Sozialgericht Hildesheim
Urt. v. 24.03.2011, Az.: S 34 SO 7/10
Anspruch auf Hilfe zur Pflege in Form eines Pflegegeldes zur Kostenübernahme für zusätzliche Stunden einer Haushaltshilfe besteht bei der Pflegestufe I grundsätzlich nicht; Anspruch auf Hilfe zur Pflege in Form eines Pflegegeldes zur Kostenübernahme für zusätzliche Stunden einer Haushaltshilfe bei der Pflegestufe I; Bindungswirkung der Entscheidung der Pflegekasse auf der Grundlage eines Gutachtens des MDK über den täglichen Pflegebedarf; Einheitlichkeit der Entscheidung über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit durch die Pflegekasse und den Sozialhilfeträger
Bibliographie
- Gericht
- SG Hildesheim
- Datum
- 24.03.2011
- Aktenzeichen
- S 34 SO 7/10
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2011, 25209
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGHILDE:2011:0324.S34SO7.10.0A
Rechtsgrundlagen
- §§ 61 ff. SGB XII
- § 62 SGB XII
- § 64 SGB XII
- § 65 SGB XII
- § 85 SGB XII
- § 83 SGB XII
Tenor:
- 1.
Die Klage wird abgewiesen.
- 2.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt vom Beklagten die Gewährung von Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem 7. Kapitel des Zwölften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB XII).
Die 1960 geborene Klägerin bezieht eine Rente wegen einer vollen Erwerbsminderung auf Dauer in Höhe von zuletzt monatlich 629,56 EUR (Rentenbescheid vom 01.07.2007, Bl. 7, Bd. I der Verwaltungsakte) und steht ergänzend im laufenden Bezug von Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII, der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Höhe von monatlich derzeit 178,83 EUR (Bescheid vom 09.12.2008, Bl. 278 f., Bd. II der Verwaltungsakte). Für sie ist ab dem 23.10.2008 ein Grad der Behinderung von 100 mit den Merkzeichen aG und H anerkannt (Bescheid des Nds. Landesamts für Soziales, Jugend und Familie vom 03.05.2010, Bl. 39 der Gerichtsakte). Die Klägerin leidet an multiplen Beschwerden, insbesondere des Bewegungsapparates (vgl. Attest des Herrn Dr. F. vom 29.07.2010, Bl. 74 der Gerichtsakte). Sie erhält Leistungen entsprechend der Pflegestufe I.
Nachdem Mitarbeiter der Stadt G. bei der Klägerin am 18.02.2008 einen Hausbesuch durchgeführt und dort einen Haushaltshilfebedarf festgestellt hatten, gewährte die Stadt G. zunächst mit Bescheid vom 03.03.2008 nach § 27 Abs. 3 SGB XII die Kostenübernahme für eine Haushaltshilfe im Umfang von 6 Stunden pro Woche bis zum 18.08.2008 (Bl. 54 f., Bd. I der Verwaltungsakte). Auf den Antrag der Klägerin vom 23.06.2008 lehnte die Stadt G. sodann mit Bescheid vom 10.07.2008 die Gewährung von Leistungen der Hilfe zur Pflege ab (Bl. 191, Bd. II der Verwaltungsakte). Sie führte aus, weil noch keine Entscheidung der Pflegekasse über die Pflegebedürftigkeit ergangen sei, sei der Antrag abzulehnen. Mit Gutachten vom 25.07.2008 kam der Medizinische Dienst der Krankenkasse (MDK) zu der Einschätzung, dass bei der Klägerin eine Pflegebedürftigkeit entsprechend der Pflegestufe I vorliege (Bl. 214 ff., Bd. II der Verwaltungsakte). Der Zeitaufwand für die Grundpflege betrage 67 Minuten pro Tag, der Aufwand für die Hauswirtschaft betrage 60 Minuten pro Tag (mithin 7 Stunden pro Woche). Zwischenzeitlich ergingen zwei weitere Gutachten des MDK (Gutachten vom 11.03.2009 und 11.06.2010), welche ebenfalls zu dem Ergebnis kamen, bei der Klägerin bestehe ein Pflegebedarf entsprechend der Pflegestufe I.
Mit Bescheid vom 19.08.2008 (Bl. 225, Bd. II der Verwaltungsakte) gewährte die Stadt G. gem. § 27 Abs. 3 SGB XII sodann befristet die Kostenübernahme für eine Haushaltshilfe im Umfang von (zusätzlichen) 5 Stunden pro Woche ab dem 19.08.2008.
Mit Schreiben von 17.02.2009 hörte die Stadt G. die Klägerin zur beabsichtigten Einstellung der Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt an. Eine Aufstockung der Leistungen über die Pflegestufe I hinaus sei rechtlich ausgeschlossen; die Klägerin habe die Möglichkeit, Pflegesachleistungen zu beantragen. Mit Bescheid vom 17.03.2009 (Bl. 326, Bd. II der Verwaltungsakte) stellte die Stadt G. sodann die Leistungsgewährung ab dem 01.03.2009 ein. Zur Begründung verwies sie auf ihre Ausführungen im Anhörungsschreiben. Hiergegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 14.04.2009 Widerspruch (Bl. 357, Bd. II der Verwaltungsakte). Sie erklärte, der vom Gesundheitsamt der Stadt G. ermittelte Bedarf an Haushaltsstunden könne durch die Pflegeleistungen nicht gedeckt werden. Mit Schreiben vom 22.06.2009 und 07.08.2009 ergänzte die - nunmehr anwaltlich vertretene - Klägerin ihren Vortrag dahingehend, dass es unzutreffend sei, dass nach der Einordnung in eine Pflegestufe und der Erbringung von Leistungen der Pflegeversicherung kein Raum mehr für Leistungen der Sozialhilfe bleibe. Die ungedeckten Bedarfe seien von der Sozialhilfe zu übernehmen. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 08.12.2009 (Bl. 445 f., Bd. III der Verwaltungsakte), welcher beim damaligen Rechtsanwalt der Klägerin am 10.12.2009 einging, u.a. mit der Begründung zurückgewiesen, dass der Träger der Sozialhilfe nach § 62 SGB XII an die Entscheidung der Pflegekasse über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit gebunden sei. Die zusätzliche Bewilligung einer Haushaltshilfe durch die Stadt G. über das vom MDK festgestellte Maß hinaus, sei daher rechtswidrig gewesen. Die Klägerin habe die Möglichkeit, Pflegesachleistungen in Anspruch zu nehmen.
Mit Schreiben vom 06.01.2010 - Eingang bei Gericht am 12.01.2010 - hat die Klägerin Klage erhoben.
Zur Begründung ihrer Klage verweist sie auf ihren Gesundheitszustand. Sie habe zunehmende Schmerzen in Armen, Händen und Fingern. Wegen einer massiven Kieferfehlstellung und einer Arthrose im Kiefergelenk sowie fehlenden Zähnen benötige sie Hilfe bei der Zubereitung ihres Essens. Außerdem benötige sie zusätzliche Hilfen beim Waschen und Anziehen. Ohne zusätzliche Haushaltshilfe könne sie ihre Wohnung nicht in einem ordentlichen Zustand erhalten. Meistens liege sie mit Schmerzen im Bett. Das Gesundheitsamt habe bei ihr ursprünglich einen Haushaltshilfebedarf im Umfang von 12 Stunden wöchentlich festgestellt; das Pflegegeld decke nicht mal den Mindestbedarf an Körperpflege und damit auch nicht die 7 Stunden wöchentlich. Sachleistungen könne sie nicht in Anspruch nehmen, weil sie jede Nacht spontane Hilfe brauche, die von den Pflegediensten nicht erbracht werden könne. Das Pflegegeld werde für die Nachtpflege verbraucht; ihr fehle die Pflege für den Tag und die Haushaltshilfe. Ohne die zusätzliche Hilfe könne sie ihren Alltag nicht bewältigen.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
den Bescheid der Stadt G. vom 17.03.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids des Beklagten vom 08.12.2009 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, Leistungen der Hilfe zur Pflege in Form der Kostenübernahme für eine Haushaltshilfe im Umfang von 5 Stunden wöchentlich zu gewähren.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
Er verweist auf seine Ausführungen im Verwaltungsverfahren und die Rechtsprechung der Kammer (u.a. Gerichtsbescheid vom 02.12.2009, Az.: S 34 SO 86/09). Ergänzend nimmt er Bezug auf eine innerdienstliche Mitteilung der Stadt Göttingen vom 02.02.2010, in welcher u.a. ausgeführt wird, der Gewährung von Pflegegeld liege die Vorstellung zugrunde, dass der Pflegebedürftige seine häusliche Pflege selbst organisiert und sie einschließlich der hauswirtschaftlichen Versorgung durch ihm nahestehende Personen oder im Wege der Nachbarschaftshilfe unentgeltlich erfolgt. Somit diene das Pflegegeld entgegen der Auffassung der Klägerin nicht zur Bezahlung von Pflegekräften, sondern sei als eine pauschalierte Aufwandsentschädigung oder als Motivationshilfe zu sehen, die Pflegebereitschaft dieser Personen zu erhalten. Der Pflegebedürftige könne das Pflegegeld nach seinen eigenen Vorstellungen verwenden. Sollte das gewährte Pflegegeld nicht ausreichen, könne die Klägerin auch Sachleistungen oder eine Kombination aus Sachleistungen und Pflegegeld der Pflegeversicherung in Anspruch nehmen.
Mit Bescheid vom 24.03.2009 hatte die Pflegekasse der Klägerin, die AOK Niedersachsen, den Antrag der Klägerin vom 17.12.2008, Leistungen der Pflegekasse entsprechend der Pflegestufe II zu erhalten (Höherstufung), abgelehnt. Die AOK führte aus, bei der Klägerin liege weiterhin eine Pflegebedürftigkeit entsprechend der Stufe I vor. Hiergegen erhob die Klägerin unter dem 15.04.2010 Widerspruch, der mit Widerspruchsbescheid vom 23.06.2010 zurückgewiesen wurde. Zur Begründung verwies die AOK auf die Stellungnahme des MDK vom 10.03.2009 und das von ihr eingeholte Gutachten nach Aktenlage vom 05.05.2009. Hiergegen hat die Klägerin am 21.07.2010 vor dem erkennenden Gericht Klage erhoben, über die bislang noch nicht entschieden wurde (Az.: 51 P 54/10). Ein zwischenzeitlich erneut gestellter Antrag der Klägerin auf Höherstufung wurde mit Bescheid der AOK vom 24.06.2010 unter Bezugnahme auf ein MDK-Gutachten vom 11.06.2010, wonach bei der Klägerin weiterhin (lediglich) ein Pflegebedarf entsprechend der Pflegestufe I bestehe, abgelehnt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen, wird auf die Gerichtsakte und auf die Verwaltungsakte des Beklagten (3 Bände) Bezug genommen. Sie haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung durch die Kammer ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Das Gericht konnte gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben.
Die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1, 4 SGG) ist zulässig und insbesondere fristgemäß erhoben. Zwar wurde der Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 08.12.2009 dem damaligen Rechtsanwalt der Klägerin bereits am 10.12.2009 zugestellt. Ende der Frist zur Erhebung der Klage wäre damit nach § 87 Abs. 2 SGG 10.01.2010 gewesen. Weil dieser Tag ein Sonntag war, hätte die Frist zur Erhebung der Klage am 11.01.2010 geendet. Die am 12.01.2010 bei Gericht eingegangene Klage ist aber dennoch fristgemäß erhoben worden, weil die Rechtsbehelfsbelehrung des Widerspruchsbescheids vom 08.12.2009 den Passus enthält, dass die Klage beim Verwaltungsgericht Göttingen erhoben werden könne. Dies ist unzutreffend. Zuständig sind nach § 51 Abs. 1 Nr. 6a SGG die Sozialgerichte, vorliegend das Sozialgericht Hildesheim. Weil die Rechtsbehelfsbelehrung falsch war, lief gem. § 66 Abs. 2 SGG die Jahresfrist.
Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Bescheid der Stadt G. vom 17.03.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids des Beklagten vom 08.12.2009 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in eigenen Rechten. Der Klägerin kommt kein Anspruch auf Hilfe zur Pflege nach den §§ 61 ff. SGB XII in Form eines Pflegegeldes zur Kostenübernahme für 5 zusätzliche Stunden einer Haushaltshilfe zu.
Der Beklagte konnte den Bescheid vom 19.08.2008 nach § 45 Abs. 1, 2 SGB X zurücknehmen, weil er rechtswidrig (hierzu a)) und das Vertrauen der Klägerin nicht schutzwürdig ist (hierzu b)).
a)
Der Bescheid vom 19.08.2008 ist rechtswidrig, weil er einer materiell-rechtlichen Grundlage entbehrt und gegen § 62 SGB XII verstößt.
Die Klägerin ist grundsätzlich nach § 61 Abs. 1 S. 1 SGB XII i.V.m. § 65 Abs. 1 S. 1 SGB XII (Erstattung der angemessenen Aufwendungen) leistungsberechtigt. Ihr Einkommen aus einer Rente und den ergänzenden Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII übersteigt nicht die in § 85 Abs. 1 SGB XII genannten Grenzen. Das Pflegegeld stellt insoweit kein Einkommen im Sinne des § 83 Abs. 1 SGB XII der Klägerin dar, weil es der Sicherstellung der Pflege dient.
Einem Anspruch der Klägerin steht jedoch die Bindungswirkung der jüngsten Entscheidung der Pflegekasse vom 23.06.2010 entgegen, welche wiederum auf den Gutachten des MDK vom 22.07.2008, 10.03.2009, 05.05.2009 und 11.06.2010 beruht. Nach diesen Gutachten besteht bei der Klägerin nach wie vor (lediglich) ein Pflegebedarf entsprechend der Pflegestufe I. Der hauswirtschaftliche Bedarf liegt bei 5,3 Stunden pro Woche (mithin etwa 45 Minuten täglich). Ein Anspruch auf das begehrte Pflegegeld gem. § 64 SGB XII für weitere 5 Stunden wöchentlich über das von der Pflegekasse anerkannte Maß hinaus kommt der Klägerin deshalb nicht zu. Die benannte Bindungswirkung ergibt sich aus § 62 SGB XII. Nach dieser Norm ist die Entscheidung der Pflegekasse über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI auch der Entscheidung der Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII zu Grunde zu legen, soweit sie auf Tatsachen beruht, die bei beiden Entscheidungen zu berücksichtigen sind. Das Vorgehen des Beklagten, bzw. der Stadt Göttingen, in der Vergangenheit zusätzlich zu den gutachterlichen Feststellungen der Pflegekasse über das Gesundheitsamt noch eigene Ermittlungen anzustellen und zusätzliche Leistungen zu gewähren, verstieß gegen § 62 SGB XII.
Zweck der soeben erläuterten Bindung ist die Einheitlichkeit der Entscheidung über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit durch die Pflegekasse und den Sozialhilfeträger. Ziel ist außerdem die Verringerung der Personalkosten und die Vermeidung von Wiederholungsbegutachtungen (h.M., vgl. nur Lachwitz in: Fichtner/Wenzel, Kommentar zum SGB XII, 4. Aufl., § 62 Rn. 1). Soweit Entscheidungen beider Träger auf denselben Tatsachen beruhen und gegenwärtig eine entsprechende Entscheidung der Pflegekasse vorliegt, ist der Träger der Sozialhilfe in der Regel nicht befugt, darüber hinausgehend eigene Ermittlungen anzustellen, weil er durch die Vorschrift an die Entscheidung der Pflegekasse gebunden ist (Krahmer in: LPK- SGB XII, 8. Aufl., § 62 Rn. 2). Daraus folgt, dass der Beklagte im Hinblick auf das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit keine von der Pflegekasse abweichende Entscheidung hinsichtlich des Ausmaßes der Hilfe zum Haushalt stützen kann (§ 62 SGB XII), sondern § 64 SGB XII allein als Rechtsgrundlage für eine Kostenübernahme in Fällen, in denen die Betroffenen die Pflegekosten nicht selbst tragen können, zu verstehen ist. Im hiesigen Verfahren wurde die Klägerin nachgerade kontinuierlich durch den MDK untersucht, zuletzt am 11.06.2010. Dabei wurde für die Klägerin - wie bereits ausgeführt - jedes Mal ein Pflegebedarf entsprechend der Pflegestufe I festgestellt. An diese Feststellungen der Pflegekasse ist grundsätzlich auch der Beklagte gebunden, denn die Bindungswirkung des § 62 SGB XII umfasst auch (und gerade) den zeitlichen Pflegeaufwand. Würde man die zeitliche Dimension für den Sozialhilfeträger nicht für relevant halten, würden in allen Fällen Doppelbegutachtungen notwendig werden und § 62 SGB XII wäre obsolet (so auch Krahmer in: LPK- SGB XII, 8. Aufl., § 62 Rn. 5).
Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hat in zwei jüngeren Entscheidungen die Auffassung vertreten, die Feststellungen des MDK hinsichtlich der Minutenzahlen für den Pflegebedarf entfalteten für den Sozialhilfeträger keine rechtliche Bindungswirkung; die Bindung trete lediglich hinsichtlich der Pflegestufe nach dem SGB XI ein (Beschluss vom 30.04.2009, Az.: L 8 SO 79/09 B ER und Beschluss vom 29.09.2009, Az.: L 8 SO 177/09 B ER). Das LSG begründet seine Auffassung u.a. mit dem Verweis auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 15.06.2000, Az.: 5 C 34/99), welches zur Vorgängervorschrift des § 68a des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) entschieden habe, dass die Feststellungen des Gutachtens des MDK hinsichtlich der Minutenzahlen für den Pflegebedarf für den Sozialhilfeträger keine rechtliche Bindungswirkung entfalteten und eigene Feststellungen zur Erforderlichkeit der Hilfe nicht entbehrlich machten, weil das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI durch die drei Pflegestufen des § 15 SGB XI definiert werde, nicht jedoch durch den im Einzelfall jeweils in Minuten bestimmten Hilfebedarf bezogen auf die jeweiligen Leistungskomplexe.
Die erkennende Kammer folgt der Auffassung des LSG Niedersachsen-Bremen ausdrücklich nicht und hält sie für unzutreffend. Gleiches gilt für die Interpretation der genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch das LSG.
Eine Auslegung, wonach die Feststellung der zeitlichen Dimension der Pflege nicht der Bindungswirkung des § 62 SGB XII unterfiele, hätte zur Folge, dass § 62 SGB XII hinfällig und gleichsam inhaltsleer bliebe, weil der Sozialhilfeträger in praktisch jedem Fall den erforderlichen zeitlichen Mindestaufwand für die Pflege selbst ermitteln müsste. Zur Ermittlung des Ausmaßes der Pflegebedürftigkeit durch die Pflegekasse gehört jedoch auch, dass eventuelle Veränderungen des Hilfebedarfs festgestellt und zeitlich fixiert werden. Hat die Pflegekasse aktuell einen Pflegebedarf entsprechend einer bestimmten Pflegestufe festgelegt, hat sie damit auch eine Aussage über den Pflegebedarf in Minuten getroffen. Gerade hierdurch wird das "Ausmaß der Pflegebedürftigkeit" im Sinne des § 62 SGB XII definiert (vgl. insoweit zur Vorgängervorschrift des § 68a BSHG: OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 26.11.2008, Az.: 12 A 2391/06). Die vom Sozialhilfeträger gem. § 62 SGB XII anzuerkennenden Ermittlungen der Pflegekasse sind nicht teilbar, weshalb sich die Bindungswirkung gerade nicht nur auf Festlegung einer bestimmten Pflegestufe, sondern auch auf den hiermit untrennbar verbundenen zeitlichen Umfang der Pflegebedürftigkeit in Minuten bezieht. Der Zweck der Vorschrift, Wiederholungsbegutachtungen zu vermeiden, ließe sich bei einer hiervon abweichenden Auffassung nicht erreichen (so auch: Meßling in: jurisPK-SGB XII, 1. Aufl. 2010, § 62 SGB XII, Rn. 14). Vielmehr würde die Gefahr schwer nachvollziehbarer unterschiedlicher Einschätzungen des Grades der Pflegebedürftigkeit entstehen, die die Absicht des Gesetzgebers, den Pflegebegriff möglichst weitgehend zu vereinheitlichen, vereitelte (insgesamt wie hier: Krahmer in: LPK- SGB XII, 8. Aufl., § 62 Rn. 1 und Lachwitz in: Fichtner/Wenzel, Kommentar zum SGB XII, 4. Aufl., § 62 Rn. 2, ebenso: VG Sigmaringen, Urteil vom 06.09.2001, Az.: 6 K 263/00; a.A. wohl: Frieser in: Linhart/Adolph, Kommentar zum SGB XII, 51. AL, § 62 Rn. 5: "Leistungsumfang"; Grube in: Grube/Wahrendorf, Kommentar zum SGB XII, 3. Aufl., § 62 Rn. 3; a. A. ohne Begründung auch Klie in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch - SGB XII, § 62 Rn. 7; H. Schellhorn in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, Kommentar zum SGB XII, 17. Aufl., § 62 Rn. 6). Im Übrigen käme es bei einer hiervon abweichenden Beurteilung der Rechtslage mitunter sogar zu einer Besserstellung von Sozialhilfeempfängern gegenüber denjenigen, die - mangels Hilfebedürftigkeit - keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII haben. Umgekehrt wäre bei einer konsequenten Fortführung des Ansatzes des Landessozialgerichts (a.a.O) auch eine Konstellation denkbar, in welcher der Träger der Sozialhilfe zu dem Ergebnis käme, dass der MDK für den jeweiligen Leistungsberechtigten einen zu hohen Pflegebedarf ermittelte und meint, es seien nur geringere Leistungen gerechtfertigt. Wie mit einer solchen Konstellation bei der vom LSG vertretenen Auffassung zu § 62 SGB XII umzugehen wäre, bleibt unklar.
Soweit sich das LSG in den genannten Beschlüssen (a.a.O.) auf eine Entscheidung des BVerwG beruft (Urteil vom 15.06.2000, Az.: 5 C 34/99), steht dieses der hier vertretenen Auffassung nicht entgegen. Das benannte Urteil betraf (lediglich) Pflegesachleistungen der Pflegeversicherung, die einen weitergehenden Anspruch auf Gewährung von ergänzender Hilfe zur Pflege gemäß § 69b Abs. 1 Satz 2 BSHG (entspricht § 65 SGB XII) nicht ausschließen. Hinsichtlich der Bindungswirkung des § 68a BSHG (entspricht § 62 SGB XII) führt das Urteil aber lediglich aus, dass das in dieser Vorschrift genannte "Ausmaß der Pflegebedürftigkeit" nach dem SGB XI durch die drei Pflegestufen des § 15 SGB XI definiert wird und dass Feststellungen des MDK, die eine solche Entscheidung nicht treffen, sondern lediglich den im Einzelfall jeweils in Minuten bestimmten Hilfebedarf bezogen auf die jeweiligen Leistungskomplexe benennen, keine Bindungswirkung entfalten. Zum Ausmaß des Pflegegesamtbedarfs bei einer - wie im hiesigen Fall gegebenen - Zuordnung des Pflegebedarfs zu einer bestimmten Pflegestufe hatte sich das BVerwG jedoch nicht geäußert, weshalb dieses Urteil der Auffassung des erkennenden Gerichts, dass der Sozialhilfeträger an die Feststellungen des zeitlichen Gesamtpflegebedarfs durch den MDK gebunden ist, wenn diese - wie hier - durch die Benennung einer bestimmten Pflegestufe erfolgte, nicht entgegensteht. Diese Interpretation des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts steht - soweit ersichtlich - auch im Einklang mit den insoweit zur Hilfe zur Pflege nach dem BSHG vertretenen Auffassungen in der Literatur (vgl. Hesse-Schiller: Ergänzungsfunktion der Sozialhilfe bei Leistungen der Pflegversicherung zur häuslichen Pflege, in: NDV 1994, S. 449 ff. (451) und Schoch: Die Hilfe zur Pflege (§§ 68 ff. BSHG) nach der Neuregelung der Vorschriften des Pflegversicherungsgesetzes und des Bundessozialhilfegesetzes, in: ZfF 1997, S. 145 ff. (146)).
In ihrer Auffassung sieht sich die Kammer auch durch eine jüngere Entscheidung des LSG Nordrhein-Westfalen bestätigt (Urteil vom 27.01.2010, Az.: L 12 (20) SO 37/09). Es hat eine Begrenzung des Leistungszeitraums des Sozialhilfeträgers unter Berufung auf die Bindungswirkung des § 62 SGB XII abgelehnt und im Übrigen ausgeführt:
"Die Vorschrift des § 62 SGB XII zeigt, dass die Hilfe zur Pflege so weit wie möglich an die Regelungen und Verfahren in der Pflegeversicherung angepasst werden soll. Sie legt eine Bindung des Trägers der Sozialhilfe an die Entscheidung der Pflegekasse über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit fest. Eine Bindungswirkung tritt ein, wenn die Pflegekasse eine Entscheidung über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit getroffen hat (vgl. hierzu Grube, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII Kommentar, 2. Auflage, 2008 § 62 Rdnr. 2).
Diese Bindungswirkung bezieht sich jedoch [ ] nur auf das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit. Das Ausmaß wiederum wird durch die drei Pflegestufen des § 15 SGB XI definiert [ ]."
Diesen Ausführungen schließt sich die Kammer an. Weil das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit durch die Pflegestufen definiert wird, welche sich wiederum aus dem ermittelten Pflegebedarf in Minuten ergeben (§ 15 Abs. 3 SGB XI), erstreckt sich die Bindungswirkung des § 62 SGB XII auch auf den ermittelten Pflegebedarf in Minuten.
Anderes könnte hier zu Gunsten der Klägerin nur dann gelten, wenn das Gutachten des MDK offensichtlich veraltet und dieser seiner Pflicht zur Neubegutachtung nicht nachgekommen wäre. Nur in einem Fall einer offensichtlichen Divergenz zwischen den Feststellungen des Medizinischen Dienstes und dem tatsächlichen Gesundheitszustand des Pflegebedürftigen, die sich durch ärztliche Befundberichte o.ä. ergeben mag, obläge es dem Träger der Sozialhilfe - hier dem Beklagten - nach den §§ 20, 21 SGB X (Untersuchungsgrundsatz) diese Sachlage in eigener Zuständigkeit zu prüfen und über den Leistungsumfang zu entscheiden (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 25.10.2001, Az.: 12 LB 2908/01; auch Klie in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch - SGB XII, § 62 Rn. 7; Frieser in: Linhart/Adolph, Kommentar zum SGB XII, 51. AL, § 62 Rn. 5). Die Klägerin wurde jedoch durch den MDK seit dem 22.07.2008 auch noch am 16.03.2009, 05.05.2009 und 11.06.2010 gutachterlich untersucht. Die Feststellungen des MDK vom 11.06.2010 dürften deshalb dem aktuellen Gesundheitszustand der Klägerin entsprechen. Damit besteht aber gerade die Tatsachenidentität, für die § 62 SGB XII die dargelegte Bindungswirkung vorschreibt.
b)
Auch die weiteren Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 SGB X sind erfüllt. Der Beklagte hat mit Bescheid vom 17.03.2009 den Bescheid vom 19.08.2008 mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben. Die Klägerin hat keine Vermögensdisposition getroffen, die sie nicht mehr oder (lediglich) nur unter unzumutbaren Nachteilen wieder rückgängig machen könnte. Unter Abwägung des Interesses der Klägerin an der Aufrechterhaltung des - aus den oben genannten Gründen - rechtswidrigen Zustands des Bezugs zusätzlicher Leistungen und des Interesses der Allgemeinheit an der Herstellung eines gesetzmäßigen Zustands und dem Interesse der Solidargemeinschaft an der Vermeidung ungerechtfertigter Belastungen und nicht zu rechtfertigender Aufwendungen zu ihren Lasten (Schütze in: von Wulffen, Kommentar zum SGB X, 7. Aufl., § 45 Rn. 40) kommt die Kammer zu der Auffassung, dass hier das öffentliche Interesse überwiegt. Dabei ist zum Einen zu berücksichtigen, dass die Klägerin die Möglichkeit hat, Pflegesachleistungen oder eine Kombination aus Sach- und Geldleistungen zu erhalten, um ihren tatsächlichen hauswirtschaftlichen Hilfebedarf zu decken. Der Klägerin stehen mithin andere Wege zur Bedarfsdeckung offen. Zum Anderen dient das Pflegegeld - worauf der Beklagte zutreffend hingewiesen hat - entgegen der Auffassung der Klägerin nicht zur Bezahlung von Pflegekräften, sondern ist lediglich als eine pauschalierte Aufwandsentschädigung oder als Motivationshilfe zu sehen, die Pflegebereitschaft der dem Pflegebedürftigen nahestehenden Personen zu erhalten (h.M, vgl. nur Grube in: Grube/Wahrendorf, Kommentar zum SGB XII, 3. Aufl., § 64 Rn. 2). Das Pflegegeld dient daher bereits seiner Konzeption nach nicht der "Bedarfsdeckung".
Nach alledem war die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.
Rechtsmittelbelehrung:
Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden.
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