Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 23.03.2006, Az.: L 6 AS 96/96 ER
1-Personen-Haushalt; 2-Personen-Haushalt; Abgrenzung; angemessene Unterkunft; angemessene Unterkunftskosten; Angemessenheit; Angemessenheitsmaßstab; Angemessenheitsprüfung; Arbeitslosengeld II; Arbeitsuchender; Bedarfsgemeinschaft; Ein-Personen-Haushalt; Einzelfall; Einzelfallprüfung; Fehlen; Grundsicherung; Größe; Haushaltsgemeinschaft; Heizung; Lebensverhältnisse; Maßstab; Mehrpersonenhaushalt; Mietwohnung; Nichtvorliegen; Prüfung; reine Wohngemeinschaft; tatsächliche Aufwendung; Unterkunft; Unterkunftskosten; Wirtschaftsgemeinschaft; Wohnfläche; Wohngemeinschaft; Wohnungsgröße; Wohnverhältnisse; Zwei-Personen-Haushalt
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 23.03.2006
- Aktenzeichen
- L 6 AS 96/96 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 53165
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG - 02.02.2006 - AZ: S 30 AS 19/06 ER
Rechtsgrundlagen
- § 22 Abs 1 S 1 SGB 2
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Bei der Bestimmung der Angemessenheit von Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in einer Wohngemeinschaft können nicht ohne Weiteres die für einen Mehrpersonenhaushalt angemessenen Größen zugrundegelegt werden.
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 2.Februar 2006 aufgehoben.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung unter dem Vorbehalt der Rückforderung bei Unterliegen im Hauptsacheverfahren verpflichtet, der Antragstellerin über den 31.Dezember 2005 hinaus bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens bis zum 31.Mai 2006 Leistungen für Unterkunft und Heizung weiterhin in Höhe von 262,70€ monatlich zu erbringen.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
Gründe
I. Die Antragstellerin lebt mit einem anderen Mieter in einer Wohngemeinschaft in B., Landkreis Celle. Gemeinsam haben sie zum 1. August 2004 einen Mietvertrag über 3 Zimmer, 1 Küche und 1 Bad sowie 1 WC mit 68 m² Wohnfläche und über ein Studio mit einer Grundfläche von ungefähr 40 m² (Wohnfläche ungefähr 10 m²) geschlossen. Der monatliche Mietzins beträgt insgesamt 410,40 €. Des Weiteren sind Vorauszahlungen für Betriebskosten in Höhe von 45,00 € und für Heizungskosten in Höhe von 70,00 € monatlich zu zahlen. Seit 1. Juli 2005 erhält die Antragstellerin Leistungen für Unterkunft und Heizung. Mit Schreiben vom 29. Juni 2005 ist der Antragstellerin mitgeteilt worden, dass die Unterkunftskosten den Bedarf, der nach den Bestimmungen des Sozialgesetzbuches (SGB) II anerkannt werden könne, überschritten. Des Weiteren wurde die Antragstellerin aufgefordert, die Unterkunftskosten durch Wohnungswechsel, Untervermietung bis zum 31. Dezember 2005 zu senken. Danach werde nur noch ein gekürzter Betrag berücksichtigt. Mit Bescheid vom 27. Dezember 2005 sind der Antragstellerin Leistungen für Unterkunft und Heizung für den Monat Dezember 2005 in Höhe von 262,70 € und für die Monate Januar bis Mai 2006 in Höhe von 227,15 € bewilligt worden. Als angemessene Unterkunftskosten ist eine Kaltmiete in Höhe von 169,65 € (39 m² x 4,35 €) berücksichtigt worden. Dagegen hat die Antragstellerin mit Schreiben vom 6. Januar 2006 Widerspruch eingelegt und am 10. Januar 2006 vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg beantragt, ihr im Wege der einstweiligen Anordnung die Kosten für Unterkunft und Heizung in voller Höhe zu bewilligen. Sie hat darauf hingewiesen, dass der Mietzins deutlich unterhalb des Wertes der rechten Spalte der - nach der Rechtsprechung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen hier heranzuziehenden - Wohngeldtabelle für die Gemeinden des Landkreises Celle liege.
Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung durch Beschluss vom 2. Februar 2006 abgelehnt: Zwar seien die Werte der aktuellen Wohngeldtabelle heranzuziehen, da für den Landkreis Celle kein Mietspiegel existiere. Allerdings sei der für Wohnungen von 2-Personenhaushalten als angemessen anzusehende Betrag zugrunde zu legen und entsprechend der in der Wohngemeinschaft lebenden Personen - hier durch 2 - zu teilen. Dann ergebe sich ein Betrag, der unter dem bewilligten liege. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin sei der in der Wohngeldtabelle genannte Betrag für einen 1-Personenhaushalt nicht heranzuziehen. Da die Antragstellerin in einer Wohngemeinschaft lebe, sei die Frage der Angemessenheit der Wohnung unter Berücksichtigung des tatsächlich bestehenden 2-Personenhaushaltes zu prüfen. Dass sie mit dem Mitbewohner keine Bedarfsgemeinschaft bilde, sei bedeutungslos. Denn infolge des gemeinsamen Wohnens würden gegenüber einem getrennten Wohnen Kosten eingespart. Würden bei einer Wohngemeinschaft die angemessenen Kosten für zwei 1-Personenhaushalte zu Grunde gelegt, entstünde eine sachlich nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung zu Bedarfsgemeinschaften, bei denen nicht auf den Bedarf jedes einzelnen Mitgliedes abgestellt werde. Dagegen hat die Antragstellerin noch im selben Monat Beschwerde eingelegt, der das SG nicht abgeholfen hat.
II. Die Beschwerde ist begründet. Entgegen der Auffassung des SG ist der Antragsgegner verpflichtet, der Antragstellerin Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen zu erbringen. Denn diese sind angemessen (§ 22 Abs 1 Satz 1 SGB II).
Bei der Beurteilung, ob der Aufwand für die Unterkunft einen angemessenen Umfang hat, ist von der tatsächlich entrichteten Miete auszugehen und eine den Besonderheiten des Einzelfalles gerecht werdende Betrachtung anzustellen (BVerwGE 97, 110/112; 75, 168/171 zu der Frage der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft nach dem Bundessozialhilfegesetz). Danach entscheidet sich die Frage der Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nicht nach festen Regeln. Neben den konkreten Verhältnissen auf dem örtlichen Mietmarkt sind die persönlichen Lebensumstände der Hilfebedürftigen in die Prüfung einzubeziehen. Von Bedeutung ist der Vortrag der Antragstellerin über eine „reine“ Wohngemeinschaft. Anhaltspunkte für eine darüber hinausgehende Gemeinschaft, insbesondere über eine Haushaltsgemeinschaft (s zu diesem in § 9 Abs 5 SGB II verwandten Begriff BT-Drs 15/1516, S 53), die iSe Wirtschaftsgemeinschaft verstanden wird, sind nicht ersichtlich und vom Antragsgegner auch nicht vorgetragen worden. Auf den ersten Blick erscheinen die Kosten, die die Antragstellerin für Unterkunft und Heizung aufwendet, in Höhe von insgesamt 262,70 € nicht unangemessen und der Antragsgegner hat nicht - auch nicht ansatzweise - begründet, dass ein Mietzins von 5,26 € je m² unangemessen und angemessen nur ein Mietzins bis 4,35 € je m² sein soll. Ausweislich der Mietangebote in der örtlichen Presse (C. Zeitung) und der Internetangebote der örtlichen Wohnungsbaugenossenschaften (Städtische Wohnungsbau GmbH D.: www.wbg-E..de; F. eG Wohnungsbaugenossenschaft: www. G..de) ist ein Mietzins um 5 € je m² vielmehr marktüblich. Das entspricht auch den Werten der Tabelle zu § 8 Wohngeldgesetz. Somit sind die Aufwendungen der Antragstellerin für Unterkunft und Heizung angemessen.
Entgegen der Auffassung von SG und Antragsgegner folgt aus dem Umstand, dass die Antragstellerin in einer Wohngemeinschaft lebt, nichts anderes. Insbesondere kann nicht ohne Weiteres die für einen 2-Personenhaushalt (Bedarfsgemeinschaft) angemessene Wohnungsgröße von 60 m² zugrundegelegt werden. Denn es kann jedenfalls nicht ohne Weiteres von annähernd gleichen Lebens- und Wohnverhältnissen in einer Wohngemeinschaft einerseits und einer Bedarfsgemeinschaft andererseits ausgegangen werden.
Nachvollziehbar hat die Antragstellerin die unterschiedlichen Wohnbedürfnisse in diesen Gemeinschaften hervorgehoben. Während bei einer („reinen“) Wohngemeinschaft die einzelnen Mitglieder für sich, räumlich getrennt voneinander leben, wenn sie auch - in unterschiedlichem Umfang - Räume gemeinschaftlich nutzen mögen, kennzeichnet eine Bedarfsgemeinschaft persönliche und damit auch räumliche Nähe (redensartlich: Teilen von Tisch und Bett). Dabei muss der Senat nicht entscheiden, ob in einer Wohngemeinschaft die Kosten für Unterkunft und Heizung bis zu dem für einen 1-Personenhaushalt maßgebenden Betrag angemessen sind. Denn die Kosten liegen mit 227,70 € hier deutlich unter diesem Betrag (in Höhe von 280 €). Das ist bei einer Wohngemeinschaft auch zu erwarten, die gerade deshalb eingegangen wird, um gegenüber einer Einzelwohnung geringere Kosten aufzuwenden.
Für dieses Ergebnis spricht die Gesetzesfolge von unangemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung in § 22 SGB II. In diesem Fall könnten Hilfebedürftige in Wohngemeinschaften die Aufwendungen durch einen Umzug senken, was ihnen im Übrigen dann attraktiv erscheinen könnte, wenn der Wohnraum in der Wohngemeinschaft deutlich unter der für einen 1-Personenhaushalt angemessenen Größe liegt. Die Kosten des Umzugs und der - gegenüber den Aufwendungen in der Wohngemeinschaft - teureren Wohnung wären vom Steuerzahler zu tragen. Das zeigt, dass die Prüfung der Frage der angemessenen Kosten von Unterkunft und Heizung auch in einer Wohngemeinschaft nicht abstrakt, sondern nach den konkreten Verhältnissen zu erfolgen hat, vgl § 22 Abs 1 S 2 SGB II. Insgesamt sind hier für eine Wohngemeinschaft von 2 Personen Aufwendungen in Höhe von 525,40 € für Unterkunft und Heizung bei einer Wohnungsgröße von ungefähr 78 m² angemessen. Damit kommt die von der Antragstellerin gewählte Wohnform für die Zeit des Hilfebezuges nach dem SGB II der Gemeinschaft der Steuerzahler zugute. Es ist schlechthin kein vernünftiger Grund ersichtlich, Personen, die sich für das Wohnen in einer Gemeinschaft entschieden haben, während des Bezuges von Leistungen nach dem SGB II und auf Kosten der Steuerzahler einen Umzug und eine eigene Wohnung zu finanzieren.
Dagegen können mit Erfolg nicht die Entscheidungen des OVG Lüneburg (FEVS 2004, 501) und des Bay LSG (Beschluss vom 15. September 2005 - L 10 B 429/05 AS ER) angeführt werden. Denn die konkreten Lebens- und Wohnverhältnisse in dem hier zu entscheidenden Fall unterscheiden sich von denen, die diesen Entscheidungen zugrunde lagen. - Das OVG hatte über die Bestimmung des sozialhilferechtlichen Unterkunftsbedarfs in einer Wohngemeinschaft, die auch eine Wirtschaftsgemeinschaft darstellte, zu entscheiden und unter dem Gesichtspunkt des „Wirtschaftens aus einem Topf“ den Haushalt als Einheit gesehen. - Das Bay LSG hatte über angemessene Aufwendungen für Unterkunft und Heizung einer Antragstellerin zu entscheiden, die mit ihrem Sohn in einer 106 m² großen Wohnung lebte. Diese Sachverhalte unterscheiden sich somit wesentlich von dem hier vorliegenden und oben näher dargestellten einer „reinen“ Wohngemeinschaft. Deshalb ist hier eine Differenzierung der Angemessenheit der Kosten für Unterkunft und Heizung gegenüber einem 2-Personenhaushalt und einer Bedarfs- oder Haushaltsgemeinschaft gerechtfertigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).