Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 23.01.1998, Az.: XIV 375/97

Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheides zugunsten des Steuerpflichtigen bei nachträglichem Bekanntwerden von Tatsachen oder Beweismitteln, die zu einer niedrigeren Steuer führen ; Neue Tatsachen im Sinne des § 173 AO (Abgabenordnung); Annahme einer groben Fahrlässigkeit durch den Steuerpflichtigen

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
23.01.1998
Aktenzeichen
XIV 375/97
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1998, 18608
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:1998:0123.XIV375.97.0A

Fundstelle

  • NWB DokSt 1998, 1360

Verfahrensgegenstand

Einkommensteuer

Amtlicher Leitsatz

Kein grobes Verschulden i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, wenn der Kläger von der Steuerfreiheit (§ 3 Nr. 9 EStG) der ihm gezahlten Übergangsversorgung nach dem Tarifvertrag über einen sozialverträglichen Personalabbau im Bereich des Bundesministeriums der Verteidigung erst nachträglich Kenntnis erlangt.

In dem Rechtsstreit
hat der XIV. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts
mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung
durch
die Richterin am Finanzgericht ... als Berichterstatterin
am 23. Januar 1998
für Recht erkannt:

Tenor:

Der Beklagte wird verpflichtet, einen geänderten Einkommensteuerbescheid 1994 zu erlassen und die Einkommensteuer darin auf 2.012,00 DM herabzusetzen.

Der Beklagte trägt die Kosten.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in entsprechender Höhe leisten.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob das Finanzamt verpflichtet ist, den Einkommensteuerbescheid 1994 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 Abgabenordnung (AO) zu ändern.

2

Die Kläger sind Eheleute, die zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden. Der Kläger erzielte im Streitjahr Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit sowie aus Vermietung und Verpachtung.

3

In ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr, bei deren Erstellung der Prozeßbevollmächtigte der Kläger mitgewirkt hatte, erklärten die Kläger in Zeile 2 der Anlage N einen Bruttoarbeitslohn des Klägers i.H.v. 57.041,00 DM. In Zeile 10 der Anlage N gaben sie Versorgungsbezüge, die in dem Bruttoarbeitslohn enthalten sind, i.H.v. 24.019,00 DM an. Diese Angaben entsprachen den Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte bzw. der angehefteten Lohnsteuerbescheinigung der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL), in der ein Bruttoarbeitslohn i.H.v. 33.021,35 DM sowie steuerbegünstigte Versorgungsbezüge i.H.v. 24.019,87 DM, von denen Lohnsteuer einbehalten worden ist, eingetragen waren.

4

Das Finanzamt setzte die Einkommensteuer mit Einkommensteuerbescheid vom ....11.1995 auf 5.838,00 DM fest. Es legte u.a. Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit des Klägers i.H.v. 57.041,00 DM der Besteuerung zugrunde, berücksichtigte den Versorgungsfreibetrag i.H.v. 6.000,00 DM sowie den Arbeitnehmer-Pauschbetrag i.H.v. 2.000,00 DM. Der Einkommensteuerbescheid wurde bestandskräftig.

5

Mit Schreiben vom ... 08.1996 beantragten die Kläger, vertreten durch ihren Prozeßbevollmächtigten, die Änderung des Einkommensteuerbescheides gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO. Zur Begründung trugen sie vor, der Kläger habe das 55. Lebensjahr vollendet, sei über 20 Jahre beschäftigt gewesen, so daß die Versorgungsbezüge bis zu einem Höchstbetrag von 36.000,00 DM steuerfrei seien. Die Kläger legten in diesem Zusammenhang die "Allgemeinen Hinweise zur Besteuerung der Übergangsversorgung nach dem Tarifvertrag über einen sozialverträglichen Personalabbau im Bereich des BMVg vom 30. November 1991" der VBL (Bl. 12 Einkommensteuerakte 1994), eine Versicherungsübersicht für den Kläger vom 08.09.1994 (Bl. 13 Einkommensteuerakte 1994), zwei Schreiben des Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) vom 04.01.1996 und 07.12.1995 (Bl. 14. 15 Einkommensteuerakte 1994) sowie ein Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 19. Dezember 1995 (Bl. 16 Einkommensteuerakte 1994) vor. Aus diesen Unterlagen gehe hervor, daß es sich bei der vom Kläger bezogenen Übergangsversorgung um eine Abfindung handele, auf die § 3 Nr. 9 Einkommensteuergesetz (EStG) Anwendung finde. Im einzelnen wird auf Bl. 12-16 Einkommensteuerakte 1994 Bezug genommen.

6

Das Finanzamt lehnte den Antrag auf Änderung ab. Die Übergangsversorgung im Bereich des BMVg sei in Abschn. 75 Abs. 1 Nr. 3 Lohnsteuer-Richtlinien 1996 aufgenommen worden. Gleichzeitig sei lediglich klargestellt worden, daß es sich hierbei um eine Abfindung i.S.d. § 3 Nr. 9 EStG handele. Die Steuerbegünstigung gemäß § 3 Nr. 9 EStG habe bereits seit Jahren bestanden. Eine neue Tatsache i.S.d. § 173 AO liege daher nicht vor.

7

Zur Begründung des hiergegen eingelegten Einspruchs trugen die Kläger vor, bei der Auszahlung der Versorgungsbezüge sei nicht beachtet worden, daß dem Kläger ein steuerfreier Höchstbetrag von 36.000,00 DM zustehe. Da der Abschnitt 9 Nr. 1 erstmals in den Lohnsteuer-Richtlinien 1996 aufgenommen worden sei, habe der Kläger bei Zufluß der Versorgungsbezüge im Jahr 1994 nicht wissen können, daß diese bis zu 36.000,00 DM steuerfrei seien. Im August 1996 habe er die allgemeinen Hinweise zur Besteuerung der Übergangsversorgung von der VBL erhalten, die auch zu diesem Zeitpunkt erst festgestellt habe, daß es den steuerlichen Höchstbetrag gebe.

8

Zur Begründung der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage wiederholen die Kläger im wesentlichen ihr vorprozessuales Vorbringen und tragen ergänzend vor, der Kläger habe bis zum Ablauf der Rechtsbehelfsfrist keinen Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 1994 eingelegt, da weder ihm noch seinem Prozeßbevollmächtigten bekanntgewesen sei, daß es sich um eine Übergangsversorgung handele, die gemäß § 3 Nr. 9 EStG steuerfrei sei.

9

Die Kläger beantragen sinngemäß,

das Finanzamt zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid 1994 abzuändern und die Einkommensteuer auf 2.012,00 DM herabzusetzen.

10

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,

11

Er verweist auf die Ausführungen im Einspruchsbescheid mit folgender Ergänzung: Tatsache i.S.d. § 173 AO sei, daß der Kläger eine Übergangsversorgung nach dem Tarifvertrag über einen sozialverträglichen Personalabbau im Bereich des Bundesministeriums der Verteidigung erhalten habe. Diese Tatsache sei von den Klägern in der Einkommensteuererklärung nicht angegeben worden. Sie seien davon ausgegangen, dies sei steuerlich nicht relevant, da diese Übergangsversorgung nicht in den Lohnsteuer-Richtlinien a.F. zu § 3 Nr. 9 EStG ausdrücklich genannt worden sei. Auf Abschn. 9 Abs. 1 Lohnsteuer-Richtlinien vor 1996 hätten sie aber nicht schließen können, daß die Übergangsversorgung nicht begünstigt sei. Denn Abschn. 9 Lohnsteuer-Richtlinien a.F. enthalte keine abschließende Aufzählung der steuerfreien Abfindungen. Der in die Lohnsteuer-Richtlinien 1996 eingefügte Passus diene nur der Klarstellung. Maßgebend für die Steuerfreiheit sei, daß die gezahlten Abfindungen Entschädigungen seien, die der Arbeitnehmer als Ausgleich für die mit der Auflösung des Dienstverhältnisses verbundenen Nachteile, insbesondere für den Verlust des Arbeitsplatzes erhalte. Gemäß Abschn. 9 Abs. 1 Satz 10 Lohnsteuer-Richtlinien a.F. gehörten zu den Abfindungen auch Vorruhestandsleistungen, insbesondere das Vorruhestandsgeld nach dem Vorruhestandsgesetz und Übergangsgelder, die aufgrund tarifvertraglicher Regelungen an Angestellte des öffentlichen Dienstes gezahlt werden. Wenn die Kläger angesichts dieser Formulierung meinten, nicht angeben zu müssen, daß der Kläger eine Übergangsversorgung wegen Auflösung des Dienstverhältnisses nach einem Tarifvertrag bezogen habe, so treffe sie ein grobes Verschulden. Hinzu komme, daß die Neufassung der Lohnsteuer-Richtlinien 1996 am 29.11.1995 in BStBl I veröffentlicht worden sei. Da der Einkommensteuerbescheid 1994 am 30.11.1995 als bekanntgegeben gelte, hätten die steuerlich beratenen Kläger Zeit und Gelegenheit gehabt, von der klarstellenden Ergänzung der Richtlinien Kenntnis zu nehmen und rechtzeitig Einspruch einzulegen.

12

Die Beteiligten haben auf eine mündliche Verhandlung verzichtet und sich mit der Entscheidung durch den/die Berichterstatter/in einverstanden erklärt (§ 79 a Abs. 3, 4 Finanzgerichtsordnung -FGO-).

Entscheidungsgründe

13

Die Klage ist begründet.

14

Das Finanzamt hat zu Unrecht den Antrag auf Änderung des Einkommensteuerbescheides 1994 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO abgelehnt.

15

1.

Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sind Steuerbescheide zugunsten des Steuerpflichtigen aufzuheben oder zu ändern, soweit nachträglich Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.

16

a)

Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt. Zutreffend geht das Finanzamt davon aus, daß neue Tatsache i.S.d. § 173 AO der Umstand ist, daß der Kläger eine Übergangsversorgung nach dem Tarifvertrag über einen sozialverträglichen Personalabbau im Bereich des Bundesministeriums für Verteidigung erhalten hat. Diese Tatsache ist dem Finanzamt erst durch das Schreiben des Klägervertreters vom 16.08.1996 bekannt geworden, nachdem der Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr bestandskräftig geworden war.

17

b)

Ein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden dieser neuen Tatsache ist den Klägern nicht zur Last zu legen. Als grobes Verschulden hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Vorsatz scheidet im Streitfall aus. Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (vgl. BFH-Urteil vom 03.02.1983 IV R 153/80, BStBl II 1983, 344; vom 29.06.1984 VI R 181/80. BStBl II 1984, 693). Wann dies der Fall ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Ein grobes Verschulden kann auch vorliegen, wenn der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht unzureichend nachkommt, indem er unzutreffende oder unvollständige Angaben macht (vgl. BFH-Urteil vom 28.03.1985 IV R 159/82. BStBl II 1986, 120). Nach dem Urteil des Bundesfinanzhofes in BStBl II 1984, 693 handelt ein Steuerpflichtiger jedenfalls dann grob schuldhaft, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen bestimmten Vorgang bezogene Frage, nicht beachtet.

18

c)

Im Streitfall hat das Finanzamt zur Überzeugung des Gerichts zu hohe Anforderungen an die aus dem Begriff der groben Fahrlässigkeit abzuleitenden Sorgfaltspflichten gestellt. Besondere einkommensteuerrechtliche Kenntnisse können von den Klägern nicht erwartet werden. Es ist den Klägern somit nicht vorzuwerfen, daß sie die Steuerfreiheit der Übergangsversorgung nicht kannten. Auf der Lohnsteuerbescheinigung der VBL ist der streitige Betrag von 24.019,00 DM als steuerbegünstigter Versorgungsbezug bezeichnet. Es wurden hiervon Lohnsteuerbeträge einbehalten. Somit konnten die Kläger aus den Eintragungen in der Lohnsteuerbescheinigung keine Schlüsse auf die Steuerfreiheit der Übergangsversorgung ziehen. Insbesondere mußte es sich den Klägern keinesfalls aufdrängen, daß der Betrag von 24.019,00 DM steuerlich anders als in der Lohnsteuerbescheinigung zu behandeln war. Da der Prozeßbevollmächtigte der Kläger auch keine darüber hinausgehenden Kenntnisse über den Charakter dieser "Versorgungsbezüge" hatte, war auch ihm nicht vorzuwerfen, daß er den Betrag i.H.v. 24.019,00 DM in Zeile 10 der Anlage N zur Einkommensteuererklärung eingetragen hat und darüber hinaus keine weiteren Angaben gemacht hat.

19

Letztlich ist auch kein Sorgfaltspflichtverstoß darin zu sehen, daß die Kläger dem Steuerberater keine näheren Erläuterungen über die Rechtsgrundlage der auf der Lohnsteuerbescheinigung eingetragenen Versorgungsbezüge gegeben hat (§ 7 des Tarifvertrages vom 30.11.1991 über einen sozialverträglichen Personalabbau im Bereich des Bundesministeriums der Verteidigung). Denn man würde die Anforderungen überspannen, wenn man von den Klägern verlangen würde, daß sie den Unterschied zwischen "normalen Versorgungsbezügen" i.S.d. § 19 Abs. 2 EStG und der Übergangsversorgung gemäß § 7 des o.g. Tarifvertrages kennen und deren unterschiedliche steuerliche Behandlung. Die Kläger konnten vielmehr darauf vertrauen, daß die Eintragungen auf der Lohnsteuerbescheinigung ausreichend seien, um eine ordnungsgemäße Besteuerung durchzuführen. Es kann dem Kläger deshalb nicht als grobes Verschulden angelastet werden, daß er erst nachdem er von seinem Arbeitgeber im August 1996 die allgemeinen Hinweise zur Versteuerung der Übergangsversorgung erhalten hatte, diese an seinen Steuerberater weiterleitete. Da im August 1996 die Einspruchsfrist gegen den Einkommensteuerbescheid 1994 bereits abgelaufen war, kann dem Prozeßbevollmächtigten auch nicht angelastet werden, daß er den Rechtsbehelf nicht rechtzeitig eingelegt hat.

20

2.

Da die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO erfüllt sind, ist der Beklagte verpflichtet, dem Antrag auf Änderung des Einkommensteuerbescheides 1994 zu entsprechen und den Betrag i.H.v. 24.019,00 DM steuerfrei zu belassen.

21

3.

Es ergibt sich folgende Berechnung:

Zu versteuerndes Einkommen bisher39.784,00 DM
abzüglich Übergangsversorgung24.019,00 DM
zuzüglich Versorgungsfreibetrag6.000,00 DM
zu versteuerndes Einkommen neu21.765,00 DM
Einkommensteuer neu:2.012,00 DM.
22

4.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

23

Die Revision ist nicht zugelassen worden. Hiergegen kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim Niedersächsischen Finanzgericht in Hannover Beschwerde eingelegt werden. Auf Abs. 4 der Rechtsmittelbelehrung wird hingewiesen . In der Beschwerdeschrift muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt, die Entscheidung des Bundesfinanzhofs, von der das Urteil abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.