Sozialgericht Hildesheim
Beschl. v. 22.09.2011, Az.: S 40 AY 108/11 ER

Anordnungsanspruch; verfassungsrechtliche Bedenken

Bibliographie

Gericht
SG Hildesheim
Datum
22.09.2011
Aktenzeichen
S 40 AY 108/11 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 45140
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Es besteht kein Anordungsanspruch für die Gewährung höherer als in § 3 AsylbLG derzeit festgelegten Leistungen, wenn ausschließlich vorgetragen wird, gegen die Leistungshöhe bestünden verfassungsrechtliche Bedenken.

Tenor:

Die Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe werden abgelehnt.

Die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller sind nicht erstattungsfähig.

Gründe

I.

Gestritten wird im Wege vorläufigen Rechtsschutzes um höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Für dieses Verfahren begehren die Antragsteller die Bewilligung von Prozesskostenhilfe.

Die Antragsteller sind nigerianische Staatsangehörige und Asylbewerber, die in den Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin verteilt worden sind. Die Antragstellerin zu 1 ist die Mutter des Antragstellers zu 2. Beide erhalten von der Antragsgegnerin laufende Leistungen nach § 3 AsylbLG in der gesetzlichen Höhe von insgesamt monatlich 664,76 €. Der letzte Leistungsbescheid wurde am 31.01.2011 für den Monat März 2011 erteilt. Seitdem wurden gleich hohe Leistungen monatlich ausgezahlt.

Mit Schriftsatz vom 27.08.2011 legte die Antragsteller Widerspruch gegen die Höhe der Leistungsgewährung für April bis September 2011 ein, weil sie die Leistungen als verfassungswidrig zu niedrig ansehen. Über den Widerspruch wurde von der Antragsgegnerin - soweit ersichtlich - bislang noch nicht entschieden.

Unter dem 05.09.2011 haben die Antragsteller um den Erlass einer einstweiligen Anordnung nachgesucht und zur Begründung ausgeführt, dass die Leistungshöhe nach dem AsylbLG seit 17 Jahren unverändert sei. Angesichts von 24,6 % Preissteigerung bei Nahrungsmitteln und nichtalkoholischen Getränken in diesem Zeitraum liege es auf der Hand, dass die aktuelle Leistungshöhe im Vergleich zu den aktuell vom Gesetzgeber angepassten Leistungen, die Empfänger von Leistungen nach dem SGB II oder XII bezögen und die zwischen 40,3 % und 88,8 % höher lägen, verfassungswidrig zu niedrig sei. Hiervon gehe auch das LSG Nordrhein-Westfalen aus, das im Verfahren L 20 AY 13/09 die Höhe der Leistungen nach dem AsylbLG dem Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung vorgelegt habe.

Weil zur Führung eines menschenwürdigen Lebens demzufolge mindestens Leistungen in Höhe der Sätze nach dem SGB II zu bewilligen seien, sei der Bescheid vom 17.08.2011 rechtswidrig. Im Ergebnis sehe das auch das SG Mannheim so, dass einen Leistungsträger im Eilverfahren verpflichtet habe, bis auf Weiteres zusätzliche Leistungen in Höhe von monatlich 65,51 € zu bewilligen.

Da ihnen nicht zugemutet werden könne, bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zuzuwarten, würden die Antragsteller von der Antragsgegnerin einfordern, ihnen gem. § 6 AsylbLG vorläufig Leistungen in verfassungsgemäßer Höhe zu erbringen.

Die Antragsteller beantragen,

die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihnen vorläufig, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vorlagebeschluss des LSG NRW vom 26.07.2011, Az L 20 AY 13/09, Leistungen in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Höhe, mindestens jedoch in Höhe der Sätze des SGB II bzw. SGB XII zu gewähren

und ihnen Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt G. aus H. zu bewilligen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Sie trägt vor, die Leistungsgewährung entspreche dem geltenden Recht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes nimmt die Kammer auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren, Bezug.

II.

Der zulässige und statthafte Eilantrag bleibt in der Sache erfolglos.

Nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig ist. Das ist immer dann der Fall, wenn ohne den vorläufigen Rechtsschutz schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache im Falle des Obsiegens nicht mehr in der Lage wäre (vgl. Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Beschluss vom 19.10.1977 - 2 BvR 42/76 -, BVerfGE 46 [166, 179, 184]). Steht einem Antragsteller ein von ihm geltend gemachter Anspruch voraussichtlich zu und ist es ihm nicht zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens (hier: des Widerspruchsverfahrens) abzuwarten, ist ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes regelmäßig begründet. Eine aus Gründen der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gebotene Vorwegnahme der Hauptsache im einstweiligen Verfahren ist jedoch nur dann zulässig, wenn einem Antragsteller ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung unzumutbare Nachteile drohen würden und für die Hauptsache hohe Erfolgsaussichten prognostiziert werden können. Sowohl die hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs (Anordnungsanspruch) als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile (Anordnungsgrund) müssen glaubhaft gemacht werden, § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO).

Die Antragsteller haben zwar die besondere Eilbedürftigkeit ihres Anliegens, also einen Anordnungsgrund für den geltend gemachten Anspruch glaubhaft gemacht. Denn dies versteht sich vor dem Hintergrund des Zwecks der Grundleistungen nach dem AsylbLG, die der Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums für die in § 1 Abs. 1 AsylbLG definierte Gruppe von Ausländern ohne Bleibeperspektive für die vorübergehende Zeit ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik dienen, von selbst und bedarf deshalb keiner weiteren Erörterung.

Demgegenüber fehlt es an der materiellen Rechtsgrundlage für das Begehren, also am Anordnungsanspruch. Die Antragsteller sind als Asylbewerber gemäß § 1 Abs. 1 AsylbLG nach Maßgabe der §§ 2 ff. AsylbLG leistungsberechtigt. Sie sind auch hilfebedürftig, denn sie verfügen nach den von der Kammer im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes von der Antragsgegnerin vorgelegten Leistungsakten aktuell über kein Einkommen oder Vermögen, welches sie gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG vor Gewährung von Asylbewerberleistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts aufzubrauchen hätten.

Einen Anordnungsanspruch zur Gewährung höherer als in § 3 AsylbLG gesetzlich festgelegter Grundleistungen haben die Antragsteller gleichwohl nicht mit der für eine faktische Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht. Dies gilt auch in Ansehung der Vorlagebeschlüsse des LSG Nordrhein-Westfalen zum Bundesverfassungsgericht zur Klärung der Frage der Vereinbarkeit der derzeitigen gesetzlichen Regelungen zur Grundleistungsgewährung im AsylbLG (vgl. Beschlüsse vom 22.11.2010 - L 20 AY 1/09 -, juris; und vom 26.07.2010 - L 20 AY 13/09 -, juris). Das vorliegende Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes dient seiner Natur nach lediglich dazu, etwaige Härten für die Zeit bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren zu vermeiden. Es dient nicht dazu, die Hauptsache vorwegzunehmen oder grundsätzliche Rechtsfragen vorab zu beantworten. Die Herleitung von Leistungsansprüchen direkt aus dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (d.h. ohne entsprechende einfachgesetzliche Rechtsgrundlage) kommt aber allenfalls dann in Betracht, wenn im Einzelnen dargelegt und glaubhaft gemacht wird, welche konkreten und für ein menschenwürdiges Leben unabdingbaren Bedarfe derzeit nicht ausreichend durch die in gesetzlicher Höhe gewährten Grundleistungen gedeckt sein sollen (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 25.06.2010 - L 11 AY 29/10 B ER -). Dies ist hier durch die Antragsteller nicht geschehen.

Ohnehin erscheint die Annahme eines solchen Ausnahmefalles im Asylbewerberleistungsrecht zweifelhaft, denn das BVerfG hat in einem "Nichtannahme-Beschluss" vom 30.10.2010 (- 1 BvR 2037/10 -, Juris) ausgeführt, die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit könnten unmittelbar gestützt auf die Verfassung, insbesondere auf das aus Artikel 1 Abs. 1 i.V.m. mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Abs. 1 GG folgende Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, keinen (weiteren) Leistungsanspruch - auch nicht vorläufig - zusprechen. Denn die Konkretisierung dieses Grundrechts bleibe dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten; wie dieser den Umfang der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums bestimme, oder ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichere, bleibe grundsätzlich ihm überlassen. Auch eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG komme in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht in Betracht, da in diesen Verfahren nur eine vorläufige Klärung herbeizuführen sei, bei der möglichst zeitnah entschieden werde, welche Leistungspflichten einstweilen gelten sollten; eine solche zeitnahe Klärung sei in einem Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG jedoch nicht zu erwarten (zit. nach juris Rn. 12).

Vor dem Hintergrund dieser verfassungsgerichtlichen Vorgaben vermag die Kammer den (inhaltlich durchaus nachvollziehbaren) Überlegungen des SG Mannheim in seinem Beschluss vom 10.08.2011 nicht beizutreten.

Schließlich bleibt auch der Prozesskostenhilfeantrag erfolglos. Prozesskostenhilfe erhält gem. § 73a Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Ob bei den Antragstellern "Prozessarmut" vorliegt, kann dahinstehen. Denn das Rechtsschutzgesuch hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Insoweit nimmt die Kammer Bezug auf die obigen Ausführungen.