Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 20.07.2018, Az.: 7 B 2401/18
Asylantrag; Aufklärung; offensichtlich unbegründet; Sprachgutachten; Staatsangehörigkeit
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 20.07.2018
- Aktenzeichen
- 7 B 2401/18
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2018, 74339
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 34 AsylVfG
- § 36 AsylVfG
- § 80 Abs 5 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Vermutet das BAMF lediglich, dass der Asylbewerber die behauptete Staatsangehörigkeit nicht besitzt, und verzichtet auf die Einholung eines ursprünglich angedachten Sprachgutachtens, scheidet eine Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet aus.
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung der von den Antragstellern erhobenen Klage 7 A 2399/18 wird gegen die unter Ziffer 5) der Entscheidungsformel des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. März 2018 enthaltene Abschiebungsandrohung angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Die Antragsteller legen keinerlei Identifikationspapiere vor. Die Antragsteller zu 1) und 2) behaupten, ebenso wie ihre minderjährigen Kinder – die Antragsteller zu 3) und 4) – syrische Staatsangehörige kurdischen Volkstums yezidischen Glaubens zu sein und zuletzt in I. /Syrien in der Nähe des Grenzortes J. zur Türkei gewohnt zu haben. Dort hätten sie im November 2005 auch geheiratet. Beide seien nicht oder nur sehr kurz zur Schule gegangen. Der Antragsteller zu 1) habe in der Landwirtschaft gearbeitet und die Antragstellerin zu 2) sei Hausfrau. Sie haben gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Bundesamt - Angaben in der Sprache kurmanci gemacht, wobei das Bundesamt vermerkt hat, dass es jeweils zu Verständigungsschwierigkeiten gekommen sei. Am 15. Dezember 2014 wollen die Antragsteller Syrien verlassen und in die Türkei gereist sein. Dort hätten sie sich einen Monat aufgehalten, um sodann auf dem Landweg nach Deutschland weiter zu reisen. Die Einreise nach Deutschland sei am 18. Januar 2015 erfolgt. Der Schleuser habe ihre Identitätspapiere einbehalten. Am 3. März 2015 beantragten sie ihre Anerkennung als Asylberechtigte. In Deutschland ist am 23. September 2015 ihre Tochter K. geboren worden – die Antragstellerin im Parallelverfahren 7 B 2356/18 -.
Im Rahmen ihrer Anhörung vor dem Bundesamt am 3. März/22. Juni 2015 machten die Antragsteller zu 1) und 2) geltend, wegen des Krieges in Syrien ausgereist zu sein. Der IS bzw DAESH sei in ihr Dorf gekommen und habe den Bruder des Antragstellers zu 1) getötet.
Das Bundesamt vermerkte Zweifel an der syrischen Identität der Antragsteller und beabsichtigte, eine Sprachanalyse einzuholen. Diese wurde später storniert und sogleich zur Sache entschieden.
Mit dem hier streitbefangenen Bescheid vom 16. März 2018 lehnte das Bundesamt die Anträge der Antragsteller auf Asylerkennung (Ziffer 2] der Entscheidungsformel), auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1] der Entscheidungsformel) sowie auf subsidiären Schutz (Ziffer 3] der Entscheidungsformel) jeweils als offensichtlich unbegründet ab. Außerdem wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG - nicht vorliegen (Ziffer 4] der Entscheidungsformel). Zugleich wurde den Antragstellern die Abschiebung in den Herkunftsstaat oder einen anderen Staat angedroht, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, sofern sie nicht innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheides ausgereist seien (Ziffer 5] der Entscheidungsformel). Schließlich wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6] der Entscheidungsformel). Zur Begründung wird ausgeführt, dass die Würdigung aller Umstände nicht zu der Überzeugung führe, dass die Antragsteller die syrische Staatsangehörigkeit tatsächlich besäßen. Die Angaben zu ihren Personaldokumenten seien widersprüchlich. Auch die Sprachkenntnisse ließen Zweifel an ihrer Herkunft aufkommen. Sie hätten überhaupt nicht arabisch sprechen können. Es stelle sich auch die Frage, warum sie in Syrien ihrer Schulpflicht nicht nachgekommen seien. Die Schilderungen über ihren Alltag seien oberflächlich gewesen. Es werde deshalb vermutet, dass die Antragsteller über ihre Staatsangehörigkeit täuschten (Bescheidabdruck S. 4 unten). Demnach werde weder davon ausgegangen, dass sie die syrische Staatsangehörigkeit besäßen noch dass sie sich bis 2014 in Syrien aufgehalten hätten. Deshalb müsse auch die behauptete Verfolgung(sgefahr) als nicht glaubhaft dargelegt angesehen werden. Aufgrund der unglaubhaften Angaben komme eine Abschiebung der Antragsteller in das angebliche Herkunftsland Syrien nicht in Betracht (Bescheidabdruck S. 6). Hinsichtlich anderer Staaten lägen keine Gründe für die Feststellung eines Abschiebungsverbots vor. Der Bescheid wurde am 21. März 2018 zugestellt.
Mit ihrer am 28. März 2018 beim Verwaltungsgericht Hannover eingegangenen Klage verfolgen die Antragsteller ihre Asylanerkennung weiter – 7 A 2399/18 -. Zugleich suchen sie um vorläufigen Rechtsschutz nach und bestreiten, über ihre Staatsangehörigkeit getäuscht zu haben. Die minderjährigen Antragsteller zu 3) und 4) hätten aufgrund ihres Alters überhaupt keine Angaben machen können. Eine etwaige Unglaubwürdigkeit der Angaben ihrer Eltern könne den Kindern nicht zugerechnet werden. Die Lage in Syrien habe sich verschlimmert. Im Übrigen würden sie auch in der Türkei Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein. Jedenfalls die Ablehnung der Asylanträge als offensichtlich unbegründet sei rechtswidrig.
Die Antragsteller beantragen,
die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid vom 16. März 2018 anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der vorbezeichneten Gerichtsakten und der Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes sowie der Ausländerakten Bezug genommen, die dem Gericht zur Einsichtnahme vorgelegen haben.
II.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hat Erfolg.
Er ist nach Auffassung des Gerichts zulässig, auch wenn vom Bundesamt keine Abschiebezielstaat bezeichnet ist, weil die Antragsteller Anspruch auf Überprüfung des Offensichtlichkeitsurteils und der daraus abgeleiteten Rechtsfolgen auch im vorläufigen Rechtsschutzverfahren haben.
Der Antrag ist auch in der Sache begründet.
Das Gericht kann die aufschiebende Wirkung der rechtzeitig erhobenen Klage gegen die unter Ziffer 5) der Entscheidungsformel des Bescheides des Bundesamtes enthaltene und auf die §§ 34 Abs. 1, 36 Abs. 1 und 30 des Asylgesetzes - AsylG - in Verbindung mit § 59 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung nur anordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen (Art. 16a Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 1 GG, § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG).
Diese Zweifel bestehen vorliegend nicht bereits deshalb, weil die streitbefangene Abschiebungsandrohung den noch ungeklärten „Herkunftsstaat“ als Zielstaat der Abschiebung bezeichnet. Ist der Herkunftsstaat ungeklärt, darf in der Abschiebungsandrohung von der Angabe eines Zielstaates nach § 60 Abs. 2 AufenthG abgesehen werden. Wird der Herkunftsstaat später geklärt, muss dieser den Antragstellern jedenfalls so rechtzeitig vor der Abschiebung mitgeteilt werden, dass sie erneut gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen können (BVerwG, Urteil vom 25.7.2000 – 9 C 42/99 – BVerwGE 111, S. 343 = NJW 2000, S. 3798). Hierauf hat auch das Bundesamt auf Seite 7 des streitbefangenen Bescheides vom 16. März 2018 hingewiesen.
Die Ausführungen der Antragsteller zur Unzumutbarkeit einer Rückkehr nach Syrien liegen neben der Sache, weil das Bundesamt auf Seite 6 des streitbefangenen Bescheides ausgeführt hat, dass aufgrund der unglaubhaften Angaben der Antragsteller zu 1) und 2) eine Abschiebung in das angebliche Herkunftsland Syrien nicht in Betracht komme.
Bei einer qualifizierten Antragsablehnung hat das Verwaltungsgericht die Entscheidung des Bundesamtes, dass ein Anspruch auf Gewährung von Asyl und internationalen Schutzes offensichtlich nicht bestehe, zu überprüfen (vgl. grundlegend: BVerfG, Urteil vom 14.5.1996 - 2 BvR 1516/93 - BVerfGE 94, S. 166 = NVwZ 1996, S. 678, 680). Entscheidend ist nicht, ob der Asylantrag an sich zu Recht abgelehnt worden ist, sondern ob die Einschätzung des Bundesamtes, diesen als offensichtlich unbegründet zu beurteilen, tragfähig ist (BVerfG, ebd.; NK-AuslR/Müller, 2. Aufl., § 36 AsylG Rdnr. 37; Kluth/Heusch/Pietzsch, AuslR, § 36 AsylG Rdnr. 39). Als offensichtlich unbegründet kann ein Antrag auf Asyl und Zuerkennung internationalen Schutzes nur angesehen werden, wenn nach vollständiger Erforschung des Sachverhalts im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung vernünftigerweise kein Zweifel an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen bestehen kann und sich bei einem solchen Sachverhalt die Ablehnung des Antrags nach allgemeiner Auffassung geradezu aufdrängt (BVerfG, Beschluss vom 2.5.1984 - 2 BvR 1413/83 - BVerfGE 67, S. 43; Beschluss vom 12.2.2008 - 2 BvR 1262/07 - NVwZ-RR 2008, S. 507; Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl., § 30 AsylG Rdnr. 3; Kluth/Heusch/Schröder, aaO, § 30 AsylG Rdnr. 14f.).
Danach liegen vorliegend ernstliche Zweifel an dem Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes vor.
Gemäß § 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG bleiben Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten nicht angegeben worden sind, unberücksichtigt, es sei denn, sie sind gerichtsbekannt oder offenkundig. Ein Vorbringen, das nach § 25 Abs. 3 AsylG im Verwaltungsverfahren unberücksichtigt geblieben ist, sowie Tatsachen und Umstände im Sinne von § 25 Abs. 2 AsylG, die der Ausländer im Verwaltungsverfahren nicht angegeben hat, kann das Gericht unberücksichtigt lassen, wenn andernfalls die gerichtliche Entscheidung verzögert würde.
1. Die Ablehnung des Asylantrages der Antragsteller als offensichtlich unbegründet (Ziffer 2] der Entscheidungsformel des Bescheides) folgt bereits aus Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG iVm § 26a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 AsylG. Die Antragsteller sind nach den eigenen Angaben der Antragsteller zu 1) und 2) mit dem Lkw auf dem Landweg, und damit über einen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften in das Bundesgebiet eingereist. Der Asylanspruch ist damit bereits offensichtlich ausgeschlossen.
2. Jedoch ist die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als offensichtlich unbegründet (Ziffer 1] der Entscheidungsformel des Bescheides) zu beanstanden.
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - GFK -, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
Das Bundesamt stützt sein Offensichtlichkeitsurteil auf die Vermutung (Bescheidabdruck Seite 4 unten), die Antragsteller zu 1) und 2) täuschten über ihre Identität oder Staatsangehörigkeit und erfüllten damit – ebenso wie ihre Kinder - den gesetzlichen Tatbestand für ein Offensichtlichkeitsurteil nach § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG.
Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob der entsprechende Vorwurf auch für die Antragsteller zu 3) und 4) erhoben werden kann, die aufgrund ihres Alters keine eigenen Angaben gemacht und deshalb auch in Person keine eigenen Täuschungshandlungen vornehmen konnten. Grundsätzlich gilt: Die Antragsteller zu 3) und 4) müssen sich ein Fehlverhalten ihrer Eltern zurechnen lassen. Die Zurechenbarkeit folgt zum einen aus familienrechtlichen Regelungen. Denn den Eltern steht im Rahmen der elterlichen Sorge nach § 1626 BGB auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre Kinder zu. Außerdem teilen minderjährige Kinder ausländerrechtlich das Verhalten ihrer Eltern (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 29.1.2009 – 11 LB 136/07 – juris; Beschluss vom 2.7.2008 - 2 ME 302/08 -, juris; OVG Münster, Beschluss vom 18.12.2006 - 18 A 2644/06 -, AuAS 2007, S. 87; VGH Mannheim, Beschluss vom 10.5.2006 - 11 S 2354/05 -, VBlBW 2006, S. 438 [VGH Baden-Württemberg 10.05.2006 - 11 S 2354/05]).
Dieses Offensichtlichkeitsurteil ist unter Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht des Bundesamtes ergangen. Wie ausgeführt, kann ein Antrag auf Zuerkennung internationalen Schutzes nur als offensichtlich unbegründet angesehen werden, wenn nach vollständiger Erforschung des Sachverhalts kein Zweifel an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen bestehen kann und sich bei einem solchen Sachverhalt die Ablehnung des Antrags nach allgemeiner Auffassung geradezu aufdrängt.
Dies ist vorliegend nicht der Fall, weil das Bundesamt nach vorhandenen Zweifeln aufgrund der Verständigungsschwierigkeiten der Antragsteller zu 1) und 2) in der von ihnen gewählten Sprache kurmanci nicht das ursprünglich vorgesehene Sprachgutachten eingeholt, sondern dieses storniert und damit auf eine weitere Sachaufklärung der tatsächlichen Herkunft der Antragsteller verzichtet hat. Die Behörde hat damit den Sachverhalt nicht vollständig aufgeklärt und sich mit der ausdrücklichen Vermutung begnügt, dass die Antragsteller zu 1) und 2) über ihre Identität getäuscht hätten. Dies reicht für eine Ablehnung des Antrages auf Zuerkennung internationalen Schutzes als offensichtlich unbegründet nicht aus. Das Aufklärungsmittel des Sprachgutachtens steht auch zur Verfügung, wie der Kammer aus zahlreichen anderen Fällen ungeklärter Herkunft von Asylantragstellern aus der Region bekannt ist.
Wegen dieses Mangels bei der Entscheidungsfindung lässt sich die Ablehnung des Antrages auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als offensichtlich unbegründet nicht halten.
Nach alledem ist dem vorläufigen Rechtsschutzantrag mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO zu entsprechen.
Die Gerichtskostenfreiheit findet ihre Rechtsgrundlage in § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.