Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 11.01.2000, Az.: 7 K (III) 258/94
Im Schätzungswege nachträglich ermittelte Aufwendungen, die die Bemessungsgrundlage für die Grunderwerbsteuer erhöhen, sind keine neuen Tatsachen i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 11.01.2000
- Aktenzeichen
- 7 K (III) 258/94
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2000, 35712
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2000:0111.7K.III258.94.0A
Rechtsgrundlagen
- AO § 173 Abs. 1 Nr. 1
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Tatsache i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist ein Lebensvorgang, der insgesamt oder teilweise den gesetzlichen Steuertatbestand oder ein einzelnes Merkmal dieses Tatbestandes erfüllt.
- 2.
Keine Tatsachen sind Schlussfolgerungen, insbesondere die steuerrechtliche Würdigung von Tatsachen. Hieraus folgt, dass eine Schätzung keine Tatsache ist sondern nur eine Schlussfolgerung aus Tatsachen, den sog. Schätzungsunterlagen.
- 3.
Im Schätzungswege nachträglich ermittelte Aufwendungen, die die Bemessungsgrundlage für die Grunderwerbsteuer erhöhen, sind daher keine neuen Tatsachen i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO .
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der Beklagte berechtigt war, einen Grunderwerbsteuerbescheid wegen neuer Tatsachen zu ändern.
Mit Vertr ag vom 11. August 1982 verkaufte die Firma I. AG & Co. KG an den Kläger, der durch die BGA . vertreten war, 8 Eigentumswohnungen in Hildesheim-Himmelsthür. Der Kaufpreis für diese Wohnungen betrug laut Vertrag 1.563.848,49 DM. Der Beklagte setzte daraufhin mit Bescheid vom 1. Oktober 1992 nach einer Bemessungsgrundlage in Höhe von 1.563.848,49 DM die Grunderwerbsteuer fest. Die Grunderwerbsteuer wurde von der BGA bezahlt. Mit Bescheid vom 9. April 1986 änderte der Beklagte den Erstbescheid und legte nunmehr eine Bemessungsgrundlage in Höhe von 2.223. 955 DM der Grunderwerbsteuerberechnung zugrunde. Zu dem Kaufpreis lt. notariellem Vertrag hatte der Beklagte die Gesamtheit der Beträge, die der Kläger aufgrund eines Baubetreuungsvertrages mit der BGA gezahlt hat bzw. zahlen sollte hinzugerechnet. Nach diesem Baubetreuungsvertrag verpflichtete sich die BGA, genau bezeichnete Wohnungen im Namen des Klägers zu erwerben, alle kaufmännischen und wohnungswirtschaftlichen Arbeiten und Rechtshandlungen zu übernehmen, den Abschluss aller Verträge im Namen des Klägers durchzuführen sowie das Gesamtprojekt umfänglich zu betreuen und die Planungen einschließlich Finanzierung zu gewährleisten.
Im Einspruchsverfahren reduzierte der Beklagte die Bemesssungsgrundlage auf 1.735.481,03 DM. Von dem Gesamtaufwand des Klägers, den dieser in Höhe von 2.200.671,44 DM an die BGA gezahlt hat, zog der Beklagte folgende Positionen ab:
Vermittlungsgebühr | 44.676,67 DM | |
---|---|---|
Steuerberatungsgebühr | 12.565,29 DM | |
Notar- und Gerichtskosten | 44.479,10 DM | |
Grunderwerbsteuer | 109.469,35 DM | und |
Sicherheitszuschlag | 56.000,00 DM. |
Hintergrund dieser Berechnungen war eine Prüfung grunderwerbsteuerlicher Tatbestände bei der BGA. Lt. Prüfungsbericht hat die BGA eine Reihe von ähnlichen Projekten (Ersterwerbermodellen) geplant und durchgeführt. Das, was die jeweiligen Erwerber an die BGA gezahlt haben, lag immer über dem reinen Grundstückspreis. Da eine Zuordnung dieses Mehrbetrages zu bestimmten Leistungen der BGA nicht möglich war, ordnete der Prüfer im Schätzwege entsprechend der ertragsteuerlich zulässigen Anerkennung von Werbungskosten Geldbeträge bestimmten Leistungen zu. Insoweit keine Zuordnung entsprechend der ertragsteuerlich zulässigen Anerkennung von Werbungskosten erfolgen konnte, behandelte der Prüfer die Zahlungen als sonstige Leistungen, die die Bemessungsgrundlage der Grunderwerbsteuer erhöhen.
Gegen diese Erhöhung wendet sich der Kläger.
Der Kläger, der sich nicht gegen die grundsätzliche Einbeziehung von Entgeltanteilen für Betreuungsleistungen in die grunderwerbsteuerliche Bemessungsgrundlage wendet, rügt, dass der Beklagte nicht berechtigt sei, den Erstbescheid zu ändern. Die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 Abgabenordnung (AO) , auf die sich der Beklagte beruft, seien nicht gegeben. Denn die Finanzverwaltung habe schon vor der Prüfung gewusst, dass es sich bei den Verträgen um Ersterwerbermodelle gehandelt habe. Durch die Prüfung bei der BGA sei folglich nichts Neues festgestellt worden. Darüber hinaus hätten bei der Prüfung keinerlei Unterlagen vorgelegen, die die Annahme eines neuen Sachverhalts rechtfertigen. Der Geschäftsführer der BGA habe sämtliche Unterlagen vor der Prüfung verschwinden lassen. Es seien lediglich Tatsachen aus Prüfungen in anderen Fällen im Analogieschluss auf dieses Modell übertragen worden.
Der Kläger beantragt,
wie erkannt.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte trägt vor, dass es nicht zutreffend sei, dass der Geschäftsführer der BGA Unterlagen beiseite geschafft habe. Vielmehr seien Geschäftsunterlagen der BGA vorhanden gewesen, ergänzt durch beschlagnahmtes Beweismaterial. Da die BGA viele Fälle immer nach dem gleichen Muster durchgeführt und geplant habe, sei der Vereinfachung wegen ein Musterbericht verfasst worden, der jedoch bei Besonderheiten des betreffenden Modells entsprechend ergänzt worden sei. Im übrigen habe er bei Erlass des Erstbescheides nicht gewusst, dass die Erwerber neben dem Kaufpreis noch weitere Leistungen, die zur Bemessungsgrundlage hinzuzurechnen seien, erbracht hätten. Der amtierende Notar habe lediglich die Grundstückskaufverträge, nicht aber die Betreuungsverträge dem Finanzamt mitgeteilt. Hieraus ergebe sich, dass er berechtigt sei, gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO den ursprünglichen Grunderwerbsteuerbescheid zu ändern.
Wegen des weitergehenden Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die beigezogene Grunderwerbsteuerakte des Beklagten Bezug genommen.
Gründe
Die Klage ist begründet.
Der Beklagte war nicht berechtigt, den Grunderwerbsteuerbescheid vom 24. März 1996 zu ändern. Die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO , auf die sich der Beklagte beruft, liegen nicht vor. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen.
Dem Beklagten sind keine Tatsachen im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nachträglich, d.h. nach Erlass des Erstbescheides vom 24. März 1996 bekannt geworden. Tatsache in diesem Sinne ist ein Lebensvorgang, der insgesamt oder teilweise den gesetzlichen Steuertatbestand oder ein einzelnes Merkmal dieses Tatbestandes erfüllt; also Zustände und Vorgänge der Seinswelt, die Eigenschaften der Gegenstände dieser Seinswelt und die gegenseitige Beziehung zwischen diesen Gegenständen (Tipke/Kruse, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung , 16. Auflage, § 173 AO Tz. 1 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung). Von den Gegenständen der Seinswelt abzugrenzen und keine Tatsachen sind Schlussfolgerungen, insbesondere die steuerrechtliche Würdigung von Tatsachen (Tipke/ Kruse, AO , § 173 Rz. 3). Hieraus ergibt sich, dass eine Schätzung keine Tatsache ist. Sie ist lediglich eine Schlussfolgerung aus Tatsachen, den sogenannten Schätzungsunterlagen. Auch Richt- und Erfahrungssätze, Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten sind keine Tatsachen (Tipke/Kruse, AO , § 173 Tz. 11 und 12 m.w.N.).
Der Beklagte erfuhr nachträglich, dass der Kläger neben dem notariellen Grundstückskaufvertrag einen Betreuungs- und Geschäftsbesorgungsvertrag mit der BGA geschlossen hat. Allein der Abschluss dieses Betreuungs- und Geschäftsbesorgungsvertrages einschließlich der geleisteten Zahlungen stellt, wie der Bundesfinanzhof (BFH) zutreffend im Urteil vom 29. Juli 1998 (II R 39/96, BFH/NV 1999 S. 154 f. [BFH 29.07.1998 - II R 39/96]) ausführt, keine erhebliche Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO für die Änderung eines Grunderwerbsteuerbescheides dar. Vielmehr wird der dem Beklagten nachträglich bekannt gewordene Abschluss des Betreuungs- und Geschäftsbesorgungsvertrages einschließlich darauf geleisteter Zahlungen erst dann zu einer Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO , die die Änderung eines Grunderwerbsteuerbescheides rechtfertigt, wenn feststeht, daß in bestimmter Höhe aufgrund des Betreuungs- und Geschäftsbesorgungsvertrages gezahlte Beträge die Bemessungsgrundlage zur Grunderwerbsteuer erhöhen.
Der Beklagte schätzte lediglich die Beträge, um die nach seiner Auffassung die Bemessungsgrundlage zu erhöhen ist, indem er von dem Gesamtaufwand, den der Kläger nach dem notariellen Kaufvertrag und dem Betreuungs- und Geschäftsbesorgungsvertrag zu zahlen hatte, im Schätzwege entsprechend dem ertragsteuerrechtlich zulässigen Umfang für sonstige Leistungen zuzüglich eines Unsicherheitszuschlages Beträge abgezogen hat. Den verbleibenden Rest behandelte der Beklagte dann als grunderwerbsteuerliche Bemessungsgrundlage, die über der sich aus dem notariellen Vertrag ergebenden lag.
Ob aber die Vertragspartner diesen Weg tatsächlich gegangen sind, konnte der Beklagte nicht feststellen. Zwar mag es ertragsteuerlich sinnvoll und deshalb wahrscheinlich sein, dass die Vertragspartner die vom Beklagten geschätzte oder eine ähnliche vergleichbare Zuordnung der aufgrund des Betreuungs- und Geschäftsbesorgungsvertrags zu erbringenden Aufwendungen gewollt oder bedacht haben. Doch allein die Wahrscheinlichkeit, dass ein Geschehensablauf sich in einer bestimmten Weise zugetragen hat, reicht, wie oben ausgeführt, nicht aus, das Vorliegen einer neuen Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO anzunehmen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO) . Die übrigen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 151, 155 FGO i. V. m. § 708 Nr. 10, 711 ZPO .