Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 30.03.2006, Az.: L 6 AS 116/06 ER
Berücksichtigung einer Unfallrente als Einkommen bei Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts; Privilegierung der Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung für das Recht der Arbeitslosenhilfe; Grundsicherung für Arbeitssuchende
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 30.03.2006
- Aktenzeichen
- L 6 AS 116/06 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 13138
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2006:0330.L6AS116.06ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - 23.02.2006 - AZ: S 46 AS 99/06 ER
Rechtsgrundlagen
- § 11 Abs. 1 S. 1 SGB II
- § 11 Abs. 3 SGB II
- § 13 SGB II
- § 206 SGB III
- Art. 3 Abs. 1 GG
Redaktioneller Leitsatz
Eine Unfallrente ist bei der Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Arbeitssuchende als Einkommen zu berücksichtigen.
Tenor:
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 23. Februar 2006 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Grundsicherung für Arbeitsuchende -. Die Antragsgegnerin bewilligte mit Bescheid vom 14. November 2005 für die Monate Dezember 2005 bis Mai 2006 Leistungen in Höhe von 713,16 EUR monatlich. Dabei berücksichtigte sie monatliche Kosten für Unterkunft und Heizung in voller Höhe von 500 EUR. Auf die Regelleistungen für erwerbsfähige Hilfebedürftige in Höhe von 345 EUR rechnete sie die Verletztenrente, die der Antragsteller in Höhe von 161,84 EUR monatlich bezieht, unter Berücksichtigung einer Versicherungspauschale von 30 EUR monatlich an. Den Widerspruch wies sie zurück (Widerspruchsbescheid vom 24. Januar 2006). Dagegen hat der Antragsteller vor dem Sozialgericht (SG) Hannover Klage erhoben und den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt, den das SG durch Beschluss vom 23. Februar 2006 abgelehnt hat. Der am 3. März 2006 eingelegten Beschwerde, mit der der Antragsteller die Anrechnung der Unfallrente und die fehlende Berücksichtigung seiner Behinderung rügt, hat es nicht abgeholfen und sie dem Landessozialgericht (LSG) zur Entscheidung vorgelegt.
Die Beschwerde ist unbegründet. Denn die Unfallrente ist als Einkommen zu berücksichtigen (so im Ergebnis auch LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 21. März 2005 - L 8 AS 27/05 ER).
Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind als Einkommen zu berücksichtigen Einnahmen in Geld oder Geldeswert mit Ausnahme der Leistungen nach dem SGB II, der Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) und nach den Gesetzen, die eine entsprechende Anwendung des BVG vorsehen und der Renten oder Beihilfen, die nach dem Bundesentschädigungsgesetz für Schaden an Leben sowie an Körper oder Gesundheit erbracht werden, bis zur Höhe der vergleichbaren Grundrente nach dem BVG. Über diese schon in den Bestimmungen über das bei der Gewährung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) zu berücksichtigende Einkommen enthaltene Regelung (§ 194 Abs. 3 Ziff.6 in der bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassung des SGB Drittes Buch [III] - Arbeitsförderung -) hinaus ist in § 11 Abs. 3 SGB II die Vorschrift des früheren Bundessozialhilfegesetzes (§ 77 BSHG) über die Einkommensberücksichtigung im Wesentlichen übernommen worden. Des Weiteren ermächtigt § 13 SGB II wie zuvor § 206 SGB III, durch Rechtsverordnung zu bestimmen, welche weiteren Einnahmen nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind und wie das Einkommen im Einzelnen zu berechnen ist. Die in § 2 der bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Arbeitslosenhilfe-Verordnung (Alhi-VO 2002) genannten Einnahmen, die nicht als Einkommen galten, finden sich zum Teil in § 11 SGB II und § 1 Abs. 1 Arbeitslosengeld II-Verordnung wieder. Die Privilegierung der Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung für das Recht der Alhi (BSG SozR 4-4220 § 11 Nr. 2 S 12 ) in § 2 Satz Ziff.2 Alhi-VO 2002, nach der diese bis zur Höhe des Betrages, der in der Kriegsopferversorgung bei gleicher Minderung der Erwerbsfähigkeit als Grundrente und Schwerstbeschädigtenzulage gewährt würde, nicht als Einkommen galt, hat der Verordnungsgeber nicht in die Regelungen über die Grundsicherung für Arbeitsuchende übernommen. Diese Entscheidung, die in den Verantwortungsbereich des Verordnungsgebers fällt, kann nicht über § 11 Abs. 3 Ziff.1 Buchst a SGB II korrigiert werden (ebenso Hengelhaupt in Hauck/Noftz SGB II K § 11 Rn 252, Brühl in LPK-SGB II § 11 Rn 43; a.A. SG Hamburg Beschluss vom 24. Januar 2006 - S 55 AS 1404/05 ER, Hänlein in: Gagel SGB II § 11 Rn 62, siehe auch Grimmke jurisPR-SozR 23/2004 Anm 3).
Nach dieser Norm sind nicht als Einkommen zu berücksichtigen Einnahmen, soweit sie als zweckbestimmte Einnahmen einem anderen Zweck als die Leistungen nach dem SGB II dienen und die Lage des Empfängers nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfertigt wären. Die Vorschrift regelt die Einkommensberücksichtigung im Wesentlichen wie das Sozialhilferecht (BT-Drs 15/1516 S 53). Danach gehören Verletztenrenten aus der gesetzlichen Unfallversicherung in voller Höhe zum Einkommen (BSGE 90, 172 [BSG 03.12.2002 - B 2 U 12/02 R]). Der gegenüber dem Sozialhilferecht (§ 77 der bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassung des BSHG, § 83 SGB Zwölftes Buch - Sozialhilfe -) leicht abweichende Wortlaut des § 11 Abs. 3 SGB II rechtfertigt kein anderes Ergebnis. Denn entscheidend bleibt, dass eine Zweckbestimmung der Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nicht erkennbar ist, auch wenn diese verschiedene Funktionen erfüllt (ausführlich hierzu BSGE 90, 172 [BSG 03.12.2002 - B 2 U 12/02 R]/175 f). Am ehesten lässt sich eine Lohnersatzfunktion als Leistungszweck der Verletztenrente und damit derselbe Zweck unmittelbar aus dem Gesetz ableiten, den Leistungen nach dem SGB II haben.
Schließlich ist eine verfassungskonforme Auslegung hin zu der o.g. früheren Privilegierung der Verletztenrente wegen einer ansonsten verfassungswidrigen Ungleichbehandlung im Verhältnis zu den Empfängern zivilrechtlichen immateriellen Schadensausgleichs (so SG Hamburg a.a.O.) nicht angezeigt (vgl BSGE 90, 172 [BSG 03.12.2002 - B 2 U 12/02 R]/178 ff). Zwar gebietet Art 3 Abs. 1 Grundgesetz, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung verwehrt. Die leistungsrechtlichen Entscheidungen eines Sozialleistungssystems sind vorwiegend sozialpolitische Entscheidungen. Diese sind nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinzunehmen, solange die Erwägungen des Gesetzgebers weder offensichtlich fehlsam noch mit der Wertordnung des Grundgesetzes unvereinbar sind (BVerfGE 89, 365 [BVerfG 08.02.1994 - 1 BvR 1237/85]/376; s auch Nichtannahmebeschluss vom 22. Mai 2003 - 1 BvR 452/99). Davon kann bei der Übernahme sozialhilferechtlicher Regelungen über die Einkommensberücksichtigung in das SGB II nicht die Rede sein.
Der Vortrag des Antragstellers über erhöhte Aufwendungen wegen unfallbedingter Behinderungen an den Händen vermag einen Anspruch auf höhere Leistungen nicht zu begründen. Denn ein Mehrbedarf aus medizinischen Gründen ist beschränkt auf eine kostenaufwändige Ernährung (§ 21 Abs. 5 SGB II).
Soweit der Antragsteller mit dem Vortrag, er könne mit dem bewilligten Geld nicht auskommen, sich gegen die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Leistungen (s z.B. VG Bremen Urteile vom 27. Januar 2006 - S 3 K 639 u 427/05; Däubler NZS 2005, 225; Münder NJW 2005, 3210 [BGH 28.07.2005 - III ZR 290/04]/3212; Sartorius info also 2005, 56) wenden will, kann dem im Eilverfahren nicht nachgegangen werden. Der Antragsteller erhält jedenfalls die zum Lebensunterhalt unerlässlichen Leistungen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).