Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 06.11.2018, Az.: 6 A 5053/17

Irak; Yezide; Ninwa; Ninewe; Vorverfolgung; Vermutungswirkung; Widerlegung; Qualifikationsrichtlinie

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
06.11.2018
Aktenzeichen
6 A 5053/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 74382
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Irakischen Angehörigen der yezidischen Glaubensgemeinschaft drohte in der Provinz Ninawa ab dem Sommer 2014 eine allein an ihren Glauben anknüpfende Gruppenverfolgung durch Anhänger des sog. Islamischen Staates (IS).
2. Die zwischenzeitlich eingetretenen militärischen Erfolge im Kampf gegen den IS im Irak rechtfertigen gegenwärtig (noch) nicht die Annahme im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie), es sprächen stichhaltige Gründe dagegen, dass vorverfolgt ausgereiste Angehörige der yezidischen Glaubensgemeinschaft in der Provinz Ninawa erneut von solcher Verfolgung bedroht werden.

Tenor:

1. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid der Beklagten vom 26. Mai 2017 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

3. Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abzuwenden, sofern nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Der Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volks- und yezidischer Religionszugehörigkeit, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Er reiste eigenen Angaben zufolge am 11. September 2016 mit seiner Frau und sechs seiner Kinder mit dem Flugzeug aus dem Irak aus und am selben Tag in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag stellte. In seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 8. März 2017 gab der Kläger an, er habe den Irak aus Furcht vor der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) verlassen.

Zu seinen persönlichen Verhältnissen erklärte der Kläger, er stamme ursprünglich aus dem Ort Risala in der Nähe von Mosul, wo er über zwanzig Jahre gelebt habe. Im Irak hielten sich noch eine seiner Töchter sowie seine vier Schwestern auf. Er habe zudem eine zweite Frau bzw. Lebenspartnerin, die mit vier der gemeinsamen Kinder mittlerweile in der Nähe von Leverkusen lebe. Beim fünften gemeinsamen Kind handele es sich um die Tochter, die sich noch im Irak in Dohuk aufhalte. Zu seinem Werdegang gab der Kläger an, er habe das Abitur abgelegt und zwei Jahre Medizin studiert. Anschließend sei er in der Pflege tätig gewesen.

Zu den Gründen seiner Flucht gab der Kläger an, er sei mit seiner Familie geflohen, als der IS am 3. August 2014 ihr Dorf eingenommen habe. Sie seien zunächst in die Türkei geflohen und dann, ca. im Februar oder März 2015, in die irakische Provinz Dohuk in ein Flüchtlingscamp im Ort Sharia gegangen. Sein Sohn sei zunächst nach Deutschland ausgereist und habe dann für die übrigen Angehörigen die Familienzusammenführung beantragt. Er, d.h. der Kläger sowie seine Angehörigen seien dann in die Türkei nach Ankara gegangen, um sich ein Visum ausstellen zu lassen. Deshalb seien sie mit einem deutschen Visum nach Deutschland eingereist. Im Januar 2017 habe er nach Dohuk zurückfliegen müssen, um seine ernsthaft erkrankte 23jährige Tochter zum Arzt zu bringen. Seine Tochter sei in Gefahr gewesen und habe niemanden gehabt, der ihr in dieser Situation habe helfen können.

Mit Bescheid vom 26. Mai 2017 erkannte das Bundesamt dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu; im Übrigen lehnte es den Asylantrag ab. Zur Begründung führte es aus, der Kläger sei nicht in flüchtlingsrechtlich relevanter Weise vorverfolgt aus dem Irak ausgereist, denn es fehle an dem tatsächlichen Zusammenhang zwischen der Ausreise aus dem Irak und der vorherigen Flucht aus dem Heimatdorf. In der autonomen Region Kurdistan habe der Kläger keine Verfolgung zu befürchten, wie sich auch an seiner Rückreise im Januar 2017 zeige.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 6. Juni 2017 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein bisheriges Vorbringen.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 27. August 2018 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen. Dieser hat den Antrag auf Bewilligung mit Prozesskostenhilfe mit Beschluss vom 30. Oktober 2018 abgelehnt, da der Kläger die erforderliche Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht vorgelegt hat.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 26. Mai 2017 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamts vom 26. Mai 2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO), soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - GFK - (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen sind beim Kläger erfüllt.

Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Gemäß § 3c AsylG kann die Verfolgung von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Staat eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).

Die Befürchtung einer Verfolgung ist grundsätzlich dann gerechtfertigt, wenn dem Ausländer für seine Person bei verständiger, objektiver Würdigung der gesamten Umstände seines Falles solche Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Beachtlich im vorgenannten Sinne ist die Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung dann, wenn bei zusammenfassender Bewertung des Lebenssachverhaltes die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33/07 -, juris Rn. 37). Dieser Maßstab entspricht dem für die Verfolgungsprognose unionsrechtlich einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab der "tatsächlichen Gefahr" ("real risk") eines Schadenseintritts, der unabhängig davon Geltung beansprucht, ob der Ausländer verfolgt oder unverfolgt ausgereist ist (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25/10 -, juris Rn. 22). Die Gefahr eigener Verfolgung kann sich dabei nicht nur aus gegen den Ausländer selbst gerichteten, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Diese ursprünglich für die staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze sind auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, juris Rn. 13).

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in der Person des Klägers erfüllt. Der Kläger hat zwar nicht dargelegt, dass ihm im Falle der Rückkehr in den Irak aus individuellen, nur in seiner Person liegenden Gründen in Anknüpfung an eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale Verfolgung droht. Jedoch ist er als Angehöriger der yezidischen Glaubensgemeinschaft in seiner Herkunftsprovinz Ninawa mit der Provinzhauptstadt Mosul weiterhin und damit auch im maßgebenden Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) der Gefahr einer Gruppenverfolgung in Anknüpfung an seine yezidische Religionszugehörigkeit ausgesetzt.

Dem Kläger kommt bei der Beurteilung der Frage, ob ihm weiterhin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren im Irak drohen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12) die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rats vom 13.12.2011 (sog. Qualifikationsrichtlinie, ABl. Nr. L 337 S.9) zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Der Nachweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie liegt der Gedanke zugrunde, dass es einem vor seiner Ausreise unmittelbar von Verfolgung bedrohten Ausländer nicht zuzumuten ist, das Risiko einer Verfolgungswiederholung zu tragen (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 -, juris Rn. 26; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.03.2017 - 15a K 5929/16.A -, juris Rn. 38). Für die Anwendbarkeit des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie ist dabei unerheblich, ob dem Ausländer vor der Ausreise eine interne Schutzmöglichkeit zur Verfügung gestanden hat. Die Beweiserleichterung greift vielmehr auch dann ein, wenn sich der Ausländer vor seiner Ausreise aus dem Heimatland nicht landesweit in einer ausweglosen Lage befunden hat (BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 24.08 - juris Rn. 18; VGH Mannheim, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 - juris Rn. 27).

Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, fällt der Kläger in den persönlichen Anwendungsbereich der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie. Der Kläger war vor seiner Ausreise aus dem Irak von Verfolgungsmaßnahmen bedroht, die nach § 3 Abs. 1 AsylG geeignet sind, Flüchtlingsschutz zu begründen.

Er hat bis zum 3. August 2014 und damit noch nach dem Einmarsch der Kampftruppen des IS in die Provinz Ninawa im Sommer 2014, in dem Ort Babire bzw. Mojamma Al-Risala gelebt. Aufgrund der glaubhaften Angaben des Klägers gegenüber dem Gericht steht nicht nur zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass der Kläger tatsächlich aus dem Ort stammt, sondern auch, dass er vor den heranrückenden Truppen des IS floh. Die diesbezügliche Aussage des Klägers in der mündlichen Verhandlung enthielt zahlreiche Realkennzeichen, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines erlebten Geschehens sprechen. Er schilderte das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent mit quantitativen Detailreichtum, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen sowie unter Angabe räumlich-zeitlicher Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten. Zudem erwies sich die Schilderung in Bezug auf das Kerngeschehen im Wesentlichen als inhaltlich konstant mit der vorangegangenen Aussage gegenüber dem Bundesamt. Diesbezüglich wird im Einzelnen auf die ausführliche Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Die Kammer hat darüber hinaus bereits mit Urteil vom 15. August 2014 (6 A 9853/14 - juris Rn. 20 - 24) angenommen, dass große Teile der Provinz Ninawa mit der Hauptstadt Mosul im August 2014 unter der Kontrolle der Dschihadistengruppe Islamischer Staat - IS - gestanden haben und yezidischen Religionsangehörigen deshalb in der Provinz Ninawa mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Gruppenverfolgung in Anknüpfung an ihre Religionszugehörigkeit gedroht hat. Davon sind auch das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen im Urteil vom 2. September 2014 (18a K 223/13.A - juris), das Verwaltungsgericht Köln in seinem Urteil vom 15. August 2014 (18 K 386/ 14.A - juris) und das Verwaltungsgericht Frankfurt in seinem Urteil vom 3. Juli 2014 (4 K 2317/ 13 F.A. - juris) ausgegangen. In jüngerer Zeit hat das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen (Urteil vom 08.03.2017 - 15 a K 5929/16.A - juris Rn. 76) abermals angenommen, dass yezidische Religionsangehörige, die aus der Provinz Ninawa stammen, jedenfalls im Sommer 2014 der Gefahr einer Gruppenverfolgung wegen ihrer yezidischen Religionszugehörigkeit ausgesetzt gewesen sind. Auch die Kammer geht in gefestigter Rechtsprechung (z.B. Urteil vom 26.10.2017 - 6 A 9126/17 und 6 A 7844/17) weiterhin davon aus, dass yezidischen Religionsangehörigen in der Provinz Ninawa beginnend ab Sommer 2014 in Anknüpfung an ihre Religion die Gefahr einer Gruppenverfolgung gedroht hat.

Dass der IS in diesem Zusammenhang schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen im Sinne des § 3 a Abs. 1 Nr. 1 AsylG und damit die Gewährung von Flüchtlingsschutz rechtfertigende Verfolgungshandlungen begangen hat, liegt nicht nur der angeführten verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zugrunde, sondern ist auch vom UN - Menschenrechtsrat angenommen worden. Der IS hat nach Auffassung des UN-Menschrechtsrats an den Yeziden Völkermord begangen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verübt (vgl. UN-Menschenrechtsrat, „They Came to Destroy“: ISIS Crimes Against the Yazidis, 15.6.2016, S. 1). Es kam zu Hinrichtungen, Entführungen, Zwangskonvertierungen, Vergewaltigungen, Versklavungen, Zwangsverheiratungen, Zwangsabtreibungen, Menschenhandel, Rekrutierung von Kindersoldaten, Zwangsvertreibungen und Massenmord (vgl. UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016, S. 4; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7.2.2017, S. 12).

Diese Verfolgungshandlungen haben auch im Sinne von § 3a Abs. 3 AsylG an die yezidische Religionszugehörigkeit und damit an einen in §§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG genannten Verfolgungsgrund angeknüpft. Der IS fokussierte seinen Angriff von Beginn an aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit auf die Yeziden und strebte systematisch ihre Vernichtung an (vgl. UN-Menschenrechtsrat, „They Came to Destroy“: ISIS Crimes Against the Yazidis, 15.6.2016, S. 1). Für die Extremisten des IS sind die Yeziden „Ungläubige“, sogenannte „Teufelsanbeter“, die mit dem Tod bestraft werden können (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7.2.2017, S. 18). Diese religiöse Deutung bestimmt(e) das Verhalten der IS-Kämpfer während des Angriffs auf die Sindschar-Region und die daran anschließende Misshandlung von yezidischen Männern, Frauen und Kindern. Die Tötung nicht konvertierender yezidischer Männer und Jungen, die sexuelle Ausbeutung und Versklavung von yezidischen Frauen und Mädchen, die Entführung, Indoktrinierung und Rekrutierung von yezidischen Jungen knüpfte nahtlos an den religiösen Auftrag der IS-„Gelehrten“ hinsichtlich der Behandlung von yezidischen Gefangenen an. Während und nach dem Angriff vom 03.08.2014 zerstörte der IS yezidische Heiligtümer und Tempel in der Sindschar-Region. Yezidische Häuser wurden als solche markiert und geplündert (vgl. UN-Menschenrechtsrat, „They Came to Destroy“: ISIS Crimes Against the Yazidis, 15.6.2016, S. 29-30).

Entgegen der vom Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid geäußerten Auffassung entfällt die Annahme einer Vorverfolgung im Sinne des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie nicht dadurch, dass der Kläger zunächst in die Türkei floh und sich sodann in ein Flüchtlingslager in Dohuk begab. Für die Frage, ob die Ausreise im Zusammenhang mit der Verfolgung stand, ist auf die Herkunftsregion des Klägers bzw. seinen dauerhaften freiwilligen Wohnort abzustellen, nicht hingegen auf ein Gebiet, in das er sich gerade gezwungenermaßen im Rahmen seiner Flucht begab. Ob inländische Fluchtalternativen bestehen, betrifft zudem, wie bereits dargestellt, nicht die Frage, ob eine Vorverfolgung im Sinne des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie tatbestandlich überhaupt vorliegt, sondern die Prüfung, ob die Vermutungswirkung der Norm ausnahmsweise widerlegt ist.

Es liegen ferner derzeit keine stichhaltigen Gründe vor, welche aus der Sicht des Einzelrichters die Annahme rechtfertigen könnten, dass der Kläger im Falle der Rückkehr in den Irak keinen religiös motivierten Verfolgungsmaßnahmen mehr ausgesetzt sein würde (Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie). Sofern beispielsweise das Verwaltungsgericht Oldenburg (Urteil vom 27.02.2018 – 15 A 883/17 -, juris), das Verwaltungsgericht Lüneburg (Urteil vom 26.03.2018 – 5 A 472/17 -, juris) und das Verwaltungsgericht Karlsruhe (Urteil vom 04.07.2018 – A 10 K 177769/17 -, juris) in jüngeren Entscheidungen ausführen, es sprächen nunmehr stichhaltige Gründe gegen eine erneute (Gruppen-)Verfolgung der Yeziden in der Provinz Ninawa, weil der IS nicht mehr über die für eine systematische Verfolgung erforderlichen Strukturen verfüge, schließt sich der Einzelrichter dieser Rechtsprechung nicht an. Die Gefährdung, welche nach Maßgabe der vorgenannten Erkenntnismittel von Anhängern des IS für Andersdenkende ausgeht, entfällt insbesondere nicht aufgrund des Umstandes, dass der damalige irakische Regierungschef Haider al-Abadi am 9. Dezember 2017 den Krieg gegen die IS-Terrormiliz in seinem Land für beendet erklärt hat (Artikel der Zeit vom 09.12.2017: „Irak verkündet Ende des Krieges gegen den IS“).

Zwar steht die Region um Sindschar nicht mehr unter der direkten territorialen Kontrolle des IS. Dies reicht aber im Hinblick auf die massiven Rechtsgutverletzungen, die den Yeziden durch Angehörige des IS drohen, nicht aus, um die aus Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie abzuleitende Vermutung einer fortbestehenden Verfolgungsgefahr hinreichend zu entkräften. Der IS hat in Irak Menschenrechtsverletzungen erheblicher Grausamkeit verübt; die schweren und systematischen Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte bei den Verbrechen gegen die Yeziden sind unvorstellbaren Ausmaßes (so ausdrücklich: Bericht der Bundesregierung zur Lage in Irak und zum deutschen Irak-Engagement, 4. September 2018, BT-Drucks. 19/4070, S. 17). In Ansehung dieser massiven Rechtsverletzungen, die Angehörige des IS gegenüber Yeziden begangen haben, haben sich die Verhältnisse in der Provinz Ninawa derzeit noch nicht so stabilisiert, dass eine Wiederholung religiös motivierter Verfolgungshandlungen gegenüber Yeziden hinreichend sicher bzw. stichhaltig ausgeschlossen werden kann. In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der IS weiterhin nennenswerte Gebiete im Süd-Westen der Provinz Ninawa kontrolliert (s. https://isis.liveuamap.com/, Abruf: 6.11.2018). Angesichts des Ausmaßes der Gefahr kann bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen Furcht vor Verfolgung jedoch auch dann hervorgerufen werden, wenn der IS (lediglich) in der unmittelbaren Umgebung der eigenen Herkunftsregion Gebiete kontrolliert, denn Gebietsgewinne und -verluste sind im Rahmen bewaffneter Auseinandersetzungen jederzeit denkbar. Nach neueren Erkenntnissen der Bundesregierung soll der IS in seinem syrisch-irakischen Kerngebiet zudem weiterhin über bis zu 10.000 Kämpfer verfügen (Artikel des Tagesspiegels vom 9. September 2018, S. 1 der Druckversion). In Bezug auf die Provinz Ninawa und deren Hauptstadt Mosul führt das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in seinem Länderbericht betreffend den Irak überdies aus (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 20):

„Die Organisation IS („Islamischer Staat“) wurde zwar massiv zurückgedrängt (s. Länderinformationsblatt inkl. bisherige Kurzinformationen), befindet sich aber weiterhin in Teilen der Provinzen Ninewa, Salah Al-Din und Anbar. Es muss dort weiterhin mit schweren Anschlägen und offenen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen IS-Verbündeten und den irakischen Sicherheitskräften, regional-kurdischen Peschmerga, Milizen und auch mit US-Luftschlägen gerechnet werden. In der Provinz Ta’mim kommt es regelmäßig zu Kämpfen zwischen terroristischen Gruppen und kurdischen Peschmerga (AA 24.10.2017). Veröffentlichungen von Audiobotschaften des IS-Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi zielen darauf ab, die Gerüchte rund um seinen Tod zu entkräften und die IS-Kämpfer in Syrien und Irak zur Standhaftigkeit aufzurufen. In Mosul etwa wurde der IS zwar vor drei Monaten besiegt, die Organisation stellt dort jedoch noch immer eine Bedrohung dar. Alleine im Zeitraum 19.9.2017 bis 13.10.2017 wurden dort zwölf Selbstmordattentäter getötet. In der Provinz Anbar versuchte der IS Ende September 2017 die Kontrolle über Teile der Stadt Ramadi wiederzuerlangen. Kurzzeitig konnten einige IS-Truppen tatsächlich Teile der Stadt besetzen, letztlich scheiterte der Versuch jedoch. Anbar war stets eine Hochburg von sunnitischen Aufständischen (IFK 13.10.2017).“

Eine Studie der Militärakademie West Point aus Juni 2017 verdeutlicht in diesem Zusammenhang, dass das Risiko von Aktivitäten IS-Aufständischer in den großen Städten des Irak variiert, wobei Ost-Mosul im Berichtszeitraum in Bezug auf die Häufigkeit von Anschlägen den ersten Platz unter 16 formell vom IS befreiten Städten einnahm. Hier kam es innerhalb der ersten 96 Tage nach der Befreiung der Stadt zu 417 registrierten Angriffen durch IS Anhänger mit insgesamt 52 Todesopfern, d.h. durchschnittlich 130,3 Angriffen pro Monat (Milton/al-`Ubaydi, The Fight Goes On: The Islamic State’s Continuing Military Efforts in Liberated Cities, Combating Terrorism Center at West Point United States Military Academy, Juni 2017, S. 4). In einem Artikel vom 18. September 2017 zitiert das Nachrichtenportal Vox den Außenminister der kurdischen Regionalregierung zudem mit den Worten: „Wir sollten nicht versucht sein, zu glauben, dass die Befreiung Mosuls das Ende von ISIS oder das Ende des Terrorismus bedeutet. Dies wird ein langfristiger Kampf sein, gegebenenfalls sogar ein Kampf für eine Generation.“ (Vox, Artikel vom 18. September 2017, „On the ground in Iraq, the war against ISIS is just getting started“, S. 2 der Druckversion). Mit diesen Informationen einhergehend verbreitet der IS auch zur gegenwärtigen Zeit im Irak neuen Terror. So hegen irakische Sicherheitsbehörden den begründeten Verdacht, dass die im Januar 2018 in der Provinz Ninawa verübte Ermordung von drei Rechtsanwälten, welche in Gerichtsprozessen mit Bezug zu ehemaligen IS-Mitgliedern aufgetreten waren, auf das Konto einer IS-Schläferzelle geht (Artikel von Kurdistan24 vom 2. Januar 2018: „Three lawyers working on IS-related cases killed in Iraq“). Laut Angaben eines arabischen Nachrichtenmagazins der Terror-Organisation will die Gruppierung darüber hinaus allein zwischen dem 9. und 18. April 2018 insgesamt 25 Mitarbeiter politischer Parteien und der staatlichen Wahlbehörde getötet haben. Zudem kündigte ein Sprecher der Organisation weitere Anschläge rund um die bevorstehende Parlamentswahl am 12. Mai 2018 an mit der Begründung, die Wahl sei unislamisch und diene ausschließlich dazu, den Schiiten die Macht im Irak zu verleihen (Spiegel Online, Artikel vom 25. April 2018, „Die Rückkehr des IS“, S. 1 der Druckversion).

Bei Beurteilung der Frage, ob die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie widerlegt wird, ist zudem maßgeblich in Rechnung zu stellen, dass die Organisation des IS im Irak bereits zweimal, d.h. in den Jahren 2008 und 2011, vermeintlich zerstört wurde, sich jedoch tatsächlich jeweils in den Untergrund verlagerte und allmählich wieder erstarkte. Auch in der gegenwärtigen Situation gehen Beobachter davon aus, dass die Terrororganisation IS sich die personelle und finanzielle Basis für einen erneuten Aufstieg zu einem günstigen Zeitpunkt, d.h. bei einem Machtvakuum, einem Bürgerkrieg oder einer Unterdrückung der sunnitischen Minderheit, dadurch aufrechterhält, indem sie – wie in der Anfangsphase der Organisation bzw. seiner Vorgängerorganisationen - Drogenschmuggel, Menschenhandel, Entführungen oder illegale Finanzgeschäfte betreibt und parallel ihre religiöse Ideologie im Internet verbreitet. Derartige Aktivitäten kann der IS auch ohne einen territorialen Geltungsanspruch durchführen (Artikel der Zeit vom 27.12.2017: „Dschihad der Staatenlosen“). Dieses gilt umso mehr, als es dem IS nach Schätzungen des irakischen Parlaments gelungen ist, ca. 400 Millionen US-Dollar aus seinem einstigen Herrschaftsgebiet herauszuschmuggeln, wobei die Organisation einen Teil der Summe mit Hilfe von Mittelsmännern in Bagdad und in anderen Landesteilen (z.B. in Wechselstuben) reinvestiert hat, um seinen Untergrundkampf zu finanzieren (Artikel des Spiegel vom 20. Januar 2018: „Ölquellen weg, Geldschrank voll“). Die Zeitschrift Middle East Eye führt des Weiteren in einem Artikel vom 13. Juli 2017 aus, die Aussage über das Ende des IS im Irak sei Wunschdenken, welches die wahre Natur der Organisation nicht berücksichtige. Zwar sei es möglich, von einem zeitweisen Ende des politischen Projekts des IS zu sprechen, d.h. als ein Staat mit Regierungsstrukturen, einem territorialen Geltungsanspruch und einem Militärapparat, der sich auf konventionelle Kriegsführung gründe. Der IS werde jedoch schlichtweg zu seiner ursprünglichen Form zurückkehren, namentlich einer ideologischen Organisation mit Strukturen und Finanzierungswegen, welche auf den Prinzipien des Guerillakriegs und der damit einhergehenden Zermürbung staatlicher Strukturen basiere (The Middle East Eye, Artikel vom 13. Juli 2017, „The final defeat of IS in Mosul? Not by a long shot“, S. 2 f. der Druckversion). Hiermit korrespondierend nimmt die Bundesregierung in ihrem Bericht zur Lage in Irak und zum deutschen Irak-Engagement vom 4. September 2018 zur fortdauernden Gefährdung durch den IS wie folgt Stellung (BT-Drucks. 19/4070, S. 4, 14):

„Irak steht vor großen Herausforderungen. Das Ende der territorialen Kontrolle bedeutet nicht das Ende der Bedrohung durch IS. Die Terrororganisation existiert in Irak weiterhin im Untergrund und verübt Anschläge. Ihre Propagandamaschinerie läuft weiter. Die militärischen Erfolge im Kampf gegen IS müssen gesichert und ein Wiedererstarken der Terrororganisation dauerhaft verhindert werden.“

„Nach wie vor stellt IS für Irak, die Region und weltweit eine terroristische Bedrohung dar. In Syrien beherrscht IS weiterhin – wenn auch in schwindendem Maße – Landesteile insbesondere entlang der syrisch-irakischen Grenzen und dem mittleren Euphrat-Tal und ist in der Lage, schwere Attentate in anderen Teilen des Landes zu begehen. In Irak ist die Terrororganisation inzwischen zu einer Kampfweise mit verstärkt asymmetrischen Mitteln aus dem Untergrund heraus übergegangen. Sie ist in ihren ehemaligen Kerngebieten (insbesondere Provinz Anbar, Raum Kirkuk, nördlich von Bagdad) weiter aktiv. Daher muss IS weiter entschlossen und nachhaltig bekämpft werden – auch mit militärischen Fähigkeiten. Ein Wiedererstarken von IS würde Sicherheitsinteressen Deutschlands, Iraks und der internationalen Staatengemeinschaft bedrohen. Ein vorzeitiger Abbruch der irakischen und internationalen Bemühungen im Kampf gegen IS würde das Erreichte bei der zivilen Stabilisierung und den Übergang zum Wiederaufbau gefährden.“

Diese Lageeinschätzung entspricht auch den Ergebnissen einer aktuellen Befragung von Kommandeuren des irakischen Militärs sowie der im Irak stationierten US-Regierungstruppen (Defense One, Artikel vom 22. März 2018, „The War in Iraq Isn’t Done. Commanders Explain Why and What’s Next“, S. 4 f. der Druckversion). Der vorgenannte Artikel des Nachrichtenmagazins Vox aus September 2017 führt überdies aus, zahlreiche Anhänger oder stillschweigende Unterstützer des IS seien keine ausländischen Kämpfer gewesen, sondern im Irak geborene Sunniten, d.h. in den Worten des ehemaligen Ministers für Menschenrechte der kurdischen Regionalregierung: „Das Konzept [des IS] ist ein internationales Phänomen, aber die Rohmaterialien sind irakischer Herkunft.“ Einige der lokalen sunnitischen politischen Anführer oder Stammesoberhäupter, so der Artikel im weiteren Verlauf, seien vom IS unter Androhung von gewaltsamen Vergeltungsmaßnahmen zum Treueschwur gezwungen worden. Andere unterstützungsbereite Sunniten seien hingegen bereits frustriert gewesen aufgrund der langjährigen Marginalisierung durch die Hände der schiitisch dominierten, von den USA unterstützten Regierung in Bagdad, die mit dem Sturz der vorwiegend sunnitischen Baath-Regierung Saddam Husseins im Jahr 2003 begonnen habe. Die US-Übergangsregierung habe das Programm der „De-Baathifizierung“ implementiert, mit dem Baath-Regime affiliierte Offizielle aus dem Staatsdienst entfernt und von der Mitwirkung am politischen Prozess ausgeschlossen. Die hiermit einhergehende Entlassung von zehntausenden von Sicherheitsbeamten und sonstigen Staatsbediensteten, inklusive Lehrern, habe unter der sunnitischen Bevölkerung des Iraks für weitverbreitete Wut gesorgt. Bis 2014 hätten die jeweils aufeinander folgenden schiitischen (Zentral-)Regierungen ihre Macht durch die Verfolgung politischer Gegner und Massenarreste konsolidiert. Je mehr die irakischen Sunniten von der Führungsriege des Landes desillusioniert gewesen seien, desto mehr habe sich für zahlreiche von ihnen der IS als verlockende Alternative dargestellt, sei er doch eine sunnitische Gruppe, welche der schiitischen Zentralregierung des Iraks den Kampf angesagt habe (Vox, Artikel vom 18. September 2017, „On the ground in Iraq, the war against ISIS is just getting started“, S. 3 der Druckversion). So stellte beispielsweise ein bekannter politischer Kommentator mit sunnitischer Glaubenszugehörigkeit noch im Juni 2017, d.h. zu einer Zeit, als der IS bereits erhebliche Teile seines Herrschaftsgebiets verloren hatte, in einem Fernsehinterview das Vorgehen der Organisation als legitime Antwort auf den zunehmenden schiitischen Einfluss im Irak dar, wobei er zugleich die Unterdrückung und Vertreibung der yezidischen Bevölkerung des Iraks mit den religiösen Vorgaben des Koran rechtfertigte (The Middle East Research Institute, Artikel vom 1. Juni 2017, „Iraqi Political Commentator Ali Al-Shamari: Iraqi Regime Left US No Choice But to support ISIS“).

Die Aussage, dass die Ziele des IS weiterhin erhebliche Unterstützung bei der sunnitisch-arabischen Bevölkerung des Irak genießen – insbesondere in Mosul, dem historischen Zentrum des sunnitisch-arabischen Nationalismus – findet eine weitere Bestätigung in einer Feldstudie der Militärakademie West Point aus April 2018, in deren Rahmen 70 sunnitische Araber im Alter von 18 bis 31 Jahren (Durchschnittsalter: 23,81 Jahre), die sich auf fünf Camps für Binnenvertriebene zwischen Mosul und der Kurdischen Autonomieregion verteilten, für durchschnittlich zwei Stunden unter Zusicherung der Gewährung von Anonymität befragt wurden (Atran u.a., The Islamic State’s Lingering Legacy among Young Men from the Mosul Area, Combating Terrorism Center at West Point, April 2018, Volume 11, Issue 4, S. 3 der Druckversion). Auf die Frage hin, was die örtliche Gemeinschaft an der Herrschaft des IS positiv bewertete, antworteten sieben Prozent der Befragten (n = 5) mit: „Nichts.“. 93 Prozent der Interviewpartner (n = 65) erwähnten hingegen das „Gute“, was der IS zumindest zu Beginn seiner Herrschaft bewirkt habe, insbesondere im Hinblick auf die Landesverteidigung, das Engagement für die Religion, die Implementierung des Rechts der Scharia sowie die Gewährleistung von Sicherheit, Stabilität und persönlicher Bewegungsfreiheit (Atran u.a., a.a.O., S. 5 der Druckversion). Bei der Frage, für welches Ziel die Interviewpartner am ehesten bereit wären, Opfer zu bringen (d.h. in Gestalt des Verlustes des Arbeitsplatzes oder von Einkommen, der Hinnahme der Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe, des Einsatzes von Gewalt, der Opferung des eigenen Lebens sowie der Hinnahme der körperlichen Bestrafung der eigenen Kinder), belegte das Ziel der Herrschaft der Scharia den ersten Rangplatz, die Verteidigung der Demokratie hingegen den letzten (Altan u.a., a.a.O., Figure 5, S. 9 der Druckversion). Diejenigen Probanden, welche die Herrschaft der Scharia als ihr wichtigstes Ziel ansahen, antworteten auf die Frage, was mit den Anhängern der Buchreligionen (Ahl Al-kitab) geschehen solle, d.h. den Juden und Christen, dass diese die Dschizya zahlen sollten, d.h. die Steuer, welchen nichtmuslimischen Schutzbefohlenen (Dhimmi) unter islamischer Herrschaft auferlegt wird. Die Frage, was mit den Yeziden geschehen solle, beantworteten die betreffenden Probanden typischerweise dahingehend, dass diese nicht getötet werden sollten, aber zum Islam konvertieren müssten. Die Urheber der Studie weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass diese Aussage insofern keinen Gegensatz zur Position des IS bilde, als die IS-Kämpfer Yeziden in der Tat vor der Verübung von Massenmorden zunächst aufgefordert hatten, zu konvertieren (Altan u.a., a.a.O., S. 20, Substantive Note [d]). Auch der Bruder des geistlichen Oberhaupts der Yeziden, Ido Baba Sheikh, hob in einem aktuellen Interview gegenüber der Tiroler Tageszeitung im April 2018 hervor, die Yeziden im Irak würden in der gegenwärtigen Situation weiterhin den Hass der Sunniten fürchten: „Das Problem ist die Ideologie des IS in den Köpfen.“ (Tiroler Tageszeitung, Artikel vom 25. April 2018, „Das Vermächtnis des IS in den Köpfen“, S. 2 der Druckversion).

Eine ideologische Basis für den Wiederaufstieg des IS oder die Machtergreifung durch vergleichbar ausgerichtete sunnitische Terrororganisationen bildet dabei gegenwärtig insbesondere das Vorgehen der irakischen Sicherheitskräfte gegen die einheimische sunnitische Bevölkerung nach Rückeroberung der vom IS besetzten Gebiete. So warnt Auswärtige Amt in seinem aktuellen Lagebericht zum Irak davor, dass das Gefühl einer politischen und gesellschaftlichen Marginalisierung vieler Sunniten wieder zum Erstarken extremistischer Gruppierungen führen könne (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2017), 12. Februar 2018, S. 15). Mit dieser Risikoeinschätzung korrespondierend gaben beispielsweise 94 Prozent (n = 64) bzw. 89 Prozent (n = 62) der Interviewpartner der vorgenannten Feldstudie der Militärakademie West Point an, dass sich der Iran bzw. die USA gegen den Irak verschworen hätten, insbesondere gegen die irakischen Sunniten, mit dem Ziel, sie zu entzweien, zu demütigen, zu unterwerfen und ihre Religion zu eliminieren (Atran u.a., a.a.O., S. 7 der Druckversion). Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führt zudem in seinem Länderbericht betreffend den Irak aus (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 108 f.):

„In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, kommt es zu Massenvergeltungsmaßnahmen an sunnitisch-arabischen und turkmenischen Einwohnern und Rückkehrern aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermuteten Verbindung zum IS (AA 7.2.2017; vgl. UNHCR 14.11.2016). Daran beteiligt sind mit den PMF verbündete Streitkräfte, Stammesgruppen und kurdische Sicherheitskräfte (UNHCR 14.11.2016). Es kommt zu Repressionen durch schiitische und sunnitische Milizen, durch die kurdischen Peschmerga, sowie in geringerem Maße durch Milizen der verschiedenen konfessionellen Minderheiten (AA 7.2.2017). Auch im Zuge der Mossul-Offensive verhafteten und misshandelten Stammesmilizen Einwohner der Gebiete, die vom IS zurückerobert worden waren, und es kam zu Racheakten der schiitischen Milizen (HRW 12.1.2017; Harrer 10.8.2017; vgl. BAMF 26.6.2017). Die irakischen Sicherheitskräfte misshandelten und töteten Berichten zufolge Männer und Knaben, die aus Mossul flüchteten (HRW 30.6.2017). Allgemein kam es von Seiten Angehöriger der ISF und verbündeter Gruppen zu Vergehen an der flüchtenden Zivilbevölkerung, an Binnenvertriebenen und Rückkehrern. In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, ist auch von Plünderungen und der willkürlichen Inbrandsetzung und Zerstörung von Wohnhäusern, Geschäften und Moscheen berichtet worden (UNHCR 14.11.2016).

Die große Zahl der Binnenvertriebenen im Irak und die weitverbreitete Pauschal-Auffassung, dass sunnitische Araber IS-Mitglieder sind oder mit dem IS sympathisieren, hat Berichten zufolge dazu geführt, dass immer mehr sunnitische Araber und sunnitische Turkmenen, die nicht vertrieben wurden und in Bagdad und anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten leben, nach dem Anti-Terror-Gesetz von 2005 verhaftet werden (UNHCR 14.11.2016). Teilweise unterzogen die Regierungskräfte alle männlichen Personen im kampffähigen Alter (etwa zwischen 15 und 65 Jahren), die aus Gebieten unter IS-Kontrolle geflohen waren, einer Sicherheitsüberprüfung. Sie wurden in behelfsmäßige Hafteinrichtungen oder provisorische Auffanglager gebracht, in denen sie Tage oder sogar Monate ausharren mussten, häufig unter extrem harten Bedingungen.

Die zielgerichtete Gewalt gegen sunnitische Araber hat in Bagdad und anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten des Irak seit 2014 zugenommen. Sunnitische Araber erhalten Todesdrohungen, ihre Häuser werden zerstört und sie werden zwangsweise vertrieben, entführt/verschleppt und außergerichtlich hingerichtet. Die sunnitische Zivilbevölkerung wird nach IS-Attacken auf die schiitische Zivilbevölkerung von den ISF und verbündeten Streitkräften der PMU regelmäßig ins Visier genommen und im Rahmen offensichtlicher Vergeltungsmaßnahmen wurden sunnitische Zivilpersonen getötet und ihre Häuser, Geschäfte und Moscheen zerstört. Lager für Binnenvertriebene sind Anschlägen zum Ziel gefallen (UNHCR 14.11.2016).“

In der internationalen Presse wird am Beispiel der Rückeroberung Mosuls ebenfalls über drastische Vergeltungsmaßnahmen der vornehmlich schiitisch dominierten PMF-Milizen gegen Sunniten berichtet, die als (vermeintliche) Anhänger des IS identifiziert wurden (vgl. etwa Independent, Artikel vom 13.07.2017, „Mosul's Sunni residents face mass persecution as Isis 'collaborators'“; The Guardian vom 21.11.2017, „After the liberation of Mosul, an orgy of killing“; s. hierzu auch VG Hannover, Urteil vom 07.06.2018 – 6 A 7652/16 -, juris Rn. 32 ff.).

Zur Gefahr eines Wiedererstarkens des IS erklärt das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA, a.a.O., S. 37, S. 58) überdies:

„Mit zunehmenden Erfolgen gegen den IS gehen auch ein verstärkter Terrorismus, neue humanitäre Herausforderungen und wiederaufflammende Spannungen einher. Eine ethnisch-religiöse Aussöhnung hat nicht stattgefunden. Die Gefahr eines weiteren Zerfalls des Staates, samt bewaffneten Auseinandersetzungen ist nach wie vor nicht gebannt (ÖB 12.2016). Insbesondere ist auch unklar, ob die vom IS zurückeroberten sunnitischen Gebiete auf eine Weise verwaltet werden, die nicht erneuten Unfrieden und eine erneute Rebellion (unter dem Banner des IS oder einer anderen Organisation) provozieren wird (OA/EASO 2.2017). Die Islamisten genießen im Irak in der Bevölkerung nach wie vor Unterstützung, da sie sich als Beschützer der sunnitischen Gemeinschaft präsentieren. Der IS ist ja ursprünglich vorrangig eine irakische Organisation mit starken lokalen Wurzeln (Stansfield 26.4.2017), und selbst das Zurückschlagen des IS in Mossul vermag es nicht, die schiitisch-sunnitischen Spannungen zu lösen, die das Ergebnis einer mangelnden politischen Übereinkunft sind (USCIRF 26.4.2017). Die Gewalt, der die Sunniten seit der US-geführten Invasion im Irak von Seiten Iran-gestützter Regierungen und Milizen ausgesetzt waren [und sind], hat in der sunnitisch-arabischen Bevölkerung ein tiefgreifendes und gefährliches Gefühl der Viktimisierung bewirkt, das Rekrutierungsbemühungen von Jihadisten in die Hände spielt (ICG 22.3.2017). Die Rolle der internationalen Koalition gegen den IS ist zwiespältig. Während diese sich selbst als unparteiischen Akteur sehen mag (abgesehen vom Kampf gegen den IS), sehen das die irakischen Akteure anders, die die Koalition alleine schon auf Grund der Wahl ihrer Verbündeten als völlig parteiisch ansehen (ICG 31.5.2017).“

„Der IS stellt trotz der massiven Rückschläge, die er erlitten hat, im Irak weiterhin eine ernstzunehmende Gefahr dar, und seine Transformation zu einer Organisation, die ihre Ressourcen zunehmend für Aufstände, Guerilla-Angriffe und terroristische Anschläge benutzt, hat bereits begonnen (Daily Star 10.7.2017). Im Zusammenhang mit der Zurückdrängung des Kontrollgebietes des IS sieht das Institute for the Study of War (ISW) bereits jetzt ein (Wieder)-Erwachen von anderen aufständischen sunnitischen Gruppen, die durch die Schwächung des IS und den dadurch entstehenden Freiraum wieder Fuß fassen können. Regierungsfeindliche Gruppen formieren sich einerseits, weil die Sunniten im konfessionell geprägten Konflikt von der schiitisch dominierten Regierung weiterhin zunehmend marginalisiert werden, und sie Angst vor den an Bedeutung gewinnenden, vom Iran aus gelenkten schiitischen Milizen haben. Andererseits werden diese Probleme von Seiten radikaler Gruppen wie Al Qaeda und ex-/neo-baathistischen Gruppen wie Jaysh al-Rijal al-Tariqa al-Naqshbandiya (JRTN) benutzt, um sunnitische Bürger für ihre Zwecke zu vereinnahmen. Diese Gruppen sind - Annahmen des Institutes for the Study of War zufolge - bereits jetzt zunehmend für Anschläge im Irak verantwortlich (ISW 7.2.2017). Terroristische Organisationen sind im gesamten Irak weiterhin imstande tödliche Anschläge durchzuführen.“

Bei Beurteilung der Frage, ob die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie wiederlegt wird, sind zudem die Auswirkungen des gescheiterten kurdischen Unabhängigkeitsreferendums auf die Sicherheitslage in der Provinz Ninawa zu beachten, da insbesondere das yezidische Siedlungsgebiet um Sindschar zu den Gebieten gehört, die zwischen der irakischen Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung umstritten sind.

Bei den sogenannten umstrittenen Gebieten, d.h. Teile der Provinzen Ninawa, Kirkuk, Salah ad Din und Diyala, handelt es sich um ursprünglich mehrheitlich von Kurden bewohnte Gebiete im Nordirak, die unter der Herrschaft der Ba’ath-Partei durch eine gezielte Umsiedlungspolitik zwangsarabisiert wurden (Artikel des NGO Coordination Committee for Iraq, Diyala Governorate Profile, Stand: Januar 2016, S. 3). Sie liegen südlich der im Jahr 1991 etablierten „Grünen Linie“, welche die von der irakischen Zentralregierung kontrollierten Gebieten von denjenigen der kurdischen Regionalregierung abgrenzte (Artikel des Washington Institute for Near East Policy vom 31. Mai 2017, „Preventing Allies from Fighting Each Other in Iraq’s Disputed Areas“, S. 1 f.). Die neue irakische Verfassung, die 2005 durch ein Referendum von ca. 80 Prozent der Wähler gutgeheißen wurde, hielt diesbezüglich in Artikel 140 fest, dass die Regierung in Bagdad vor dem 31. Dezember 2007 in den umstrittenen Gebieten ein Referendum organisieren werde, damit die betroffenen Wähler frei entscheiden könnten, ob sie der Angliederung an die Region Kurdistan zustimmten oder nicht. Dieser Verpflichtung kam die irakische Zentralregierung jedoch nicht nach (Artikel auf www.institutekurde.org vom 16. September 2017, „Die betrogene Nation“, S. 1). Um die Verteilungsdispute zwischen der arabischen und kurdischen Bevölkerung einzudämmen, fungierte die von den USA angeführte Militärkoalition in der Zeit von 2003 bis zum Truppenabzug im Jahr 2011 in den umstrittenen Gebieten inoffiziell als Friedenssicherungstruppe und etablierte den „Combined Security Mechanism“ (CSM), der unter anderem gemeinsame Sicherheitspatrouillen des zentralirakischen Militärs, der Peshmerga und der US-Truppen vorsah. Nach dem Wegfall dieses Abkommens mit dem Abzug der US-Truppen entstand aufgrund des gegenseitigen Misstrauens der beiden Militärkräfte demgegenüber ein erhebliches Sicherheitsvakuum in den umstrittenen Gebieten, das in den Folgejahren umgehend von der sunnitischen Terrororganisation Al-Qaida im Irak und der Nachfolgeorganisation IS gefüllt wurde (Artikel des Washington Institute for Near East Policy vom 31. Mai 2017, S. 1 f.). Nachdem der IS im Sommer 2014 große Teile des Nord- und Westirak weitgehend kampflos eingenommen hatte, wobei seine Truppen schließlich bis an die Grenze der kurdischen Autonomieregion gelangten, gingen die kurdischen Streitkräfte (Peshmerga) zur Gegenoffensive über, eroberten weite Teile der umstrittenen Gebiete zurück und stellten sie unter kurdische (Militär-)Verwaltung. Dieses betraf auch Sindschar, während andere Teile der umstrittenen Gebiete von PMF-Milizen besetzt wurden (Infographic: Control Over Iraq’s Disputed Territories, 26. Oktober 2017, S. 2 der Druckversion; Artikel der Deutschen Welle vom 3. August 2018, „Iraq's Yazidis mourn the loss of their homeland“, S. 4 der Druckversion). Am 25. September 2017 hielt der Präsident der kurdischen Regionalregierung trotz des Verbotes durch das Oberste Gericht des Irak ein zahlenmäßig erfolgreiches Unabhängigkeitsreferendum auf dem Gebiet der kurdischen Autonomieregion sowie den kontrollierten Gebieten der umstrittenen Gebiete ab. In Reaktion hierauf nahmen (zentral-)irakische Truppen unter Beteiligung von PMF-Milizen Ende Oktober 2017 die umstrittenen Gebiete gewaltsam ein, mit der Folge, dass sich insbesondere die yezidischen Kurden im Sinjar abermals nicht auf eine kurdische Schutzmacht berufen können (Artikel der Deutschen Welle vom 3. August 2018, a.a.O., S. 4; Artikel der BBC vom 18. Oktober 2017, „Iraq takes disputed areas as Kurds ‘withdraw to 2014 lines‘, S. 2 der Druckversion; Artikel des New Yorker vom 16. Oktober 2017, „Kurdish dreams of independence delayed again“, S. 2; Artikel der Arab News vom 24. Oktober 2017, „Kurdistan Regional Government issues arrest warrants for Iraqi lawmakers, commanders, S. 1 f.). Dass mit dem Rückzug der Peshmerga aus den umstrittenen Gebieten das Risiko einer Verschlechterung der Sicherheitslage einhergeht, verdeutlicht zudem das Beispiel der nordirakischen Stadt Kirkuk, die nach dem Abzug der kurdischen Truppen wieder vermehrt von Angriffen durch IS-Anhänger betroffen ist, wobei sich der IS in den umliegenden Dörfern bereits wieder zur Schutzmacht aufschwingt, die den Dorfbewohnern Sicherheit gegen Gehorsam und Schutzgeld verspricht (Spiegel Online, Artikel vom 25. April 2018, „Die Rückkehr des IS“, S. 2 der Druckversion).

Ferner wird die Vermutungswirkung nach Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie auch nicht durch die Möglichkeit der Inanspruchnahme internen Schutzes (vgl. § 3e, § 3d AsylG) widerlegt.

Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten und damit auch der Yeziden weiterhin nicht hinreichend sicherstellen (§ 3d Abs. 1, Abs. 2 AsylG), wie auch das Auswärtige Amt wiederholt bestätigt hat. Nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes und des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl sind die irakischen Sicherheitskräfte (weiterhin) nicht in der Lage, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Die Anwendung bestehender Gesetze sei nicht gesichert, zumal es ohnehin kein Polizeigesetz gebe. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen seien hierfür die Hauptursachen (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2017), 12. Februar 2018, S. 8; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 70). Weite Gebiete des Landes befänden sich außerhalb der effektiven Kontrolle der Regierung und die Schutzfunktion des Staates sei als vermindert anzusehen. Die Menschenrechtslage sei vor allem in Hinblick auf die mangelhafte staatliche Kontrolle und wegen des wenig ausgeprägten Gewaltmonopols samt verbreiteter Straflosigkeit desolat, in der kurdischen Autonomieregion vergleichsweise etwas besser (BFA, a.a.O., S. 70 m.w.N.).

Der Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes steht auch nicht die Bestimmung des § 3e Abs. 1 AsylG entgegen. Hiernach wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2). Diese Voraussetzungen sind in Ansehung des Klägers nicht erfüllt. Insbesondere die Flüchtlingslager im Nordirak stellen keine solche interne Schutzmöglichkeit dar.

Die Kammer hat in ständiger Rechtsprechung (vgl. VG Hannover, Urteil vom 26.10.2017 - 6 A 7844/17 und 6 A 9126/17) angenommen, dass yezidische Religionsangehörige aus der Provinz Ninawa in aller Regel keinen hinreichenden Schutz vor Verfolgung in anderen Landesteilen des Irak finden können. Nichts anderes gilt dann, wenn man zugunsten des Klägers die Möglichkeit unterstellt, (abermals) in das kurdische Autonomiegebiet reisen zu können, etwa im Hinblick auf Anhaltspunkte dafür, dass Yeziden unter erleichterten Bedingungen in die kurdische Autonomieregion gelangen können, ggf. auch ohne bereits Aufenthaltspapiere zu besitzen und ohne einen Bürgen (bzw. Paten oder Sponsor) nachweisen zu müssen (vgl. UK Home Office, Return and Internal relocation, S. 7, 46, 52-54; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.03.2017 – 15a K 5929/16.A -, juris Rn. 109). Die Zumutbarkeit einer internen Schutzmöglichkeit nach § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG hängt nämlich auch davon ab, ob an dem Ort, an dem der Ausländer vor einem ernsthaften Schaden sicher ist, auch das wirtschaftliche Existenzminimum des Ausländers gewährleistet ist und er dort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet. Im Falle fehlender Existenzgrundlage ist eine interne Schutzmöglichkeit nicht gegeben, selbst dann, wenn im Herkunftsgebiet die Lebensverhältnisse gleichermaßen schlecht sind. Das Vorhandensein einer Existenzgrundlage ist dabei in der Regel anzunehmen, wenn der Ausländer durch eigene Arbeit oder Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen kann. Das ist nicht der Fall, wenn der Ausländer am Ort der inländischen Fluchtalternative bei der gebotenen grundsätzlich generalisierenden Betrachtungsweise auf Dauer ein Leben zu erwarten hat, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tode führt, oder wenn er dort nichts Anderes zu erwarten hat als ein Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums (VG Saarlouis, Urteil vom 14.12.2017 - 6 K 1053/16 -, juris Rn. 30 f.; BVerwG, Beschluss vom 31.07.2002 - 1 B 128.02 -, InfAuslR 2002, S. 455; Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11.07, DVBl. 2008, S. 1251).

In Anwendung dieser rechtlichen Vorgaben kann von dem Kläger unter Berücksichtigung der gegenwärtigen humanitären Bedingungen in der autonomen Region Kurdistan-Irak vernünftigerweise nicht erwartet werden, sich in dieser Region niederzulassen. In Anbetracht der Vielzahl der in den kurdischen Autonomiegebieten bzw. der Region Kurdistan-Irak (RKI) befindlichen Flüchtlinge und Binnenvertriebenen, welche die Bundesregierung gegenwärtig auf 750.000 Personen schätzt (Bericht der Bundesregierung zur Lage in Irak und zum deutschen Irak-Engagement, 4. September 2018, BT-Drucks. 19/4070, S. 8, Fn. 7), der tiefgreifenden humanitären Krise und der lediglich beschränkten wirtschaftlichen Möglichkeiten geht das Gericht nicht davon aus, dass der Kläger in der Lage wäre, dort zeitnah eine Erwerbstätigkeit zu finden. In Bezug auf die Situation in den Flüchtlingslagern führt die Bundesregierung insbesondere aus (a.a.O., S. 8):

„Die Menschenrechtslage in Irak ist insgesamt besorgniserregend. Menschliche Sicherheit ist für viele Irakerinnen und Iraker nicht gewährleistet. Besonders prekär ist die Situation von nach wie vor über zwei Millionen Binnenvertriebene (internally displaced persons, IDPs), die vor IS flüchten mussten. Sie sind nicht in ihre Heimatorte zurückgekehrt, weil die Sicherheitslage, das Ausmaß der Zerstörung, daneben auch gesellschaftliche Spannungen, eine Rückkehr zu risikoreich erscheinen lassen. Die meisten von ihnen leben derzeit in der RKI und den Provinzen Ninawa, Salah al-Din und Kirkuk. Sie leben zum Teil in kritischen Wohnsituationen und Flüchtlingslagern. In IDP-Lagern mangelt es an Grundversorgung. So fehlen Nahrungsmittel, Wasser und Medikamente. Es drohen Gewalt durch paramilitärische Milizen, die Verschleppung und Trennung von Familienangehörigen, sexuelle Übergriffe sowie Ausbeutung und Diskriminierung weiblicher Haushaltsvorstände. Besonders betroffen sind Familienverbände, denen eine Nähe einzelner Familienmitglieder zu IS unterstellt wird. Dennoch nimmt die Zahl der Binnenvertriebenen, die in ihre angestammte Heimat zurückkehren, in den vergangenen Monaten ab.“

Eine interne Fluchtalternative ergibt sich auch nicht daraus, dass der Kläger im Januar 2017 – nach vorheriger Informierung der Ausländerbehörde – kurzfristig nach Dohuk zurückkehrte. Dieses gilt bereits in Ansehung des Umstandes, dass ein kurzfristiger Aufenthalt keinen Rückschluss auf eine mittel- bis langfristig bestehende Existenzgrundlage zulässt. Im Übrigen hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vorgetragen und auch durch Vorlage entsprechender fachärztlicher Atteste belegt, dass er lediglich deshalb zurückgekehrt sei, weil damals die ernsthafte Gefahr bestanden habe, dass seine 23jährige Tochter sich das Leben nehmen würde. Diese habe bis dahin alleine in dem Flüchtlingscamp in Sharia ausgehalten, weil sie als Volljährige nicht vom Familiennachzug erfasst worden sei, wobei sich ihre Situation zuletzt massiv verschlechtert habe. Vor diesem Hintergrund habe er sie als männlicher Verwandter dringend unterstützen und zu einem Nervenarzt bringen müssen, zumal es ihr als alleinstehender Frau aufgrund des vorherrschenden gesellschaftlichen Klimas nicht möglich gewesen sei, sich ungehindert auf dem Gebiet der kurdischen Autonomieregion zu bewegen. Mittlerweile halte sich auch diese Tochter in Deutschland auf.

Es ist schließlich weder ersichtlich noch vorgetragen worden, dass im vorliegenden Fall besondere Umstände vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, der Kläger könnte hinreichenden Schutz vor Verfolgung außerhalb der Region Kurdistan finden, d.h. in anderen Landesteilen des Irak.

Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2 und 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG bestehen nicht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.