Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 12.09.2011, Az.: 11 LA 209/11
In Zweifel ziehen einer erheblichen Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts im Zulassungsverfahren durch die Benennung weiterer Zeugen
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 12.09.2011
- Aktenzeichen
- 11 LA 209/11
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 25693
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2011:0912.11LA209.11.0A
Rechtsgrundlagen
- § 124 Abs. 2 VwGO
- § 81b StPO
Fundstellen
- DÖV 2011, 944
- NJW 2011, 3673-3674
- NordÖR 2011, 568
Amtlicher Leitsatz
Eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts kann im Zulassungsverfahren durch die Bezeichnung neuer Beweismittel in Zweifel gezogen werden. Beruht die umstrittene Tatsachenfeststellung auf einer Beweisaufnahme durch Vernehmung mehrerer Zeugen, reicht die bloße Benennung weiterer Zeugen nicht aus. Die voraussichtlichen Aussagen der neuen Zeugen müssen mutmaßlich zu einer abweichenden Tatsachenfeststellung führen. Deshalb sind die zu erwartenden Aussagen und das voraussichtliche Beweisergebnis im Zulassungsantrag näher zu bezeichnen.
Gründe
Der 1984 geborene Kläger wendet sich gegen den Bescheid der Beklagten vom 27. August 2010, mit dem seine (erneute) erkennungsdienstliche Behandlung nach § 81b Alt. 2 StPO angeordnet worden ist. Anlass für diese Anordnung war ein Vorfall am 6. August 2010 in E., bei dem der Kläger Herrn F. ein Messer an den Hals gehalten und diesem mit dem "Abstechen" gedroht haben soll. Das Verwaltungsgericht hat die Anfechtungsklage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass der Kläger im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses Beschuldigter gewesen sei und jedenfalls wegen der Begehung mehrerer Körperverletzungsdelikte im Mai 2008, Januar, Februar und März 2009 und zuletzt wegen der vorgenannten Bedrohung im August 2010 auch eine Wiederholungsgefahr zu bejahen sei. Hinsichtlich der Anlasstat aus dem August 2010 sei auch nach der Beweisaufnahme durch die Vernehmung von Herrn F., von zwei Polizeibeamten sowie des Vaters des Klägers ein Restverdacht gegen den Kläger verblieben.
Der gegen dieses Urteil gerichtete Zulassungsantrag des Klägers hat keinen Erfolg.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit dieses Urteil bestehen nicht. Solche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind zu bejahen, wenn auf Grund der Begründung des Zulassungsantrags und der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts gewichtige gegen die Richtigkeit der Entscheidung sprechende Gründe zutage treten, aus denen sich ergibt, dass ein Erfolg der erstrebten Berufung mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie ein Misserfolg. Das ist der Fall, wenn ein tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (BVerfG, Beschl. v. 23. 6. 2000 - 1 BvR 830/00 -, DVBl. 2000, 1458 f.). Die Richtigkeitszweifel müssen sich allerdings auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung führen wird (BVerwG, Beschl. v. 10. 3. 2004 - 7 AV 4/03 -, NVwZ-RR 2004, 542 f.). Eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts kann im Zulassungsverfahren auch durch die Bezeichnung neuer Beweismittel in Zweifel gezogen werden (vgl. aber § 128a Abs. 2 VwGO). Dazu reicht allerdings jedenfalls dann, wenn - wie hier - die umstrittene Tatsachenfeststellung bereits auf einer Beweisaufnahme durch Vernehmung mehrerer Zeugen beruht, die bloße Benennung weiterer Zeugen nicht aus. Vielmehr müssen die voraussichtlichen Aussagen der neuen Zeugen mutmaßlich zu einer abweichenden Tatsachenfeststellung führen. Die zu erwartenden Aussagen und das voraussichtliche Beweisergebnis sind deshalb bereits im Zulassungsantrag näher zu bezeichnen (vgl. Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl., § 124, Rn. 91).
Hieran gemessen führen die Angaben des Klägers in seiner Zulassungsbegründung nicht zu ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit der Feststellung, dass gegen ihn wegen des Vorfalls am 6. August 2010 ein Restverdacht der Bedrohung zum Nachteil von Herrn F. besteht. Für die Annahme eines solchen Rest(tat)verdachts bedarf es keiner überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung, so dass er nicht bereits bei bloßen Zweifeln oder durch Rückgriff auf den insoweit unanwendbaren, lediglich strafprozessualen Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" entfällt (vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 1.6.2006 - 1 BvR 2293/03 -, [...], Rn. 12, m.w.N.). Andererseits muss die Tatbegehung zum Ausschluss des Restverdachts nicht bereits naturwissenschaftlich zwingend unmöglich gewesen sein. Ausreichend, aber auch erforderlich ist vielmehr auch insoweit die unter Berücksichtigung aller Umstände gewonnene Überzeugung, dass kein vernünftiger Mensch mehr an der Unschuld des Betroffenen zweifelt. Eine solche Feststellung lässt sich jedoch auch auf der Grundlage der im Zulassungsverfahren vorgetragenen zu erwartenden Aussagen der Eheleute G. als neue Zeugen nicht treffen.
Denn der vom Verwaltungsgericht vernommene Zeuge F. hat die Bedrohung durch den Kläger in sich stimmig und ohne Belastungstendenz geschildert. Gestützt wird seine Aussage dadurch, dass der Kläger nach Aufforderung der vor Ort anwesenden Polizeibeamten ein Messer vorgelegt hat, das der Beschreibung des Tatwerkzeuges durch Herrn F. entspricht. Es ist kein Grund ersichtlich, warum der Kläger ein solches Messer als Tatwerkzeug vorgelegt haben sollte, wenn er ein solches zuvor überhaupt nicht gegenüber Herrn F. eingesetzt hätte. Die vom Kläger bestrittene Verwertbarkeit der Aussagen der Polizeibeamten ist insoweit unerheblich. Im Übrigen folgt aus einem vom Kläger offenbar gemeinten, hier aber ohnehin nicht feststehenden etwaigen Verstoß gegen strafverfahrensrechtliche Bestimmungen über ein Anwesenheitsrecht der erziehungsberechtigten Eltern eines jugendlichen Beschuldigten (§ 67 JGG) schon für das Strafverfahren kein zwingendes Verwertungsverbot (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.5.2011 -, 2 BvR 2072/10 -, [...]). Dies gilt erst recht für die hier maßgebliche Verwertung zum Zwecke der Strafverfolgungsvorsorge (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 13.7.2011 - 1 S 350/11 -, [...], Rn. 28, sowie allgemein zu den Voraussetzungen für gefahrenabwehrrechtliche Beweisverwertungsverbote Nds. OVG, Urt. v. 14.8.2008 - 12 ME 183/08 -, [...], Rn. 6, m.w.N.). Bei dieser Sachlage wäre selbst dann, wenn die Eheleute G. als Zeugen die im Zulassungsantrag genannten Angaben machen würden, die Tatbegehung durch den Kläger nicht für jeden vernünftigen Menschen ausgeschlossen. Dies gilt schon deshalb, weil die Eheleute G. die unstreitig erfolgte und inzwischen mehr als ein Jahr zurückliegende "verbale" Auseinandersetzung zwischen dem Kläger und Herrn F. an einer Hauptverkehrsstrasse in E. in den Abendstunden nur aus etwa 15 Meter Entfernung, also nur mit eingeschränkten Wahrnehmungsmöglichkeiten, gesehen bzw. gehört haben sollen. Außerdem wird im Zulassungsantrag auch nicht - wie erforderlich - wiedergegeben, welche Geschehensabläufe im Einzelnen die Eheleute beobachtet haben wollen. Schließlich fehlen nähere Angaben zu den persönlichen Verhältnissen der Eheleute G., insbesondere zu ihrem Verhältnis zum Kläger, seinen Eltern oder Herrn F., auf Grund derer ihre Glaubwürdigkeit näher beurteilt und die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen ins Verhältnis zum Beweiswert der anderen Beweismittel gesetzt werden könnte.
Ebenso wenig greifen die Einwände des Klägers gegen die Annahme einer Wiederholungsgefahr durch. Das Verwaltungsgericht hat diese Annahme zutreffend auf eine Gesamtwürdigung des klägerischen Verhaltens und dabei insbesondere auf die bereits o. a. Vorfälle einschließlich der Anlasstat vom August 2010 gestützt. Es hat auch den seitdem verstrichenen Zeitraum in den Blick genommen und in Anbetracht der Schwere und Mehrzahl der vorangegangenen Straftaten sowie der daraus ersichtlichen erheblichen Aggressivität des Klägers, die auch durch die Teilnahme an Konfrontationskursen nicht abgestellt worden ist, als zum Ausschluss einer Wiederholungsgefahr nicht ausreichend erachtet. Diese Feststellung wird durch den Beginn einer Ausbildung sowie durch die bloße Behauptung einer zwischenzeitlichen "Verhaltens- und Lebensänderung" des Klägers nicht ernstlich in Zweifel gezogen.
Die Berufung kann auch nicht nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zugelassen werden.
Besondere tatsächliche Schwierigkeiten sind dann zu bejahen, wenn die Entscheidung voraussichtlich in tatsächlicher bzw. rechtlicher Hinsicht größere, d.h. überdurchschnittliche, das normale Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten verursachen wird (Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl., 2009, § 124, Rn. 9). Die Darlegung des Zulassungsgrundes erfordert deshalb, dass in fallbezogener Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts die geltend gemachten Schwierigkeiten als solche benannt werden und darüber hinaus aufgezeigt wird, dass und aus welchen Gründen sie sich von denjenigen eines Verwaltungsrechtsstreits "durchschnittlicher" Schwierigkeit abheben (vgl.Nds. OVG, Beschl. v. 4. 2. 2010 - 5 LA 37/08 - veröffentlicht in der Rechtsprechungsdatenbank der nds. Verwaltungsgerichtsbarkeit, m.w.N.).
Der bloße Verweis des Klägers auf einen vermeintlich "unklaren Sachverhalt" sowie "widerstreitende Zeugenaussagen" genügt diesen Anforderungen an die Darlegung nicht. Im Übrigen sind besondere tatsächliche Schwierigkeiten auch in der Sache nicht zu erkennen. Denn die Beweiswürdigung gehört zum (verwaltungs)gerichtlichen "Alltagsgeschäft" und stellt sich hier auch deshalb nicht als besonders schwierig dar, weil sie sich lediglich auf einen einzelnen Vorfall bezieht.
Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO hat eine Rechtssache, wenn sie eine grundsätzliche, fallübergreifende und entscheidungserhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, die im allgemeinen Interesse der Klärung im Berufungsverfahren bedarf.
Eine solche Bedeutung kommt der vom Kläger aufgeworfenen, sich erkennbar nur auf den Einzelfall beziehenden (Rechts-)Frage nicht zu, "ob bei einer derart unklaren Beweislage den Angaben des Zeugen F., der erwiesenermaßen über ganz erhebliche kriminelle Energie verfügt, jedenfalls insoweit gefolgt werden kann, dass hier ein "Restverdacht" gegen den Kläger verbleibt".
Die vom Kläger abschließend als fehlerhaft gerügte Beweiswürdigung gehört grundsätzlich zum materiellen Recht (vgl. nur BVerwG, Beschl. v. 15.8.2011 - 6 B 9/11 -, [...], Rn. 10, m.w.N.) und kann schon deshalb keinen Verfahrensmangel nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO begründen. Im Übrigen ist die Bejahung eines Restverdachts durch das Verwaltungsgericht auch materiellrechtlich nicht zu beanstanden, wie der Kläger mit dem Verweis auf verbleibende Zweifel in der Sache letztlich selbst einräumt.