Sozialgericht Hildesheim
Urt. v. 19.04.2011, Az.: S 26 AS 1689/10
In der Vorbereitungsphase mit dem Ziel des Erlangens des akademischen Grades eines Doktors der Humanmedizin besteht ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II
Bibliographie
- Gericht
- SG Hildesheim
- Datum
- 19.04.2011
- Aktenzeichen
- S 26 AS 1689/10
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2011, 16942
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGHILDE:2011:0419.S26AS1689.10.0A
Rechtsgrundlage
- § 7 Abs. 5 S. 1 SGB II
Tenor:
- 1.
Der Bescheid des Beklagten vom 10.06.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.07.2010 wird aufgehoben.
- 2.
Der Beklagte wird verurteilt, den Antrag des Klägers vom 07.05.2010 auf Leistungen nach dem SGB II unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts für den Leistungszeitraum 07.05.2010 bis 30.06.2010 zu bescheiden; im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
- 3.
Der Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für einen Zeitraum, während dessen der Kläger im Zusammenhang mit der von ihm beabsichtigten Promotion bei einer Universität immatrikuliert war.
Der 1984 geborene Kläger studierte seit April 2004 Humanmedizin an der G. in H ... Am 05.05.2010 legte er erfolgreich die Staatsprüfung ab. Mit Wirkung vom 06.05.2010 wurde die Immatrikulation des Klägers mit dem Ziel Staatsexamen auf das Ziel Promotion im Bereich Humanmedizin geändert.
Am Freitag, den 07.05.2010 beantragte er bei der Stadt H. Leistungen nach dem SGB II und reichte am 10.05.2010 den ausgefüllten Leistungsantrag ein. Mit Bescheid vom 10.06.2010 lehnte der Beklagte den Antrag ab, weil der Kläger als Promotionsstudent immatrikuliert sei. Es handele sich dabei um eine dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung.
Den hiergegen unter dem 15.06.2010 erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Bescheid vom 29.07.2010 zurück.
Der Kläger geht seit 01.07.2010 einer Erwerbstätigkeit als Assistenzarzt nach.
Mit der Klage wendet der Kläger sich gegen die Ablehnung von Leistungen im Zeitraum vom 06.05.2010 bis 30.06.2010.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 10.06.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.07.2010 zu verurteilen, ihm Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum 06.05.2010 bis zum 30.06.2010 in gesetzlicher Höhe zu bewilligen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend und beruft sich auf das Urteil des Sozialgerichts I. vom 23.11.2010 - S 12 AS 9949/09 ER -.
Das Gericht hat die Promotionsordnung der G. vom 14.07.2008 hinzugezogen.
Die Beteiligten haben sich mit ihren Schriftsätzen vom 03.02. und 21.02.2011 mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die am 01.11.2010 bei Gericht eingegangene Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Das Gericht kann durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil beide Beteiligte sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).
Die zulässige Klage ist überwiegend im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Bescheides in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat, und Verpflichtung zur erneuten Entscheidung über den Leistungsantrag des Klägers begründet.
Nach § 131 Abs. 5 Satz 1 und 2 Hs. 1 SGG kann das Gericht bei einer Anfechtungs- und Leistungsklage einen Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben ohne in der Sache selbst zu entscheiden, wenn es eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, die noch erforderlichen Ermittlungen nach Art oder Umfang erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Nach § 131 Abs. 5 Satz 2 Hs. 2, Abs. 3 der Vorschrift ist im Urteil die Verpflichtung auszusprechen, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Eine weitere Sachaufklärung ist erforderlich, weil es der Beklagte unterlassen hat, die Tatsachen, aus denen sich die Höhe des Leistungsanspruchs ergibt, zu ermitteln.
Der Beklagte ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Kläger von Leistungen nach dem SGB II im Hinblick auf die im streitigen Zeitraum bestehende Immatrikulation bei der G. mit dem Ziel der Promotion und die Vorschrift des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II ausgeschlossen ist und deshalb diese Ermittlungen entbehrlich sind.
Gemäß § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II haben Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes oder der §§ 60 bis 62 des Dritten Buches (SGB III) dem Grunde nach förderungsfähig ist, keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.
Die Förderungsfähigkeit richtet sich allein danach, ob ausbildungsbezogene Gründe einer Förderung entgegen stehen. Dagegen ist unerheblich, ob der Auszubildende im Einzelfall Leistungen tatsächlich erhält oder hätte beanspruchen können (Bundessozialgericht (BSG), Urt. v. 06.09.2007 - B 14/7b AS 36/06 R - [Rn. 16]).
Entgegen der Ansicht des Beklagten ist die Vorbereitungsphase des Klägers mit dem Ziel, den akademischen Grad eines Doktors der Humanmedizin zu erwerben, nicht in diesem Sinne förderungsfähig.
Der Kläger hatte mit dem erfolgreich abgelegten Staatsexamen im Studiengang Humanmedizin bereits einen berufsqualifizierenden Abschluss erreicht. Die Immatrikulation bei einer Universität im Zusammenhang mit einer Promotion - der Ausdruck "Promotionsstudium" dürfte zwar gebräuchlich, aber unpräzise sein - ist nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) nicht förderungsfähig. Sie erfüllt niemals die allein ausbildungsbezogenen Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 Nr. 2 und 3 BAföG. Danach wird für eine einzige weitere Ausbildung Ausbildungsförderung längstens bis zu einem berufsqualifizierenden Abschluss geleistet, wenn (Nr. 2) sie eine Hochschulausbildung oder eine dieser nach Landesrecht gleichgestellte Ausbildung insoweit ergänzt, als dies für die Aufnahme des angestrebten Berufs rechtlich erforderlich ist, oder (Nr. 3) wenn im Zusammenhang mit der vorhergehenden Ausbildung der Zugang zu ihr eröffnet worden ist, sie in sich selbständig ist und in derselben Richtung fachlich weiterführt. Weder ist die Promotion jedoch rechtliche Voraussetzung für die Aufnahme des Arztberufes, noch ist sie in sich selbständig (vgl. Verwaltungsgericht Freiburg, Beschluss vom 11.06.2002 - 7 K 873/02 -; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 05.12.1995 - 7 S 2963/94 -; beide in [...] veröff.).
Die gegenteilige Auffassung des Sozialgerichts (SG) I. zur Förderungsfähigkeit in seinem Beschluss vom 23.11.2010 - S 12 AS 9949/09 ER - vermag die Kammer nicht zu überzeugen.
Das SG I. hat die Förderungsfähigkeit im Wesentlichen deshalb angenommen, weil es das "Promotionsstudium" als Fortsetzung des eingeschlagenen Studiengangs angesehen hat, die einem Zweitstudium gleichkomme. Dabei wird jedoch aus Sicht des erkennenden Gerichts übersehen, dass das in § 7 Abs. 2 Nr. 5 BAföG erwähnte "echte" Zweitstudium - anders als die Vorbereitung auf die Promotion - die ausbildungsbezogenen Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 Nr. 2 und 3 BAföG durchaus erfüllen und insoweit förderungsfähig sein kann, aufgrund eines bereits absolvierten Studiums - also aus persönlichen Gründen - jedoch nicht förderungsfähig ist.
Der Beklagte kann sich für seine gegenteilige Rechtsauffassung auch weder auf das Urteil des SG Hildesheim vom 09.03.2007 - S 33 AS 845/05 - noch den hierzu nachfolgend ergangenen Beschluss des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 24.01.2008 - L 9 AS 24/07 NZB - stützen.
Der dort zugrunde liegende Sachverhalt ist bereits nicht mit dem hier zugrunde liegenden Sachverhalt vergleichbar.
Anders als dort blieb der Kläger hier nach Erwerb des Staatsexamens nicht lediglich als Student (weiter mit dem Ziel des Staatsexamens) immatrikuliert, sondern immatrikulierte sich (anstelle des Examensstudiengangs) im Zusammenhang mit der beabsichtigten Promotion.
Schon deshalb kann offen bleiben, ob die dieser Rechtsprechung zu entnehmende schlichte Anknüpfung an die Dauer der Immatrikulation auch dann zu überzeugen vermag, wenn der Immatrikulierte - z.B. nach bestandener Abschlussprüfung - sich dem Arbeitsmarkt zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung stellt und nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden kann, dass er dem Arbeitsmarkt aufgrund des in der Immatrikulation zum Ausdruck kommenden Willensrichtung nicht in ausreichendem Umfang zur Verfügung steht.
Eine Notwendigkeit hierzu erscheint unter diesen Umständen jedenfalls zweifelhaft, weil der Grundsicherungsträger an der Vermittlung des (Noch-)Immatrikulierten weder faktisch oder rechtlich gehindert wäre. Vielmehr erscheint der Grundsicherungsträger gerade unter diesen Voraussetzungen zur zeitnahen Vermittlung aufgerufen und kann bei nicht ausreichender Mitwirkung, z.B. bei der Weigerung, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen, Sanktionen verhängen (so auch LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 03.04.2008 - L 2 AS 71/06 - [veröff. in [...], dort Rn. 38].
Aber selbst wenn diesem Grundsatz auch unter den aufgezeigten Voraussetzungen zu folgen wäre, könnte nach Auffassung der Kammer auf den Umstand der Immatrikulation jedenfalls dann nicht abgestellt werden, wenn diese im Leistungszeitraum nicht zur Vermeidung von Rechtsnachteilen obligatorisch war (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, a.a.O., [[...] Rn. 34]).
Hier war die Immatrikulation für den Erwerb der Promotion zwar nicht "für alle Zeit" entbehrlich, weil der Kläger sich nach § 6 Abs. 10 der Promotionsordnung zumindest in der Phase zwischen der Abgabe seiner Dissertation und dem Abschluss des Verfahrens durch erfolgreiche mündliche Prüfung oder Abbruch immatrikulieren muss. Sie hätte jedoch im streitgegenständlichen Zeitraum unterbleiben können, ohne dass dies Rechtsfolgen für das Promotionsverfahren nach sich gezogen hätte.
Die erforderlichen Ermittlungen sind nach Art oder Umfang erheblich und die auf die Aufhebung und Neubescheidung beschränkte Entscheidung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich.
Der Beklagte hat insbesondere weder die vom Kläger zu tragenden Kosten der Unterkunft, noch eventuelle im streitgegenständlichen Zeitraum anzurechnende Einkünfte ermittelt. Die Ermittlungen durch das Gericht würden erheblich mehr Zeit als solche des Beklagten in Anspruch nehmen. Auch ist eine erneute gerichtliche Überprüfung der Entscheidung wenig wahrscheinlich, weil die hier allein entschiedene Frage des generellen Anspruchsausschlusses aufgrund der laufenden Vorbereitung auf die Promotion streitig sein dürfte.
Soweit der Kläger Leistungen für den 06.05.2010 beansprucht, ist die Klage abzuweisen. Der Kläger stellte seinen Leistungsantrag am 07.05.2010 bei der unzuständigen Stadt H.; der Antrag gilt aber als an diesem Tag bei der Beklagten gestellt (§ 16 Abs. 2 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I)). Leistungen werden jedoch nicht für Zeiten vor Antragstellung erbracht (§ 37 Abs. 2 Satz 1 SGB II). Der Ausnahmefall des § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II liegt nicht vor.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. Der Beklagte hat trotz des Teilunterliegens des Klägers dessen gesamte notwendige außergerichtliche Aufwendungen zu erstatten. Der Kläger ist lediglich zu 1/55 des streitgegenständlichen Zeitraums unterlegen, so dass das Gericht die Zuvielforderung als für die Kostenentscheidung unmaßgeblich ansieht (Rechtsgedanke des § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).
Die Berufung ist - entgegen der vorläufigen Würdigung in der richterlichen Verfügung vom 23.11.2010 - kraft Gesetzes zulässig. Die Summe der in Betracht kommenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und für Unterkunft und Heizung kann nicht hinreichend eingegrenzt werden, da - wie ausgeführt - wesentliche Ermittlungen nicht durchgeführt wurden. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass der Wert des Beschwerdegegenstandes selbst unter Zugrundelegung der für den Kläger günstigsten Rechtsauffassung höchstens 750,- EUR beträgt. Wären die nach Aktenlage über 300,- EUR liegenden Unterkunftskosten in voller Höhe zu übernehmen und kein Einkommen anzurechnen, könnte der Kläger für den streitgegenständlichen Zeitraum mehr als 750,- EUR beanspruchen.
Rechtsmittelbelehrung:
pp.
D.