Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 06.03.2003, Az.: 3 B 222/03

ambulant betreutes Wohnen; Anspruch; betreutes Wohnen; Eingliederungshilfe; Eingliederungshilfeanspruch; Einrichtung; Einrichtungsträger; Ermessen; Ermessensentscheidung; Ermessensreduzierung; Hilfegewährung; Kosten; Kostenübernahme; Leistungsträger; Leistungsvereinbarung; Nicht abgeschlossen; Nichtbestehen; Prüfungsvereinbarung; Sozialhilfe; Sozialhilfeempfänger; Sozialhilfeträger; Träger; Vereinbarungsnichtabschluss; Vergütung; Vergütungsübernahmeverpflichtung; Verpflichtung; Wohnen; Zusammenarbeit; Übernahme

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
06.03.2003
Aktenzeichen
3 B 222/03
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 48472
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Dem Wunsch eines seelisch Behinderten auf ambulant betreutes Wohnen durch eine spezielle Einrichtung ist zu entsprechen, wenn es im Gebiet des Sozialhilfeträgers nur diese Einrichtung gibt und dort tatsächlich Kapazitäten vorhanden sind.
2. Dem Anspruch kann seitens des Sozialhilfeträgers nicht entgegengehalten werden, dass die Betreuungsplätze der Einrichtung, die über eine Leistungs- und Prüfungsvereinbarung i.S.v. § 93 BSHG abgesichert sind, belegt sind, wenn tatsächlich zusätzliche Kapazitäten für eine Betreuung vorhanden sind.

Tenor:

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin Eingliederungshilfe in der Form von ambulant betreutem Wohnen durch „C. – Verein für D. e.V., E.“, zu bewilligen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.

Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe für den ersten Rechtszug unter Beiordnung von Rechtsanwalt Kallina aus Wolfenbüttel bewilligt.

Gründe

1

1.  Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit dem die Antragstellerin die Bewilligung von Eingliederungshilfe in Form von ambulant betreutem Wohnen durch „C. – Verein für D. e.V., E.“, begehrt, hat Erfolg.

2

Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen werden, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Regelungsanordnung). Da nach Sinn und Zweck des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens die vorläufige Regelung grundsätzlich die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen darf, kann eine Verpflichtung zur Zahlung und Übernahme von Geldleistungen, wie sie im vorliegenden Fall begehrt wird, im einstweiligen Anordnungsverfahren in der Regel nur ausgesprochen werden, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen für einen entsprechenden Anspruch (Anordnungsanspruch) glaubhaft gemacht sind und weiterhin glaubhaft gemacht wird, dass die begehrte Hilfe aus existenzsichernden Gründen so dringend notwendig ist, dass der Anspruch mit gerichtlicher Hilfe sofort befriedigt werden muss und es deshalb nicht zumutbar ist, den Ausgang eines Hauptsacheverfahrens abzuwarten (Anordnungsgrund).

3

Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf Eingliederungshilfe aus §§ 39, 40 BSHG glaubhaft gemacht. Gemäß § 3 Abs. 1 BSHG richten sich Art, Form und Maß der Sozialhilfe nach der Besonderheit des Einzelfalles, vor allem nach der Person des Hilfeempfängers, der Art seines Bedarfs und den örtlichen Verhältnissen. Mit dieser Vorschrift werden das Individualisierungsprinzip und das mit diesem eng zusammenhängende Bedarfsdeckungsprinzip konkretisiert. Das Individualisierungsprinzip soll sicherstellen, dass die Hilfe den Besonderheiten des Einzelfalles angepasst ist, das Bedarfsdeckungsprinzip, dass die Hilfe im Einzelfall den sozialhilferechtlichen Bedarf, aber auch nur diesen deckt. Als notwendige Ergänzung des Individualisierungsprinzips formuliert Abs. 2 der Vorschrift ein Wunschrecht des Hilfesuchenden, soweit die Wünsche angemessen sind (vgl. LPK, BSHG: § 3 Rn. 1).

4

Nach den Ausführungen des amtsärztlichen Gutachtens vom 05.03.2003 unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich die Antragstellerin wegen ihrer psychischen Erkrankung von Mai bis September und im Dezember 2002 in stationären Einrichtungen aufgehalten hat, besteht kein Zweifel an einem Bedarf für ambulant betreutes Wohnen gerichtet auf die Beseitigung oder Milderung einer vorhandenen Behinderung oder deren Folgen im Sinne von § 39 Abs. 3 BSHG. Dieser Bedarf ist seitens des Antragsgegners als gemäß § 97 Abs. 1 Satz 1 BSHG örtlich zuständigem Sozialhilfeträger zu decken. Der nach dem eingeholten Gutachten notwendige Bedarf der seelisch behinderten Antragstellerin in der Form von ambulant betreutem Wohnen kann im Bereich des Antragsgegners lediglich durch entsprechende Betreuungsmaßnahmen seitens der „C.“ gedeckt werden. Dies ist der Berichterstatterin durch telefonische Auskunft einer Mitarbeiterin der „C.“ mitgeteilt und seitens des Antragsgegners ebenfalls telefonisch bestätigt worden. Entsprechend der Bestätigung der „C.“ vom 23.10.2003 (Bl. 13 der Gerichtsakte) und den telefonischen Ausführungen gegenüber der Berichterstatterin bestehen im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (über die bereits belegten 12 Plätze hinaus) Kapazitäten, um die Antragstellerin entsprechend ihrem Bedarf ambulant zu betreuen. Dies ist seitens des Antragsgegners auch nicht bestritten worden.

5

Einer Verpflichtung des Antragsgegners zur Übernahme der Kosten für ambulant betreutes Wohnen zugunsten der Antragstellerin durch die „C.“ steht nicht entgegen, dass zwischen dem Antragsgegner und der „C.“ eine Leistungs- und Prüfungsvereinbarung lediglich im Hinblick auf 12 Plätze für betreutes Wohnen von Menschen mit seelischen Behinderungen abgeschlossen wurde und diese 12 Plätze im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung belegt sind. Zwar bestimmt § 93 Abs. 2 BSHG, dass der Träger der Sozialhilfe zur Übernahme der Vergütung einer Leistung, die von einer Einrichtung erbracht wird, nur verpflichtet ist, wenn mit dem Träger der Einrichtung oder seinem Verband eine Leistungs-, Vergütungs- und Prüfungsvereinbarung besteht. Jedoch wird damit lediglich das Rechtsverhältnis zwischen Einrichtungen, ihren Trägern und dem Sozialhilfeträger bestimmt. Gegenstand der Regelung ist nicht das Rechtsverhältnis zwischen Sozialhilfeempfänger und Sozialhilfeträger, um das es im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren geht. Insoweit bleibt es bei dem oben zitierten Grundprinzip der Bedarfsdeckung. Auch das Bundesverwaltungsgericht betont, dass dem Hilfesuchenden das aus sozialhilferechtlicher Sicht Benötigte unbedingt zu gewähren ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.10.1994 – 5 C 28.91 -).

6

Darüber hinaus bestimmt § 93 Abs. 3 Satz 1 BSHG, dass dann, wenn eine Vereinbarung entsprechend Abs. 2 nicht abgeschlossen worden ist, der Träger der Sozialhilfe Hilfe durch diese Einrichtung gewähren kann, wenn dies nach der Besonderheit des Einzelfalles geboten ist. Das danach dem Sozialhilfeträger eingeräumte Ermessen reduziert sich auf Null, wenn der Wunsch des Leistungsberechtigten auf Betreuung durch eine spezielle Einrichtung angemessen, andere Hilfen nicht möglich sind oder nicht ausreichen und die Erfüllung der wunschgemäßen Hilfe nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist (vgl. LPK, BSHG, Anh. § 93d Rn. 3). Damit wird der grundsätzlichen Gewährleistungspflicht des Sozialhilfeträgers aus § 93 Abs. 1 BSHG Rechnung getragen. Danach sollen die Träger der Sozialhilfe zur Gewährung von Sozialhilfe eigene Einrichtungen einschließlich Dienste nicht neu schaffen, soweit geeignete Einrichtungen anderer Träger vorhanden sind, ausgebaut oder geschaffen werden können. Damit knüpft Abs. 1 Satz 1 an § 95 SGB X an, der sich mit der Gesamtplanungsverantwortung bezüglich der Bedarfsermittlung, der Bereitstellung und der Inanspruchnahme von sozialen Einrichtungen und Diensten befasst. Über diese Planungsverantwortung hinausgehend verpflichtet § 17 Abs. 1 Nr. 2 SGB I, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigen sozialen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und hinreichend vorzuhalten. Insofern hat der Sozialhilfeträger eine Gewährleistungspflicht (vgl. LPK, BSHG, § 93 Rn. 6). Vor diesem Hintergrund kommt es nicht darauf an, ob im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung für die Antragstellerin ein durch die Leistungs- und Prüfungsvereinbarung mit der „C.“ abgesicherter Betreuungsplatz vorhanden ist. Vielmehr ist bei einer möglichen Bedarfsdeckung durch die „C.“ und Fehlen einer preisgünstigeren Alternative im Bereich des Antragsgegners dem Wunsch der Antragstellerin durch Verpflichtung des Antragsgegners zur Bewilligung der Eingliederungshilfe zu entsprechen. Ob die Antragstellerin seitens des Antragsgegners ggf. auf von ihm konkret zu benennende (wahrscheinlich mit höheren Kosten verbundene) Einrichtungen in anderen Gebietskörperschaften als anderweitige Hilfsmöglichkeit verwiesen werden könnte, braucht in diesem Verfahren nicht entschieden zu werden.

7

Nach alledem ist dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stattzugeben.

8

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 188 Satz 2 VwGO.

9

2.  Nach den obigen Ausführungen ist der Antragstellerin Prozesskostenhilfe für den ersten Rechtszug zu bewilligen, da das Verfahren hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).