Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 13.11.2018, Az.: 13 A 305/18
Analgosedierung; Beihilfefähigkeit; Schwellenwert; Weisheitszahn; Zahnbehandlung
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 13.11.2018
- Aktenzeichen
- 13 A 305/18
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2018, 74246
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 5 Abs 2 GOZ
- § 5 Abs 1 BhV ND
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Bei der operativen Entfernung von Weisheitszähnen kann unter Umständen auch eine Analgosedierung beihilfefähig sein.
Tenor:
Die Beklagte wird verpflichtet, die Aufwendungen für die Analgosedierung bei dem Sohn D. in der Rechnung vom 28.07.2017 (GOÄ-Ziff. 462a, 463a) als beihilfefähig anzuerkennen und eine Beihilfe auf dieses Honorar zu gewähren. Der Bescheid der Beklagten vom 17.08.2017 und der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 4. 20.11.2017 werden aufgehoben, soweit sie dieser Verpflichtung entgegenstehen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt eine Beihilfe zu Aufwendungen für eine Analogsedierung.
Er ist mit einem Bemessungssatz von 80 v. H. für seinen Sohn E. beihilfeberechtigt.
Am 25.07.2017 wurden bei dem Sohn des Klägers zwei Weisheitszähne gezogen. Dabei nahm der Zahnarzt eine so genannte Analgosedierung vor.
In der zahnärztlichen Rechnung vom 28.07.2017 wurden entsprechend folgende Rechnungspositionen aufgeführt:
Ä461a | Analgosedierung bis zu 1 Stunde | Faktor 3,20 | 95,14 € |
---|---|---|---|
Ä463a | Analgosedierung je weit. Angef. ½ Stunde | Faktor 3,20 | 64,90 € |
Als Begründung der Schwellenwertüberschreitung wurde in der Rechnung angegeben: „überdurchschnittlicher Schwierigkeitsgrad wegen extremen Brechreiz, Würgereiz und Hypersalivation“.
Insgesamt belief sich der Rechnungsbetrag mit anderen GOÄ-Ziffern, die ebenfalls im Zusammenhang mit der vorgenommenen Analgosedierung stehen, (wobei hier der Schwellenwert nicht überschritten wurde) auf 343,74 €. Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die Rechnung in den Verwaltungsvorgängen der Beklagten Bezug genommen.
Mit Beihilfebescheid vom 17.08.2017 wurde eine Beihilfe zur Rechnung vom 28.07.2017 insgesamt abgelehnt.
Der Kläger legte gegen diesen Bescheid Widerspruch ein und übersandte ärztliche Stellungnahmen vom 30.08.2017 und 09.11.2017 (Bl. 7 und 18 der Verwaltungsvorgänge). Das beklagte Amt holte eine amtsärztliche Stellungnahme ein, die sich unter Bl. 13 der Verwaltungsvorgänge findet. Es wird wegen des näheren Inhaltes auf die genannten Stellungnahmen auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 4. 20.11.2017 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Der Widerspruchsbescheid wurde am 04.12.2017 zugestellt.
Der Kläger hat am 02.01.2018 Klage erhoben.
Er trägt vor, die behandelnde Ärztin habe bereits im Vorfeld wegen des erheblichen Umfangs des chirurgischen Eingriffs auf die Notwendigkeit einer vollständigen Schmerzausschaltung hingewiesen und ausgeführt, eine rein lokale Anästhesie sei nicht zu empfehlen gewesen. Es handele sich nicht um eine normale Zahnentfernung, sondern um einen komplizierten Eingriff an einer sehr schwer zugänglichen Stelle im Bereich des Kopfes.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 17.08.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 4. 20.11.2017 die Beklagte zu verpflichten, ihm, dem Kläger, für die finanziellen Aufwendungen der Analgosedierung seines Sohnes am 25.07.2017 eine Beihilfe in Höhe von 274,99 € zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er tritt der Klage entgegen. Wenn eine Analgosedierung lediglich empfehlenswert sei, sei sie eben nicht medizinisch notwendig.
Außerdem holte der Beklagte eine weitere amtsärztliche Stellungnahme der Region Hannover vom 05.09.2018 ein, auf die wegen der näheren Einzelheiten ebenfalls verwiesen wird.
Das Gericht erhob Beweis zu der Frage, inwieweit eine Analgosedierung medizinisch notwendig war durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Sachverständigen F. Hannover. Auf das Gutachten vom 02.07.2018 wird verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet.
Gemäß § 5 Abs. 1 NBhVO sind die nachgewiesenen und angemessenen Aufbauendungen für eine medizinisch notwendige Behandlung beihilfefähig.
Nach Ansicht des Gerichtes ergibt sich die medizinische Notwendigkeit für die hier streitige Analgosedierung überzeugend aus dem Gutachten des Sachverständigen (dort insbesondere Blatt 6).
Aus eigener Kenntnis weiß das Gericht, dass es sich bei der Entfernung von schwer zugänglichen Weisheitszähnen um einen sehr komplexen Eingriff handelt, der mit einer örtlichen Betäubung abhängig vom jeweiligen Patienten nur eingeschränkt beherrschbar ist. Gerade auch in Anbetracht des Umstandes, dass der Patient - insoweit ist die Rechnung unstreitig – mit einem extrem starken Bereich- und Würgereiz zu kämpfen hatte, erscheint das eingeholte Sachverständigengutachten folgerichtig. Die demgegenüber vom Beklagten vorgelegte amtszahnärztlich Stellungnahme überzeugt nicht und vermag das Gutachten vom 02.07.2018 nicht zu entkräften.
Das Gericht hegt nach alledem kein Zweifel an der medizinischen Notwendigkeit einer Analgosedierung im Fall des Sohnes des Klägers.
Soweit sich der Beklagte auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts (VG) Köln vom 06.08.2007 beruft (19 K 1548/07), ist der Sachverhalt nicht vergleichbar. Im Urteil des VG Köln ging es um eine Intubationsnarkose, nicht – wie hier – um eine Analgosedierung. Das VG Köln kam in seiner Entscheidung zu dem Schluss, dass „ohne weiteres andere, in gleicher Weise geeignete und den Regeln zahnärztlicher Kunst entsprechende Möglichkeiten der Schmerzausschaltung vorhanden waren“. Das ist im hier zu entscheidenden Fall jedoch anders. Der Gutachter gelangte ausdrücklich zu dem Ergebnis, dass zur Schmerzausschaltung die angewendete Analgosedierung medizinisch indiziert war.
Auch soweit bei zwei Gebührenziffern der Schwellenwert überschritten worden ist, ist das Honorar beihilfefähig.
Die Frage der Angemessenheit der Aufwendungen richtet sich gemäß § 5 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 NBhVO ausschließlich nach dem Gebührenrahmen der zahnärztlichen Gebührenordnung. Beihilfefähig ist nach alledem eine Rechnung auf der Basis einer zutreffenden Auslegung des Gebührenrechts. Es gibt grundsätzlich keine unterschiedliche Angemessenheit hinsichtlich des Honoraranspruchs einerseits und der Beihilfefähigkeit andererseits. Angemessen sind regelmäßig die nach § 5 GOZ vom Zahnarzt rechtmäßigerweise anzusetzenden Gebühren. Möglicherweise sieht die Beklagte dies anders, für den hier zu entscheidenden Fall dürfte dieser Umstand nach dem gegenwärtigen Sachstand jedoch keine ausschlaggebende Rolle spielen.
Nach § 5 Abs. 2 GOZ bildet der 2,3fache Gebührensatz die nach Schwierigkeit und Zeitaufwand durchschnittliche Leistung ab; ein Überschreiten dieses Gebührensatzes ist nur zulässig, wenn Besonderheiten der in Satz 1 genannten Bemessungskriterien (Schwierigkeit und des Zeitaufwandes der einzelnen Leistung sowie der Umstände bei der Ausführung) dies rechtfertigen.
Allerdings bestimmt § 5 Abs. 1 Satz 4 NBhVO, dass Aufwendungen, die auf einer Überschreitung des Schwellenwertes des Gebührenrahmens beruhen, nur dann angemessen sind, wenn patientenbezogene Besonderheiten, die eine Ausnahme darstellen, vorliegen.
Das Gericht sieht darin keine über § 5 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 NBhVO hinausgehende Einschränkung der Beihilfefähigkeit (eine derartige Regelung dürfte im Hinblick auf die gegenüber dem einzelnen Beamten bestehende Fürsorgepflicht auch rechtlich sehr bedenklich sein). Denn die bei der zahnärztlichen Versorgung über den Durchschnitt hinausgehenden Schwierigkeiten und ein dadurch bedingter erhöhter Zeitaufwand kann seine Ursache nur in patientenbezogenen Umständen haben. Es ist nicht davon auszugehen, dass die GOZ auch dann dem Zahnarzt ein erhöhtes Honorar zubilligen wollte, wenn die Schwierigkeiten bzw. der erhöhte Zeitaufwand auf Umstände zurückzuführen sind, die etwa in seinen unter den Durchschnitt liegenden ärztlichen Fähigkeiten oder seiner mangelhaften technischen Ausstattung zu suchen sind.
Für die Entscheidung, ob nach den Maßstäben des Beihilferechts Aufwendungen für ärztliche Leistungen angemessen sind, ist die Auslegung des ärztlichen Gebührenrechts durch die Zivilgerichte maßgebend (OVG Lüneburg, Urteil vom 05.04.2011 - 5 LB 231/10 - ). Die Entscheidung der Beihilfestelle, ob die Aufwendungen notwendig und angemessen sind, ist keine Ermessensentscheidung und unterliegt uneingeschränkter verwaltungsgerichtlicher Kontrolle (vgl. zum Ganzen: BVerwG, Beschluss vom v. 19.1.2011 - 2 B 64.10 -, zitiert nach juris-Langtext Rn. 5; Urteil vom 16.12.2009 - 2 C 79.08 -, NVwZ-RR 2010, 365 und zitiert nach juris-Langtext Rn. 14; Urteil vom 28.10.2004 - 2 C 34.03 -, ZBR 2005, 169 und zitiert nach juris-Langtext, Rn. 11, 14).
Zwar hat in dem hier zu entscheidenden Fall bislang kein Zivilgericht die Rechtsfrage geklärt, ob der Zahnarzt des Klägers seine ärztlichen Leistungen hinsichtlich der streitigen Gebührenziffern mit dem 2,3fachen oder abrechnen oder den Schwellenwert überschreiten durften. Der Bundesgerichtshof hat aber in seinem Urteil vom 8. November 2007 (- III ZR 54/07 -, BGHZ 174, 101 und juris) die Frage entschieden, unter welchen Voraussetzungen ein Arzt persönlich-ärztliche Leistungen mit dem Höchstsatz der Regelspanne des 2,3fachen des Gebührensatzes abrechnen darf. Er hat abschließend in Auseinandersetzung mit der zivilgerichtlichen Judikatur und auch der von dem Verwaltungsgericht zitierten bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung sowie insbesondere unter Berücksichtigung der Entwicklung der Abrechnungspraxis ärztlicher Gebühren festgestellt, dass es nicht als ermessensfehlerhaft anzusehen ist, wenn persönlich-ärztliche Leistungen, die sich in einem Bereich durchschnittlicher Schwierigkeiten und einem durchschnittlichen Zeitaufwand befinden sowie nicht durch Erschwernisse gekennzeichnet sind, zum Schwellenwert von 2,3 abgerechnet werden (OVG Lüneburg, a.a.O unter Hinweis auf BGH, a. a. O., zitiert nach juris-Langtext, Rn. 11 ff. <18, 21>).
Ist demnach zivilgerichtlich festgestellt, dass ein Arzt ohne Begründung seine Leistung mit dem 2,3fachen Gebührenwert abrechnen darf, wenn die Behandlung mit durchschnittlichen Schwierigkeiten und durchschnittlichem Zeitaufwand ohne Erschwernisse verbunden war (vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 19.1.2011 - 2 B 70.10 -, juris und Beschl. v. 5.1.2011 - 2 B 55.10 -, juris), folgt daraus auch für das Beihilferecht, dass der Arzt den Schwellenwert des 2,3fachen Gebührenwertes dann überschreiten kann, wenn er überdurchschnittliche Schwierigkeiten und einen überdurchschnittlichen Zeitaufwand der Leistungen und überdurchschnittlich schwierige Umstände der Ausführung schriftlich begründet (OVG Lüneburg, a.a.O.).
Allerdings muss die Begründung überdurchschnittlicher Schwierigkeiten die in § 5 Abs. 2 Satz 4 letzter Halbsatz GOZ genannten Besonderheiten der in Satz 1 genannten Bemessungskriterien eindeutig aufzeigen. Die Überschreitung des 2,3fachen Gebührensatzes setzt nämlich nach dieser Vorschrift voraus, dass Besonderheiten gerade bei der Behandlung des betreffenden Patienten, abweichend von der großen Mehrzahl der Behandlungsfälle, aufgetreten sind. Dem Ausnahmecharakter des Überschreitens des Schwellenwertes widerspräche es, wenn schon eine vom Arzt allgemein oder häufig, jedenfalls nicht nur bei einzelnen Patienten wegen in ihrer Person liegender Schwierigkeiten, angewandte Verfahrensweise bei der Ausführung einer im Gebührenverzeichnis beschriebenen Leistung als eine das Überschreiten des Schwellenwertes rechtfertigende Besonderheit angesehen würde. Diese Betrachtungsweise ergibt sich aus der Gegenüberstellung der "in der Regel" einzuhaltenden Spanne zwischen dem einfachen Gebührensatz und dem Schwellenwert einerseits mit dem zulässigen Überschreiten dieses Wertes wegen Besonderheiten der Bemessungskriterien andererseits (§ 5 Abs. 2 Satz 4 GOZ) sowie aus der Anordnung einer schriftlichen Begründung des Überschreitens des Schwellenwertes, die auf Verlangen näher zu erläutern ist (§ 10 Abs. 3 Sätze 1 und 2 GOZ). Für eine nähere Erläuterung ist sinnvoll nur Raum, wenn Besonderheiten gerade des vorliegenden Einzelfalles darzustellen sind; könnte schon eine bestimmte, vom Einzelfall unabhängige Art der Ausführung der im Gebührenverzeichnis beschriebenen Leistung das Überschreiten des Schwellenwertes rechtfertigen, so wäre dies mit einem kurzen Hinweis auf die angewandte Ausführungsart abschließend dargelegt (OVG Lüneburg, a.a.O.).
Zwar verkennt das Gericht nicht, dass in der Vergangenheit verschiedentlich von einigen Beihilfe gewährenden Stellen unzumutbar hohe Anforderungen an die Begründung der Schwellenwertüberschreitung gestellt wurden. Es kann nicht angehen, dass der Arzt bzw. Zahnarzt für die Begründung der Schwellenwertüberschreitung mehr Zeit aufwenden muss als für die eigentliche Behandlung, zumal es sich oft nur um relativ geringe Beträge handelt. Ausführliche ärztliche Berichte oder gar Gutachten können nicht verlangt werden. Allerdings muss sich aus der gegebenen Begründung andererseits aber auch nachvollziehbar entnehmen lassen, weshalb bei dem Patienten nun eine überdurchschnittliche Erschwernis vorlag.
Die Begründung zu den streitigen Gebührenziffern entspricht diesen Anforderungen. Ein extremer Brechreiz in Kombination mit übermäßigen Speichelfluss stellt zumindest in dieser Kombination eine über den Durchschnitt liegende Schwierigkeit dar. Der Zahnarzt kann d den Speichelfluss auch nicht durch den Einsatz größerer oder mehrerer Sauger effektiv bekämpfen, weil dem der extreme Brech- bzw. Würgereiz entgegensteht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.