaltung von Fachärzten zunächst bemüht war, lebensbedrohende Erkrankungen, für die sie auf Grund der geschilderten Symptomatik durchaus Anhalt hatte, durch eine entsprechende Spezialdiagnostik auszuschließen. Die von ihr gestellte Diagnose eines Asthma bronchiale bzw. einer chronisch obstruktiven Bronchitis wurde von verschiedenen, darauf spezialisierten Fachärzten unabhängig voneinander bestätigt. Anlass für weitergehende Untersuchungen haben diese fachärztlichen Untersuchungen der Beklagten als Hausärztin nicht gegeben. Dies gilt auch hinsichtlich der in der Klinik ,..." in Bad ... durchgeführten stationären Untersuchung der Klägerin. Soweit in dem Arztbrief der Klinik ,...." eine Kieferhöhlenendoskopie angesprochen worden war, handelt es sich bei diesem Hinweis nach den Ausführungen des Sachverständigen um die Anregung einer differenzialdiagnostischen Maßnahme in dem internen HNO- ärztlichen Konsil, die lediglich der Klinik Anlass gegeben hätte, diese Untersuchung vorzunehmen. Im Übrigen hatte die Beklagte im Oktober 1985 den HNO- Arzt Dr. H... hinzugezogen, der eine Endoskopie nicht empfohlen hatte.

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Auch handelte die Beklagte nicht pflichtwidrig, als sie die Kopfschmerzen der Klägerin als Trigeminus- Neuralgie deutete. Der Vorwurf der Klägerin, die Beklagte habe für diese Diagnose eine sorgfältige Differenzialdiagnostik zum Ausschluss einer organischen Ursache der Beschwerden unterlassen, geht dabei fehl, da die Beklagte gerade zu diesem Zweck bereits 1980 eine fachärztliche Untersuchung der Beklagten durch einen Neurologen und später durch weitere Fachärzte zur Erkennung einer tiefgreifenden Ursache für das Bronchialasthma der Klägerin veranlasst hat. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der von der Klägerin beklagten Kopfschmerzen; hierzu hat der Sachverständige ausgeführt, dass es dem von der Beklagten eingeschalteten Neurologen oblegen hätte, im Hinblick auf eine bestimmte Schmerzsymptomatik im Gesichtsbereich weitere diagnostische Maßnahmen durchzuführen oder der Beklagten konkrete diagnostische Maßnahmen zu empfehlen. Dies ist hier jedoch nicht geschehen. Zwar hätte sich eine weitere Aufklärung aufgedrängt, wenn sich im weiteren Verlauf ein lokalisierter Schmerz über der Kieferhöhle eingestellt hätte. Die Klägerin hat jedoch nicht bewiesen, dass sie der Beklagten derartige Beschwerden mitgeteilt hätte.

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Die Vernehmung der Beklagten als Partei hat diese Behauptung nicht bestätigt; die Klägerin hat selbst in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht die von ihr angegebenen Beschwerden anders beschrieben. Soweit der Ehemann der Beklagten in seiner Zeugenvernehmung die Beschwerden wiederum anders dargestellt hat, kommt es, worauf das Landgericht zu Recht abhebt, darauf nicht an, da die von dem Zeugen beschriebenen Schmerzen nicht dem Schmerzbild entsprechen, das nach den Ausführungen des Sachverständigen den Verdacht auf eine Kieferhöhlenfraktur nahelegt.

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Im Hinblick auf die behauptete Schmerzsymptomatik können sich zugunsten der Klägerin auch keine Beweiserleichterungen aus dem Gesichtspunkt von Dokumentationsversäumnissen ergeben. Dabei kann dahinstehen, ob die Beklagte es überhaupt pflichtwidrig versäumt hat, von der Klägerin geschilderte Beschwerden zu dokumentieren. Für den Umstand, dass die Klägerin der Beklagten die behaupteten Beschwerden in einer Form beschrieben hatte, die Anlass für weitergehende differenzialdiagnostische Untersuchungen hätte geben können, ist die Klägerin beweisbelastet; diesen Beweis hat sie aber nicht erbracht. Schließlich wäre es auch dann, wenn eine bestimmte Schmerzsymptomatik im Gesichtsbereich Anlass zu weiteren diagnostischen Maßnahmen gegeben hätte, zur Überzeugung des Senats ausgeschlossen, dass eine sofortige differenzialdiagnostische Untersuchung der Beklagten zur Feststellung der Ursache der Beschwerden der Klägerin geführt hätte. Die Beklagte hatte 1985 noch eine HNO- ärztliche Untersuchung der Klägerin durch den Facharzt Dr. H... veranlasst, der den Knochendefekt nicht feststellte. Auch der nach dem Wechsel der Hausärztin eingeschaltete Kieferchirurg Dr. W... hatte 1988 nach einer Kieferhöhlenendoskopie den Knochendefekt nicht entdecken können.

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Soweit die Klägerin der Beklagten als Behandlungsfehler vorwirft, dass sie die bei dem Verdacht auf eine Trigeminus- Neuralgie gebotene sorgfältige Differenzialdiagnostik versäumt und die hierfür erforderlichen gezielten Kieferaufnahmen unterlassen habe, obwohl die Erhebung derartiger Kontrollbefunde zum medizinischen Basiswissen gehörten, steht auf Grund der überzeugenden Darstellung des Sachverständigen fest, dass die Beklagte als Allgemeinmedizinerin ihren Pflichten nachgekommen ist, indem sie einen Facharzt auf dem Gebiet der Neurologie mit der Erstellung einer Spezialdiagnostik befasst hatte.

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Dies gilt auch für den in der Berufungsbegründung erhobenen Vorwurf, dass die Beklagte es unterlassen habe, die einmal aufgestellte Diagnose vor dem Hintergrund der von den Fachkliniken und Fachärzten mitgeteilten Befunde erneut zu überprüfen. Vielmehr durfte die Beklagte auf die von den Fachärzten erhobenen Befunde vertrauen, da die Fachärzte über wesentlich bessere diagnostische Mittel verfügten als sie selbst.

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Für ihren vor allem in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erhobenen Vorwurf, die Beklagte habe ein frühzeitiges Erkennen der wahren Ursache ihrer Beschwerden vorwerfbar verhindert, weil sie von Anfang an fälschlicherweise und irreführend auf eine Ursache aus dem psychischen Formenkreis abgestellt habe, besteht kein Anhalt, zumal die von ihr eingeschalteten Fachärzte grundsätzlich verpflichtet sind, im Rahmen ihrer fachlichen Zuständigkeit Behandlungsgrund und das entsprechende Behandlungsvorgehen festzulegen.

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Schließlich handelte die Beklagte auch nicht pflichtwidrig, indem sie eine vollständige Übersendung der Krankenunterlagen an den jeweils befassten Facharzt unterließ. Hierzu hat der Sachverständige ausgeführt, dass nur eine Mitteilung der wesentlichen Befunde in der medizinischen Praxis üblich ist. Hierauf kommt es im Übrigen auch nicht an, weil den Unterlagen ein Hinweis auf eine Kieferhöhlenfraktur nicht zu entnehmen ist.

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Daher kann dahinstehen, ob der Knochendefekt in der linken Kieferhöhle überhaupt durch den Verkehrsunfall verursacht wurde und eine fortlaufend auftretende Sinusitis mit der weiteren Folge eines Asthma bronchiale ausgelöst hatte. Denn der Beklagten kann nicht vorgeworfen werden, dass sie -als Hausärztin- diese auch von mehreren auf die Behandlung von Hals- Nasen- und Ohrenerkrankungen spezialisierten Fachärzten nicht erkannte und nach ihrem eigenen Vorbringen erst nach 12 jähriger Behandlungsdauer eher zufällig entdeckte Ursache für ihre Beschwerden nicht herausgefunden hat. Der Senat sieht daher keinen Anlass, sich zur weiteren Aufklärung um die Beiziehung von Krankenunterlagen an dem Verfahren unbeteiligter Fachärzte zu bemühen. Eine solche Verfahrensweise ist auch nach den gesteigerten Aufklärungspflichten im Arzthaftungsprozess nicht geboten; im Übrigen hat die Klägerin nicht vorgetragen, welche ärztlichen Unterlagen über eine fachärztliche Behandlung der Klägerin während der Dauer ihrer Behandlung durch die Beklagte, die auf eine Pflichtverletzung der Beklagten hinweisen könnten, noch beigezogen werden könnten.