Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 28.09.2011, Az.: 11 PA 298/11

Hinwegsetzen der Ausländerbehörde über das Erfordernis des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft bei Abschiebungsandrohung ohne Beteiligung der Staatsanwaltschaft während eines schwebenden Verfahrens

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
28.09.2011
Aktenzeichen
11 PA 298/11
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 25563
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2011:0928.11PA298.11.0A

Fundstellen

  • AUAS 2011, 268-269
  • DVBl 2011, 1504

Amtlicher Leitsatz

Über das Erfordernis des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft, mit dem der Vorrang des staatlichen Strafverfolgungsinteresses gegenüber dem ausländerbehördlichen Interesse an der Durchsetzung einer bestehenden Ausreisepflicht des Ausländers gesichert werden soll (BGH, Beschl. v. 3.2.2011 - V ZB 224/10 -), setzt sich die Ausländerbehörde nicht hinweg, wenn sie trotz eines schwebenden strafgerichtlichen Verfahrens gegen den Ausländer eine Abschiebungsandrohung ohne Beteiligung der Staatsanwaltschaft nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erlässt.

Gründe

1

Die Beschwerde des Klägers ist unbegründet.

2

Dem Verwaltungsgericht ist darin zuzustimmen, dass das Prozesskostenhilfegesuch des Klägers in formeller Hinsicht mangelhaft ist. Eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe kommt nur in Betracht, wenn der Antrag formgerecht mit allen nach § 166 VwGO i.V.m. § 117 ZPO erforderlichen Erklärungen und Belegen gestellt worden ist (Senatsbeschl. v. 1.10.2009 - 11 PA 115/09 -; Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl., § 166 Rn. 16 und 6). Daran fehlt es hier.

3

In der von dem Kläger vorgelegten Erklärung zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen werden keine Angaben dazu gemacht, wie der Kläger seinen Lebensunterhalt sicherstellt. Die Frage, ob er Unterhaltsleistungen bezieht, wird verneint. Die Frage, ob er oder seine Ehefrau Einnahmen hat, wird nicht beantwortet. Die von dem Kläger vorgelegte Bescheinigung der Stadt C. vom 31. März 2011, wonach der Kläger bis zum jetzigen Zeitpunkt keine Leistungen nach dem AsylbLG oder nach dem SGB XII bezogen habe und der "Nichtanspruch" darauf beruhe, dass der Kläger mit Frau D. B. in Lebensgemeinschaft lebe, ersetzt nicht die Pflicht, den Erklärungsvordruck vollständig und wahrheitsgemäß auszufüllen.

4

Das Verwaltungsgericht hat darüber hinaus eine für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht des Rechtsschutzbegehrens des Klägers (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO) zu Recht verneint. Der Senat macht sich die zutreffenden Erwägungen des angefochtenen Beschlusses zu eigen und verweist deshalb auf sie (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine andere Entscheidung.

5

Die im Streit befindliche Abschiebungsandrohung der Beklagten wird sich voraussichtlich als rechtmäßig erweisen. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1 i.V.m. § 58 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 1 AufenthG. Der im Beschwerdeverfahren wiederholte Einwand, der Rechtmäßigkeit der Verfügung der Beklagten stehe entgegen, dass die Staatsanwaltschaft ihr Einvernehmen zur Abschiebung des Klägers nicht erteilt habe, greift nicht durch. Nach§ 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft ausgewiesen oder abgeschoben werden. Diese Vorschrift, die der Staatsanwaltschaft eine Entscheidung darüber ermöglichen will, ob der staatliche Strafanspruch durchgesetzt werden soll, dient allein der Wahrung des staatlichen Strafverfolgungsinteresses. Sie bezweckt nicht, den Ausländer vor ausländerbehördlichen Maßnahmen zu bewahren (BVerwG, Urt. v. 5.5.1998 - 1 C 17.97 -, BVerwGE 106, 351). § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG steht deshalb dem Erlass einer Abschiebungsandrohung nicht entgegen (Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Juni 2011, § 72 AufenthG, Rn. 18 und 14; A.A. Dienelt, in: Renner, Ausländerrecht, 9. Auflage 2011, § 72 AufenthG Rn. 19). Daraus folgt, dass die Rechtmäßigkeit der Verfügung der Beklagten vom 23. November 2010, die zu einem Zeitpunkt erging, als gegen den Kläger ein strafgerichtliches Verfahren schwebte, nicht wegen des bisher nicht eingeholten Einvernehmens der Staatsanwaltschaft zweifelhaft ist.

6

Die von dem Kläger angenommene Unvereinbarkeit zwischen der vorgenannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, nach der denkbare günstige Wirkungen einer Erteilung oder Versagung des Einvernehmens durch die Staatsanwaltschaft dem betroffenen Ausländer nur reflexartig zugute kommen, und der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu § 72 Abs. 4 AufenthG, nach der der Ausländer in seinen Rechten verletzt sein kann, wenn gegen ihn ohne Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaft Haft zur Sicherung der Abschiebung angeordnet wird (vgl. BGH, Beschl. v. 12.5.2011 - V ZB 189/10 -, [...], Rn. 5), besteht nicht. Nach Auffassung des BGH (vgl. Beschl. v. 3.2.2011 - V ZB 224/10 -, NVwZ 2011, 767) hat das von der Staatsanwaltschaft wahrzunehmende Interesse an der Verfolgung einer von dem Ausländer begangenen Straftat grundsätzlich Vorrang vor dem von den Ausländerbehörden zu wahrenden Interesse an der Durchsetzung der Ausreisepflicht des sich illegal im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländers. Dieser Vorrang soll durch das Erfordernis des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft mit der Ausweisung oder Abschiebung des Ausländers gesichert werden. Darüber setzt sich die Ausländerbehörde nicht hinweg, wenn sie - wie hier - eine Abschiebungsandrohung erlässt. Abschiebungsandrohung und Vollzug der Abschiebung sind zu trennen (vgl. auch § 59 Abs. 3 AufenthG). Dem Interesse der Strafverfolgungsbehörde - und auch des betroffenen Ausländers - kann deshalb ausreichend dadurch Rechnung getragen werden, dass die Abschiebung als Vollstreckungsakt nicht ohne Einvernehmen der Staatsanwaltschaft vollzogen wird. § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG bezieht das Einvernehmen ausdrücklich auf die Abschiebung selbst, nicht aber auf die insoweit vorgeschaltete Abschiebungsandrohung.