Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 01.08.2019, Az.: 6 A 3218/17

Abu Bakr; Aisha; Checkpoint; Irak; Machhadan; Mashadan; Mashhadani; Muschahada; Omar; Othman; PMF-Miliz; Religiöse Verfolgung; Stamm; Sunnit; sunnitischer Araber; sunnitischer Name; Tarmiyah

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
01.08.2019
Aktenzeichen
6 A 3218/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 69783
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Angehörigen des sunnitischen Stammes al-Mashhadani (alternative Schreibweisen: Maschhadan(i), Muschahada, Mashadan) droht im Raum Bagdad, insbesondere in der nordöstlich von Bagdad gelegenen IS-Hochburg Tarmiyah, eine gegenüber der übrigen sunnitisch-arabischen Bevölkerung gesteigerte Gefahr, Opfer gewaltsamer Übergriffe durch die irakische Armee oder schiitische PMF-Milizen zu werden.
2. Sunnitischen Arabern mit sunnitisch konnotierten Namen (z.B. Abu Bakr, Othman, Omar, Aisha) droht eine gesteigerte Gefahr, an Checkpoints der irakischen Armee oder schiitischer PMF-Milizen Opfer gewaltsamer Übergriffe zu werden.
3.Die Regelung des § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG soll dem Umstand Rechnung tragen, dass eine Vielzahl von Diskriminierungshandlungen, die sich gegen eine Person richten (z.B. erhebliche Erschwerung des Zugangs zu Bildung, Arbeit und Wohnraum) und für sich gesehen nicht notwendigerweise eine Menschenrechtsverletzung darstellen, in ihrer Kumulation ein derartiges Ausmaß erreichen, dass sie für den Betroffenen eine unerträgliche Lage herbeiführen, bei der sich die Flucht als einziger Ausweg darstellt.



Tenor:

Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt haben.

Im Übrigen wird die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 6. April 2017 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Der im Jahr 1999 geborene Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Glaubenszugehörigkeit, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Er reiste eigenen Angaben zufolge Ende September 2015 aus dem Irak aus und im Oktober 2015 auf dem Landweg über Österreich kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellte er in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.

Zu seinen persönlichen Verhältnissen erklärte er, seine Mutter sei im Jahr 2007 verschollen; sein Vater habe im Jahr 2010 erneut geheiratet. Im Irak hielten sich noch sein Vater und seine Stiefmutter auf, ferner seine drei Brüder sowie ein Halbbruder. Seine Familie gehöre zum bekannten sunnitischen Stamm der al-Mashhadani. Zu den Gründen seiner Ausreise erklärte der Kläger, er sei ebenso wie die weiteren Mitglieder seiner Familie seit dem Jahr 2007 insbesondere wegen seiner sunnitischen Konfession immer wieder mit dem Tode bedroht und in seinem Lebensalltag massiv eingeschränkt worden. Hierzu gab er in seiner Anhörung beim Bundesamt u.a. folgendes zu Protokoll:

Zunächst habe die Familie in Bagdad im schiitischen Stadtteil Al Hurriyah gelebt, wo sein Vater einen Laden für Schulbedarf besessen habe. In ihrer Straße seien sie die einzige sunnitische Familie gewesen. Im Jahr 2007 habe seine Familie einen Drohbrief von der Miliz Mahdi-Armee erhalten, dass sie ihre Wohnung verlassen müssten, andernfalls würde die Miliz diese in Brand setzen. Sie hätten dann einen Transporter gemietet und seien übergangsweise zu einem Freund seines Vaters gezogen, bis sie eine neue Wohnung in Tarmiyah (alternative Schreibweise: Tarmiya) gefunden hätten, einer überwiegend sunnitischen Stadt nördlich von Bagdad. Ein Nachbarssohn aus dem alten Stadtteil habe den Umstand ausgenutzt, dass die Familie wegen eines nahgelegenen Wachgebäudes der Mahdi-Armee nicht gefahrenlos zu ihrer alten Wohnung habe zurückkehren können, und habe den Schulbedarfsladen des Vaters des Klägers ohne Zahlung eines Kaufpreises in Besitz genommen. Die Mahdi-Armee habe nach dem Wegzug seiner Familie, der Familie seines Onkels und seines Großvaters ihre jeweiligen Häuser in Al Hurriyah in Brand gesteckt. Später habe die Miliz zwei Onkel und fünf Cousins seines Vaters getötet; ein Onkel sei mit Benzin verbrannt worden. Hierzu legte der Kläger dem Bundesamt Kopien der Sterbeurkunden eines Cousins und zweier Onkel vor. Nachdem das Bundesamt dem Kläger die Möglichkeit eingeräumt hatte, Anmerkungen und Ergänzungen zur Niederschrift zur Anhörung noch nachträglich einzureichen, erklärte der Kläger mit Schreiben vom 7. Februar 2017 über seine damaligen Vormünder, einer der ermordeten Onkel, d.h. der ältere Bruder seines Vaters, sei unter Saddam Hussein Offizier gewesen. Der jüngere getötete Bruder sei ebenso wie der Vater des Klägers und sämtliche ermordeten Cousins Angehöriger des Militärs unter Saddam Hussein gewesen. Nach Angabe seines Vaters werde die gesamte Familie verfolgt, weil sie Sunniten seien und weil der ältere Bruder Offizier gewesen sei.

In Tarmiyah, so der Kläger im weiteren Verlauf seiner Anhörung, sei seine Mutter im Jahr 2007 nach einem Streit mit seinem Vater aus dem Haus gegangen und nie wiedergekommen. Ob sie von Unbekannten ermordet worden oder weggelaufen sei, wisse er bis heute nicht. Eine gerichtliche Untersuchung sei ergebnislos geblieben. Im Jahr 2011 habe die Familie abermals Drohbriefe von Unbekannten erhalten, wobei sein Vater nicht gewusst habe, ob hierfür die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) oder die Mahdi-Armee verantwortlich gewesen sei. Sie seien dann in das Zentrum von Tarmiyah in das Viertel Al Shuhada gezogen. Im neuen Viertel seien ein- bis zweimal im Monat maskierte Milizionäre der Mahdi-Armee oder Badr-Organisation in Zivilkleidung und mit Zivilfahrzeugen aufgetaucht und hätten Menschen gegen deren Willen mitgenommen. Die Betroffenen seien dann, wie er gehört habe, in Syrien oder Mosul an vorderster Front ohne sachgerechte militärische Ausbildung bei Kämpfen eingesetzt worden. Er, der Kläger, und sein Vater seien jedes Mal in ein anderes Gebiet geflohen, wenn die Milizionäre gekommen seien. Oftmals hätten sich auch Freunde aus anderen Vierteln bei ihnen versteckt, wenn Milizionäre in deren Vierteln gewesen seien.

Ferner ergänzt der Kläger, etwa im Jahr 2013 oder 2014 hätten er, sein Vater und seine Brüder gebrauchte, elektrisch betriebene Roller mit Pedalen gekauft. Hiermit seien sie zu einem Ausflug aufgebrochen, um einen Freund seines Vaters zu besuchen, der innerhalb von Tarmiyah in einer Art Waldgebiet gelebt habe. Auf dem Hinweg hätten Soldaten sie angehalten und die Roller mit den Bajonetten zerstört, welche sich an der Vorderseite ihrer Kalashnikow-Schnellfeuergewehre befunden hätten. Außerdem hätten die Soldaten ihren Vater für etwa drei Stunden mitgenommen. Seine Brüder und er hätten geweint, weil sie zum ersten Mal gesehen hätten, wie ihr Vater vom Militär mitgenommen worden sei. Nach etwa drei Stunden sei ein Soldat gekommen, den er, der Kläger, aufgrund der Sterne an seinem Rangabzeichen als Offizier identifiziert habe, und habe sie gefragt, wohin sie hätten fahren wollen. Sie hätten ihm von ihren Besuchsplänen erzählt und ihm gesagt, dass sie nicht gewusst hätten, dass in der Gegend Soldaten seien. Die Soldaten hätten ihren Vater schlussendlich freigelassen und ihnen gesagt, dass sie nachhause gehen sollten. Sie seien dann mit einem Taxi zurückgefahren. Nach drei Tagen hätten sie, d.h. der Kläger und seine Angehörigen, ein Fahrzeug mit kleiner Ladefläche gemietet und die Roller abgeholt.

Der Kläger führte weiter aus, in ihrem Viertel Al Shuhada sei die Tankstelle geschlossen gewesen. Deshalb hätten sein Vater und er im nördlich von Bagdad gelegenen Al Moshada Benzin gekauft und im eigenen Viertel weiterverkauft. Sowohl beim Verlassen als auch beim Betreten von Tarmiyah bzw. Al Shuhada hätte er an Kontrollstellen von Milizen seinen Ausweis vorzeigen müssen. Jedes Mal, wenn die Milizionäre gesehen hätten, dass sein Name sei, hätten sie ihn aussteigen lassen, zur Seite genommen und gesondert vom Fahrer des Fahrzeugs befragt. Einmal habe er gegenüber Milizionären seinen Personalausweis vorzeigen müssen, wobei er vermute, ohne dies aber mit Sicherheit sagen zu können, dass es sich bei der Gruppe um einen „Ableger der Rechten“ gehandelt habe, d.h. der Miliz „Liga der rechtschaffenen Leute“ (Asa’ib Ahl al-Haqq). Er habe sich geweigert, die Frage des Milizionärs zu beantworten, aus welchem Stamm er komme. Der Milizionär habe ihn nicht gehen lassen und ihn immer wieder gefragt, aber er habe die Frage nicht beantwortet. Hätte der Mann gewusst, dass er aus dem Stamm al-Mashhadani stamme, so der Kläger, hätte er ihn bestimmt getötet. Er habe schlussendlich mit seinem Handy seinen Vater angerufen, welcher direkt am Telefon mit dem Milizionär gesprochen habe. Sie hätten dann vereinbart, dass der Milizionär die Hälfte des transportierten Benzins erhalte, d.h. 500 Liter, und ihn im Gegenzug gehen lasse. Die Männer am Kontrollpunkt hätten ihm gesagt, dass er nach Hause gehen könne und nicht wiederkommen solle.

Der Kläger ergänzte in diesem Zusammenhang, in seinem Gebiet seien viele Sunniten getötet worden, weil sie bestimmte sunnitische Namen aus früheren Zeiten trügen. Es handele sich hierbei um Namen der Sahāba, d.h. der Gefährten und Wegbegleiter des Propheten Mohammeds. So würden sich die Studenten aus Tarmiyah regelmäßig mit ca. 15 Personen ein Fahrzeug mieten, um über eine von Kontrollstellen der Armee und diverser Milizen umzingelte Straße nach Bagdad zur Uni zu gelangen. Ein sunnitischer Student mit dem Namen Omar, der Sohn eines Freundes seines Vaters, habe im November 2014 an einem Kontrollposten aussteigen müssen, als die Kontrolleure seinen Namen gesehen hätten. Omar sei am Kontrollposten zurückgeblieben, und das Fahrzeug sei ohne ihn weitergefahren. Später sei dann Omars Familie benachrichtigt worden, dass man seine Leiche gefunden habe. Jemand habe ihn durch Schüsse in den Kopf getötet. Einen anderen Bekannten, der ebenfalls den Namen Omar trage, habe er, der Kläger, zu einem anderen Zeitpunkt ebenfalls wiedererkannt, als Militärangehörige diesen von einem Zivilfahrzeug in einen Krankenwagen verladen hätten. Ob dieser Omar lediglich verletzt oder bereits tot gewesen sei, wisse er jedoch nicht.

Nach seinem eigenen Erlebnis an dem Kontrollposten, so der Kläger im Weiteren, habe er einen anderen Weg finden müssen, um das Benzin zu transportieren. Sie hätten dann einen Weg gefunden, der durch die Landschaft bei Tarmiyah führte. Dies sei der einzige verbliebene Weg gewesen, um ihrer Arbeit nachzugehen. Auf diesem Weg habe er einmal auf dem Rückweg eine schwarz bekleidete, maskierte und bewaffnete Person gesehen, die am Wegesrand an der mit hohem Schilf bewachsenen Böschung eines Flusses gewartet habe. Er habe dem Fahrer zugerufen, dass er schneller fahren solle. Dieser habe das Fahrzeug beschleunigt und sie seien zuhause angekommen. Danach habe er seinem Vater gesagt, dass er die Strecke nicht mehr fahren und auch kein Benzin mehr verkaufen könne. Es sei viel zu gefährlich, lieber würde er verhungern.

Sie hätten dann begonnen, in Al Tadschi produzierte Gasflaschen in Tarmiyah zu verkaufen. Die Produzenten hätten direkt auf Bestellung nach Tarmiyah geliefert. Sofern jedoch die Straße zwischen beiden Stadtteilen gesperrt gewesen sei, seien sie, d.h. der Kläger und sein Vater, arbeitslos gewesen. Zudem habe sich die Lage in ihrem Viertel als sehr gefährlich erwiesen, weil Milizionäre regelmäßig nach jungen Leuten gesucht hätten. Die Gasflaschen hätten er und sein Vater an der Ecke ihres Wohnhauses auf die Straße gestellt und von dort verkauft. In der Straße nebenan habe sich ein Supermarkt befunden, dessen Inhaber, ebenfalls ein Angehöriger des Stammes al-Mashhadani, ihnen persönlich bekannt gewesen sei. Eines Tages sei der Inhaber des Supermarktes gerade im Inbegriff gewesen, seinen Laden zu öffnen, als Milizionäre mit Militärfahrzeugen vom Typ Humvee vorgefahren seien. Durch ein geöffnetes Fenster des Fahrzeugs habe ein Scharfschütze den Supermarktinhaber erschossen.

Des Weiteren ergänzte der Kläger, sein Vater, seine Brüder und er hätten im Jahr 2014 oder 2015 seine Tante väterlicherseits besuchen wollen, die in Bagdad im sunnitisch-schiitisch gemischten Stadtteil Gazaliya lebte. Um dorthin zu gelangen, hätten sie den Weg benutzen müssen, auf dem der erwähnte Bekannte mit dem Namen Omar an einem der Kontrollposten getötet worden sei. Auch ihr Fahrzeug sei angehalten worden, und sie hätten ihre Personalausweise abgeben müssen. Als der Kontrolleur gesehen habe, dass er, der Kläger, den Namen trage, habe er ihn zum Aussteigen aufgefordert. Sein Vater und seine Brüder seien im Auto geblieben. Der Kontrolleur, nach Einschätzung des Klägers ein Angehöriger des Militärs, habe ihn ausgefragt, wo er herkomme, welchem Stamm er angehöre usw. Dann habe er ihm gesagt, dass er entweder seinen Vornamen ändern müsse oder den Weg nicht mehr benutzen dürfe. Er, der Kontrolleur, würde ihn auf dem Rückweg töten, wenn er bis dahin seinen Namen nicht geändert habe. Auf dem Rückweg hätten sie deshalb einen anderen Weg genommen.

Ferner führte der Kläger aus, die Sicherheitslage in Tarmiyah bzw. in seinem Viertel sei immer schlechter geworden, weshalb sich die Angst der Familie stetig gesteigert habe. Im Jahr 2015 sei er eines Tages gegen 07.00 Uhr morgens durch eine massive Explosion geweckt worden. Ein Geschäft, welches sich in der Nähe ihrer Wohnung befunden habe, sei durch eine Autobombe zerstört worden. Die Explosion habe auch viele andere Häuser und Wohnungen vernichtet, welche sich in der Nähe befunden hätten. Die Eingangstür ihrer eigenen Wohnung sei ebenfalls zerstört worden. In einem derartigen Fall, so der Kläger, würden die Militärangehörigen sämtliche Anwohner des umliegenden Gebiets mitnehmen, um sie zu befragen; so auch an diesem Tag. Um nicht mitgenommen zu werden, seien er, sein Vater und seine Brüder in ein anderes Viertel zu einem Freund des Vaters geflohen. Außerdem hätten schiitische Milizen regelmäßig die schlechte finanzielle Situation junger Leute ausgenutzt und diese für die Volksmobilisierungseinheiten rekrutiert. Einer seiner Bekannten seien deshalb bei Kämpfen der Milizen ums Leben gekommen; ein anderer sei in Tarmiyah bei einer Explosion gestorben.

Außerdem ergänzte der Kläger, ihr Viertel habe auf einer Seite des Flusses Tigris gelegen; auf der gegenüber liegenden Seite habe die schiitische Stad Hosseinia gelegen. Er und andere Kinder seien regelmäßig im Sommer in diesem Fluss geschwommen, aber von schiitischen Zivilisten von der anderen Seite des Ufers beschossen worden. Ein- bis zweimal im Monat seien Angehörige des Militärs oder Milizionäre gekommen, in seltenen Fällen auch Polizisten, und hätten sie auf den Besitz von Waffen durchsucht. An einem besonders heißen Sommertag sei er gemeinsam mit einem seiner Brüder und einem Nachbarsjungen bis zur anderen Seite des Flusses geschwommen. Vom anderen Ufer habe eine Person ins Wasser geschossen. Danach habe der Betreffende sie angeschrien und gedroht, dass er sie töten werde, wenn sie nochmal herkommen würden. Sie seien dann zurückgeschwommen und nachhause gegangen, weil sie Angst bekommen hätten. Danach seien sie dort nicht mehr schwimmen gegangen.

Anfang des Jahres 2015, er meine, im Februar oder März, habe seine Familie dann abermals einen Drohbrief der Mahdi-Armee erhalten. In dem Brief habe gestanden, dass die Familie ihre Wohnung verlassen müsse und andernfalls getötet werde. Sie seien alle deshalb sehr traurig gewesen, weil sie sich in einer ausweglosen Situation befunden hätten. Sie hätten ja keine andere Wohnung besessen und seien auch finanziell nicht in der Lage gewesen, in eine andere Wohnung umzuziehen. Außerdem hätten sie in anderen Gebieten keine Personen gekannt, die sie hätten unterstützen können. Überdies sei die Familie ja bereits in verschiedenen anderen Vierteln ebenfalls bedroht worden. Sein Vater habe dann gesagt, dass sie nicht dauernd die Wohnung wechseln könnten, und in ihrer jetzigen Wohnung bleiben würden, bis sie stürben. Er habe wegen des Drohbriefes auch Anzeige bei der Polizei erstattet. Die Polizisten seien dann zur selben Zeit zu ihnen nachhause gekommen, als Milizen das Gebiet durchsuchten. Passiert sei jedoch nichts.

All das, was seiner Familie in den verschiedenen Stadtteilen widerfahren sei, insbesondere die Vielzahl der Drohungen, hätte dazu geführt, dass seine Familie entschieden habe, den Irak zu verlassen. Da er, der Kläger, der älteste Sohn sei, hätten sie beschlossen, dass er ausreise und versuche, die anderen später nachzuholen. Sein Vater habe zurückbleiben müssen, um die Familie zu ernähren und auf die anderen Geschwister aufzupassen. Seine Brüder seien in der Folgezeit nicht mehr zur Schule gegangen, sondern hätten gearbeitet, um seine Ausreise zu finanzieren. Ende September 2015 sei er dann von Bagdad nach Erbil geflogen und anschließend in die Türkei ausgereist. Da er zum damaligen Zeitpunkt erst 15 Jahre alt gewesen sei, habe sein Vater als Erziehungsberechtigter am Flughafen sein Einverständnis erteilen müssen.

Darüber hinaus erklärte der Kläger, nachdem er im Oktober 2015 in Deutschland angekommen sei, seien eines Nachts gegen Mitternacht Männer zum Haus seiner Familie im Irak gekommen, hätten seinen Vater mitgenommen und massiv misshandelt. Hierzu reichte der Kläger eine Kopie eines ärztlichen Attests zur Akte, demzufolge sein Vater folgende Verletzungen erlitten hatte: Prellungen an mehreren Körperteilen, gebrochene rechte Rippe, ausgerenkte rechte Schulter, eine Prellung sowie eine blutende Wunde an der Stirn. Sein Vater habe ihm mitgeteilt, er wisse nicht, welche Gruppe ihn mitgenommen habe. Danach sei seine Familie nochmals bedroht worden, dass sie alle getötet würden, wenn sie ihre Wohnung nicht verließen. Anschließend habe sein Vater eine neue Wohnung gesucht und die Familie sei Ende Januar oder im Februar 2016 in den sunnitisch-schiitisch gemischten Bagdader Stadtteil Gazaliyah gezogen. Dort sei ihnen bisher noch nichts passiert, allerdings würden Sunniten dort oft bedroht. Seine Brüder hätten Angst, die Wohnung zu verlassen. Außerdem arbeite sein Vater immer noch in Tarmiyah in einer Chemiefabrik, welche Pflanzendünger und Plastik herstelle, weil er nirgendwo sonst Arbeit finden würde. Er, der Kläger, hoffe, seine Familienangehörigen nach Deutschland nachholen zu können, weil sie ebenfalls sunnitische Namen trügen und in Gefahr seien.

Abschließend erklärte der Kläger, im Falle einer Rückkehr in den Irak befürchte er, getötet oder von Milizen oder vom Militär mitgenommen zu werden. Er sei wegen seines sunnitischen Namens mindestens fünfmal an Kontrollposten bedroht worden, zum Teil mit dem Tod. Jedes Mal, wenn er kontrolliert worden sei, hätten ihn andere Milizen kontrolliert, d.h. zum Beispiel die Mahdi-Armee oder die Badr-Organisation. Auf der Straße gebe es alle 300 bis 400m Kontrollposten, an denen er jedes Mal seinen Ausweis vorzeigen müsse. Manchmal würden die Milizen Personen auch einfach auf der Straße kontrollieren, d.h. sie würden mit einem Humvee vorfahren und Menschen anhalten. Selbst wenn er, der Kläger, seinen Namen ändern könnte, würde dies nicht viel bringen. Der Beiname oder Stamm al-Mashhadani wäre ja geblieben.

Bezüglich der weiteren Angaben des Klägers im Rahmen seiner Anhörung wird auf das 17seitige Anhörungsprotokoll des Bundesamts verwiesen.

Mit Bescheid vom 6. April 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) sowie auf Anerkennung als Asylberechtigter (Nr. 2) ab und erkannte ihm den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Zudem stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Nr. 4) und drohte die Abschiebung des Klägers in den Irak an (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) befristete es auf zehn Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 6).

Zur Begründung führte die zuständige Entscheiderin aus, das Vorbringen des Klägers erwecke nicht den Eindruck, dass er sich in einer ausweglosen Lage befunden habe, zumal seine Familie „ihn aus allen Familienmitgliedern auserkoren“ habe, die Ausreise anzutreten. Die Angaben des Klägers zu den erhaltenen Drohbriefen seien nicht konkret genug gewesen, um eine individuelle, konkrete Verfolgung der Familienmitglieder deutlich zu machen. Es könne davon ausgegangen werden, dass die Veränderung der Lebenssituation der Familie, d.h. ihre zu kleine Wohnung, das ausschlaggebende Ereignis für den Umzug ins Zentrum von Tarmiyah gewesen sei. Es sei auch nicht nachvollziehbar, weshalb der Vater des Klägers einerseits im Jahr 2015 gesagt haben solle, die Familie werde trotz des Erhalts eines weiteren Drohbriefs mangels Umzugsalternativen in ihrer Wohnung verbleiben, andererseits aber nach seiner Entführung und Misshandlung dennoch einen Umzug veranlasst habe. Soweit der Kläger sich darauf berufe, dass es in seiner Wohngegend Übergriffe auf andere Personen gegeben habe, spreche er von einer „ganz allgemeinen Angst“. Sofern er auf die Kontrollen bzw. Befragungen wegen seines sunnitischen Namens verwiesen habe, seien diese „weder von der Art noch von ihrem Ausmaß geeignet, ein ernstzunehmendes persönliches Verfolgungsschicksal darzulegen“. Diese Kontrollen würden alle im Irak lebenden Menschen betreffen. Außerdem sei der Familie des Klägers nach ihrem Umzug nach Bagdad/Gazaliyah nichts weiter passiert; es sei dem Kläger zuzumuten, sein Leben dort fortzuführen. Schließlich verfüge er über eine inländische Fluchtalternativ im (Rest-) Irak.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 18. April 2017 Klage erhoben.

Mit Bescheid vom 5. Mai 2017 erkannte das Bundesamt dem Kläger unter Aufhebung von Ziffern 3 bis 6 des Bescheides vom 6. April 2017 den subsidiären Schutzstatus zu. Zur Begründung führte es aus, aufgrund des ermittelten Sachverhaltes sei davon auszugehen, dass dem Kläger in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden drohe.

Mit Schriftsatz vom 11. Mai 2017 hat der Kläger den Rechtsstreit insofern für erledigt erklärt, als die Beklagte im Bescheid vom 5. Mai 2017 seinem Antrag entsprochen habe. Die Beklagte hat sich bereits mit Generalerklärung des Bundesamts vom 25. Februar und 24. März 2016 einer etwaigen Erledigungserklärung angeschlossen.

Zur Begründung der im Übrigen aufrechterhaltenen Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wiederholt und vertieft der Kläger sein bisheriges Vorbringen. Ihm drohe im Falle einer Rückkehr in den Irak u.a. religiöse Verfolgung wegen seiner sunnitischen Konfession, seinem Vornamen sowie seiner Zugehörigkeit zum Stamm der al-Mashhadani.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung der Ziffer 1 des Bescheides vom 6. April 2017 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 9. April 2019 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.

Der Kläger hat sich mit Schriftsatz vom 22. Juli 2019 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Die Beklagte hat bereits mit Generaler-klärung des Bundesamts vom 25. Februar und 24. März 2016 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet, ebenso nochmals mit Schriftsatz vom 26. April 2017.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

1.

Das Verfahren ist in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) einzustellen, soweit die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt haben.

2.

Die im Übrigen aufrechterhaltene Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter sowie im Einverständnis der Beteiligten (§ 101 Abs. 2 VwGO) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat Erfolg.

Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamtes vom 6. April 2017, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. § 3 Abs. 1 AsylG bestimmt dazu, dass ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind in der Person des Klägers erfüllt.

Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67, Rn. 19). Der danach maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29).

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs ist das Gericht im vorliegenden Fall zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak aus individuellen, an seine Person anknüpfenden Gründen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht. Die für die Verfolgung des Klägers sprechenden Umstände haben bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht als die dagegensprechenden Umstände.

Bei der Beurteilung der Frage, ob ihm (weiterhin) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren im Irak drohen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12), kommt dem Kläger die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Der Nachweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie liegt dabei der Gedanke zugrunde, dass es einem vor seiner Ausreise unmittelbar von Verfolgung bedrohten Ausländer grundsätzlich nicht zuzumuten ist, das Risiko einer Verfolgungswiederholung zu tragen (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 -, juris Rn. 26; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.03.2017 - 15a K 5929/16.A -, juris Rn. 38). Für die Anwendbarkeit des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie ist unerheblich, ob dem Ausländer vor der Ausreise eine interne Schutzmöglichkeit zur Verfügung gestanden hat. Die Beweiserleichterung greift vielmehr auch dann ein, wenn sich der Ausländer vor seiner Ausreise aus dem Heimatland nicht landesweit in einer ausweglosen Lage befunden hat (BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 24.08, juris Rn. 18; VGH Mannheim, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12, juris Rn. 27).

Unter Berücksichtigung dieses rechtlichen Maßstabs ist der Kläger vorverfolgt aus dem Irak ausgereist.

Das Gericht ist aufgrund der überzeugenden Ausführungen des Klägers in seiner Anhörung beim Bundesamt, deren Glaubhaftigkeit die Beklagte nicht substantiiert in Frage gestellt hat, zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger im Irak aufgrund seiner Religion (§ 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG) bzw. sunnitischen Konfession unmittelbar von Verfolgungsmaßnahmen bedroht war, die nach § 3 Abs. 1 AsylG geeignet sind, Flüchtlingsschutz zu begründen

Als Verfolgungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten dabei gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG soll dabei dem Umstand Rechnung tragen, dass eine Vielzahl von Diskriminierungshandlungen, die sich gegen eine Person richten (z.B. erhebliche Erschwerung des Zugangs zu Bildung, Arbeit, medizinischer Versorgung, Sozialleistungen und Wohnraum) und für sich gesehen nicht notwendigerweise eine Menschenrechtsverletzung darstellen, in ihrer Kumulation ein derartiges Ausmaß erreichen, dass sie für den Betroffenen eine unerträgliche Lage herbeiführen, bei der sich die Flucht als einziger Ausweg darstellt (Keßler, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 3a AsylVfG, Rn. 9). Anders als bei der in Nr. 1 erwähnten wiederholten Verletzungshandlung, die sich auf das jeweils gleiche Menschenrecht bezieht, wird durch Nr. 2 die Möglichkeit eröffnet, auch unterschiedliche Menschenrechte betreffende Verletzungshandlungen, welche in ihrer Intensität jeweils nicht die Nummer 1 erfüllen, integriert zu bewerten mit der Folge, dass der verfolgende Akteur nicht durch eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen die Verfolgung verschleiern kann (Kluth, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand: November 2018, § 3a AsylG, Rn. 13).

Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss des Weiteren zwischen den in § 3 Abs.1 Nr. 1, § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen) eine kausale Verknüpfung bestehen. Auf eine etwaige subjektive Motivation des Verfolgers kommt es dabei nicht entscheidend an (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Maßgebend ist vielmehr die objektive Zielrichtung, welche der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55, Rnr. 22, 24, Marx, AsylG, 2017, § 3a Rnr. 50 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678). Für eine erkennbare objektive Zielrichtung der Maßnahme genügt es, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG einen wesentlichen Faktor für die Verfolgungshandlung darstellt (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich z.B. die religiösen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger nur zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Für den Bereich des Asylrechts hat das Bundesverfassungsgericht diese Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund dahingehend konkretisiert, dass es für eine politische Verfolgung ausreiche, wenn die Täter die Verfolgungsmaßnahme gegen den Ausländer als Instrument zur Verfolgung politisch missliebiger Dritter einsetzen, etwa als Druckmittel oder zur Informationserlangung, d.h. weil sie den Ausländer der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zurechnen, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. In diesem Fall geschieht die Verfolgung zugleich wegen der Zugehörigkeit zu einer besonderen sozialen Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG), etwa der Familie des Betroffenen (BVerfG, Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96, juris Rn. 5; BVerwG, Beschluss vom 27.04.2017 - 1 B 63.17, 1 PKH 23.17, juris; Nds. OVG, Urteil vom 27.6.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 28). Diese Erwägungen gelten für die religiöse Verfolgung entsprechend.

Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, liegen im Falle des Klägers die Vorausset-zungen einer religiösen Verfolgung vor (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 AsylG).

Die Konflikte zwischen schiitischen und sunnitischen Arabern im Irak beschreibt das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Urteil vom 22. November 2017 (Az.: 25 K 3.17 A –, juris Rn. 29) wie folgt:

„Die Sunniten im Irak bilden im Unterschied zum weltweiten Verhältnis von Sunniten und Schiiten die Minderheit. Während die arabischen Schiiten 60 bis 65 % ausmachen, stellen arabische Sunniten hingegen nur 17 bis 22 % der Bevölkerung (sonstige: sunnitische Kurden 15 bis 20 % und Turkmenen, vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 7; hierzu gibt es nur begrenzte genaue Daten; die letzte vollständige irakische Volkszählung erfolgte im Jahr 1987, vgl. Home Office UK, Iraq: Sunni (Arab) Muslims, Juni 2017, S. 9). Die damit in der Minderheit im Irak lebenden arabischen Sunniten sind im irakischen Alltag auch Anfeindungen ausgesetzt. Sie haben sich im Wesentlichen in den Tälern der Flüsse Euphrat und Tigris nördlich und nordöstlich von Bagdad angesiedelt. Ganz im Unterschied zur schiitischen Mehrheit, die vorwiegend die Flussebenen südlich von Bagdad sowie große Teile der irakischen Hauptstadt selbst bewohnt. Seit der Staatsgründung (1912) kontrollierten – ungeachtet der genannten Mehrheitsverhältnisse – zunächst die sunnitischen Araber den Irak. Insbesondere während der Herrschaft der Baath-Partei bzw. Saddam Husseins war die schiitische Mehrheit regelmäßig staatlicher Verfolgung ausgesetzt (vgl. UNHCR, Auskunft an VG Köln zur Gewalt zwischen Schiiten und Sunniten, 8. Oktober 2007, S. 2 ff). Nach dem Sturz des Baath-Regimes (2003) und dem Wahlsieg eines Bündnisses verschiedener schiitischen Parteien (Ministerpräsident Al-Maliki) und der Verdrängung von sunnitischen Arabern aus öffentlichen Positionen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF zu Sunniten in gehobener Position in Bagdad, 29. November 2016, S. 2) kam es zu starken gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen Arabern und Schiiten (vgl. EZKS, Gutachten an VG Köln zur Lage der schiitischen und sunnitischen Bevölkerung, insb. in Bagdad, 12. Mai 2007, S. 2 ff m. w. N.). Nach dem Abzug der US-Truppen im Jahr 2011 blieb insbesondere die humanitäre Lage dort prekär und die Sicherheitslage trotz signifikanter Verbesserung weiter kritisch (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 26. März 2012, S. 6). Diese verschlechterte sich mit dem Vormarsch des sogenannten „Islamischen Staates“ (im Folgenden: IS) ab Mitte 2014 wieder. Neben den Gebietseroberungen kamen insbesondere terroristische Anschläge auch in Bagdad hinzu (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 16).“

Personen, die mit dem Regime Saddam Husseins in Verbindung gebracht wurden, sei es durch ihre Mitgliedschaft in der Ba’ath-Partei oder wegen ihrer (ehemaligen) Funktion bzw. ihres Berufs, sahen sich seit dem Fall des Regimes Saddam Husseins über mehrere Jahre systematischen Angriffen ausgesetzt, insbesondere nach 2005, als schiitische Parteien an die Macht kamen. Als Verantwortliche hierfür wurden vor allem schiitische Milizen mit Verbindungen zum Iran genannt, insbesondere die Badr-Organisation (ACCORD, Anfragebeantwortung vom 17. Februar 2010, Verfolgung von Kampfpiloten bzw. Militärangehörigen bzw. höheren Ba’ath-Partei-Mitgliedern und deren Angehörigen, insbesondere durch schiitische Milizen, S. 2, 5 der Druckversion m.w.N.). Gegenwärtig kommt es nicht mehr zu einer systematischen Verfolgung von Mitgliedern der Ba’ath-Partei oder des alten Regimes, was vielfach darauf zurückgeführt wird, dass viele dieser Personen bereits in den auf den Regimewechsel im Jahr 2003 folgenden Jahren verfolgt wurden oder aus dem Irak flohen, während sich die Verbliebenen mit den herrschenden Parteien arrangierten. Allerdings besteht auch weiterhin dem Grunde nach eine Gefahr, Opfer gezielter Übergriffe durch reguläre irakischen Sicherheitskräfte oder schiitische Milizen zu werden (ausführlich hierzu: VG Hannover, Urteil vom 17.10.2018 – 6 A 5213/17, juris Rn. 38 ff. m.w.N. – betr. eines ehemaligen Offiziers des irakischen Geheimdienstes Jihas Almukbarat; UK Home Office, Country Policy and Information Note. Iraq: Ba’athists, Version 1. 0, November 2016, Rn. 2.3.4 f., 6.4; Refugee Review Tribunal Australia, Entscheidung vom 17. Mai 2012 – Case Number 1112306, Rn. 61 f.; ACCORD, a.a.O., S. 2, 4 der Druckversion sowie Anfragebeantwortung vom 18. Februar 2010, Irak: Gefährdung ehemaliger Ba’ath-Mitglieder, Armeeangehöriger bzw. Mitglieder des Vereins "Freunde Saddam Husseins", insbesondere durch schiitische Milizen; Betreiber der Internetseite "darbabl" und Ernsthaftigkeit von Todeslisten; Anfragebeantwortung vom 17. Februar 2010, Verfolgung von Kampfpiloten bzw. Militärangehörigen bzw. höheren Ba’ath-Partei-Mitgliedern und deren Angehörigen, insbesondere durch schiitische Milizen; Anfragebeantwortung vom 10. Februar 2011, Irak: Repressionen gegen ehemalige Mitglieder der Ba’ath-Partei und der Armee nach dem Sturz Saddam Husseins; jeweils m.w.N.). Anknüpfungspunkt hierfür kann beispielsweise die vorangegangene Tätigkeit für eine repressive Institution wie das Militär oder den Geheimdienst sein, selbst in niederrangiger Funktion, aber auch der Umstand, dass der Betroffene der Unterstützung des andauernden (sunnitischen) Widerstandes gegen die Zentralregierung verdächtigt wird (ACCORD, a.a.O., S. 4).

Der letztere Gesichtspunkt hat in Anbetracht der Bedrohung durch den IS nochmals Bedeutung erlangt, weil sich in der Führungsstruktur der Organisation im Irak und in Syrien zahlreiche ehemalige Offiziere des Saddam-Regimes befinden (Reuters, Artikel vom 16. Juni 2015, „Saddam’s former army is secret of Baghdadi’s success“; Welt-Online, Artikel vom 10. August 2015, „Saddam Husseins Offiziere – Die Geheimwaffe des IS“; The Washington Post, Artikel vom 4. April 2015, „The hidden hand behind the Islamic State militants? Saddam Hussein’s“; Zeit Online, Artikel vom 28. August 2014, „Islamischer Staat: Ex-Offiziere von Saddam Hussein haben das Sagen“; UK Home Office, a.a.O., Rn. 5.1.1-5.1.12). Die mit dem Programm der „De-Baathifizierung“ einhergehende Verdrängung von Sunniten aus dem Staatsdienst und die Marginalisierung ihrer Mitwirkung am politischen Prozess hat nämlich bei der sunnitischen Bevölkerung des Iraks für weitverbreitete Wut gesorgt, zumal die jeweils aufeinander folgenden schiitischen (Zentral-) Regierungen bis 2014 ihre Macht durch die Verfolgung politischer Gegner und Massenarreste konsolidierten. Je mehr die irakischen Sunniten von der Führungsriege des Landes desillusioniert waren, desto mehr stellte sich für zahlreiche von ihnen der IS als verlockende Alternative dar, sagte er doch als sunnitische Gruppierung der schiitischen Zentralregierung des Iraks den Kampf an (Vox, Artikel vom 18. September 2017, „On the ground in Iraq, the war against ISIS is just getting started“, S. 3 der Druckversion). Arabische Sunniten sind deshalb aufgrund ihrer ethno-religiösen Herkunft verstärkt der Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt, weil sie oftmals unter dem Pauschalverdacht leiden, mit dem IS zu sympathisieren (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 116, 157). Hiermit korrespondierend erhöhte sich seit 2014 die zielgerichtete, von Regierungskräften ausgehende Gewalt gegen sunnitische Araber in Bagdad ebenso wie in anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten des Irak (BFA, a.a.O., S. 84 f.). In vielen Fällen werden dabei als Täter Angehörige schiitischer Milizen benannt, die im Jahr 2014 unter dem Dachverband der Volksmobilisierungseinheiten zusammengefasst wurden.

In Reaktion auf die Einnahme Mosuls durch den IS am 10. Juni 2014 hatte der damalige schiitische Premierminister Nouri al-Maliki Freiwillige dazu aufgefordert, gemeinsam mit der irakischen Armee gegen den IS zu kämpfen. Diesem Aufruf folgt am 13. Juni 2014 ein religiöses Edikt (Fatwa) des obersten irakischen schiitischen Geistlichen, Großayatollah Ali al-Husseini al-Sistani, der alle Männer im kampfesfähigen Alter zu den Waffen rief. Infolgedessen schlossen sich freiwillige Kämpfer bereits bestehenden oder neu gegründeten schiitischen Milizen an, die sich unter dem Dachverband der Volksmobilisierungseinheiten zusammenfanden (sogenannte Al-Haschd asch-Schaʿbī, Popular Mobilization Units (PMU) bzw. Popular Mobilization Forces (PMF); siehe: Amnesty International (AI), Iraq: Turning a blind eye. The Arming of the Popular Mobilization Units, 2017, S. 8; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 35; hierzu ausführlich: VG Hannover, Urt. v. 12.11.2018 – 6 A 6923/16, juris Rn. 25 ff.).

Die PMF- Milizen lassen sich in grob in vier inoffizielle Blöcke einteilen, wobei diese Unterteilung an ihre jeweils ähnlichen Ziele anknüpft, nicht hingegen an formelle Allianzen. Die nicht-schiitischen Milizen bilden den vierten Block und umfassen Sunniten, Yeziden, Christen und andere Minderheiten. Die ersten drei Gruppen bestehen demgegenüber aus schiitischen Milizen (ACCORD, Iraq: recruitment (including forced recruitment) of young men by Shia militias in Shia regions; consequences of refusal to be recruited [a-10168], 9. Juni 2017, S. 3). Auch diese sind innerhalb der PMF jedoch nicht als Einheit zu sehen, sondern als viele unterschiedliche und zum Teil rivalisierende Gruppierungen, alle mit ihren eigenen Zugehörigkeiten zu verschiedenen schiitischen Führern (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 97). Den ersten und einflussreichsten Block bilden die pro-iranischen, d.h. vom iranischen Regime etablierten Milizen. Innerhalb dieser Gruppe handelt es sich bei der von Haidi al-Amiri geführten Badr-Organisation (Munathamat Badr, Badr Brigades bzw. Badr Organization) um die größte und am besten ausgestattete Vereinigung, welche ca. 20.000 Kämpfer umfasst. Andere hier zu verortende Milizen sind ‘Asa’ib Ahl al-Haqq (League of the Righteous bzw. Liga der rechtschaffenen Leute oder Chazali-Terrornetzwerk), Kata’ib Hezbollah (Hezbollah Brigades bzw. Hezbollah Brigaden), Saraya al-Khorasani und Harakat al-Nujaba. Hierbei handelt es sich um Gruppierungen, die jeweils der Doktrin des Obersten Religionsführers des Iran (Welāyat-e Faghīh) folgen und politische Ambitionen hegen. Der zweite Block setzt sich aus den Hashd al-Sistani zusammen, d.h. denjenigen Milizen, die im Lager des irakischen Großayatollah al-Sistani stehen (Liwa al-Akbar, Furqat Imam al-Qitaliyah, und Furqat al-Abbas al-Qitaliyah) und dem (früheren) Premierminister Abadi gegenüber loyal sind. Ihre Truppen sind zahlenmäßig schwächer als die pro-iranischen Gegenspieler und setzen sich aus ca. 20.000 Kämpfern zusammen. Ihre Anhänger sind überwiegend durch die Fatwa Sistanis motivierte Freiwillige ohne politischen Ambitionen., die jedoch auf die Unterstützung des irakischen Verteidigungsministeriums zurückgreifen können. Der dritte Block umfasst die Milizen, die den von Ammar al-Hakim geführten Islamic Supreme Council of Iraq (ISIC bzw. SIIC, Oberster Islamischer Rat des Irak (OIRI)) unterstützen, ferner die Anhänger des Predigers Muqtada al-Sadr. Hierbei handelt es sich um einflussreiche politische Fraktionen des Schiitentums mit komplex ausgestalteten Beziehungen zum Iran, welche sich zugleich in loser Gefolgschaft zur irakischen Zentralregierung befinden. Die Pro-Hakim-Milizen umfassen dabei die Gruppen Saraya Ansar al-Aqeeda, Liwa al-Muntathar und Saraya Ashura. Bei der wichtigsten dem Prediger Sadr loyalen Miliz handelt es sich um die Gruppe Saraya al-Salam (Peace Brigades bzw. Friedenskompanien/-brigaden/-schwadrone), ehemals bekannt als Mahdi-Armee (Jaish al-Mahdi (JAM)).

Die PMF-Milizen stellen im Irak einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, die sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik wiederspiegeln und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beitragen (Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2017), 12. Februar 2018, S. 15). Hiermit korrespondierend suchen sie im Einklang mit den fortschreitenden militärischen Erfolgen im Kampf gegen den IS nach neuen Gründen, um ihren weiteren Einsatz auch über das Bestehen einer Fatwa hinaus zu rechtfertigen. Dies betrifft etwa den Schutz Bagdads sowie wichtiger schiitischer Stätten, ferner den Einsatz in den zwischen der Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung umstrittenen Gebieten im Nordirak. Der Umstand, dass sich die irakischen Streitkräfte auf die Sicherung des westlichen und nördlichen Irak konzentrieren, bietet den PMF-Milizen zudem die Möglichkeit, sich in den ölreichen südlichen Provinzen als lokale Warlords zu etablieren, insbesondere an florierenden Wirtschaftsstandorten wie Basra und Amara (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), Iraq: recruitment (including forced recruitment) of young men by Shia militias in Shia regions; consequences of refusal to be recruited [a-10168], 9. Juni 2017, S. 3).

Das Vorgehen schiitischer PMF-Milizen gegen sunnitische Araber beschreibt das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in seinem den Irak betreffenden Länderbericht für das Jahr 2017 dabei wie folgt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 84 f.):

„Die zielgerichtete Gewalt gegen sunnitische Araber hat in Bagdad ebenso wie in anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten des Irak seit 2014 zugenommen (UNHCR 14.11.2016). In Bagdad wurde gemeldet, dass sunnitische Binnenvertriebene gedrängt wurden, aus schiitischen und gemischt sunnitisch-schiitischen Wohngebieten auszuziehen (UNHCR 14.11.2016). Auch gewaltsame Vertreibungen von Sunniten aus mehrheitlich von Schiiten bewohnten Vierteln Bagdads kamen laut dem Leiter des Sicherheitskomitees des Provinzrates Bagdad vor. Zum Teil würde es dabei weniger um konfessionell motivierten Hass gehen, sondern darum, die Grundstücke der vertriebenen Familien übernehmen zu können (IC 1.11.2016). Laut Berichten begehen die PMF-Milizen in Bagdad immer wieder Kidnappings und Morde an der sunnitischen Bevölkerung (die nicht untersucht werden), oder sie sprechen Drohungen dieser gegenüber aus (HRW 27.1.2016; Al-Araby 17.5.2017). Laut dem Parlamentsmitglied Abdul Karim Abtan langen bezüglich der Welle von konfessionell motivierten Entführungen und Morden fast täglich Berichte ein; er beschuldigt die Polizei, die Vorfälle zu ignorieren und den Milizen zu erlauben, straffrei zu agieren (Al-Araby 17.5.2017). Viele Familien waren in Bagdad durch den konfessionellen Konflikt dazu gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und sie siedelten sich zunehmend entlang konfessioneller Grenzen wieder an (IOM 31.1.2017). Somit sind separate sunnitische und schiitische Viertel entstanden. Bagdad ist weiterhin entlang konfessioneller Linien gespalten (IOM 31.1.2017).“

In Bezug auf die Finanzierung der PMF-Milizen und ihr Wirken im zivilen Sektor hält das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die folgenden Erkenntnisse fest (BFA, a.a.O. S. 79, S. 83 f.):

„Neben der Finanzierung durch den irakischen, sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem dermaßen hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat.“

„Die Vorstöße des IS im Nord- und Zentralirak 2014 und Anfang 2015 sowie das damit verbundene Sicherheitsvakuum in anderen Landesteilen haben dazu geführt, dass Milizen und Stammesführer in vielen Gegenden die Macht an sich gerissen haben, die Kriminalität zugenommen hat und insgesamt das staatliche Machtmonopol und die Rechtsstaatlichkeit aufgeweicht wurden, einschließlich in der Hauptstadt Bagdad (UNHCR 14.11.2016). Die PMF-Milizen, die ursprünglich entstanden sind, um den IS zu bekämpfen [andere gab es allerdings auch schon vor dem IS], verrichten nun in den Stadtvierteln von Bagdad Polizeiarbeit. Dadurch konkurrieren sie mit der regulären Polizei, missachten die Gesetze und verhalten sich oft eher wie mafiöse Gruppen. […] Die Milizen erschweren zunehmend die Arbeit der lokalen Polizeikräfte. Führungskräfte der Polizei sind gezwungen, mit den führenden Vertretern der Milizen, die in ihrem Stadtteil operieren, zu kooperieren, gesetzt den Fall, die Viertel befänden sich überhaupt unter Polizeikontrolle. Die meisten Stadtviertel von Bagdad haben einen Stützpunkt, zumeist in Form eines Büros, der zu der jeweiligen Miliz gehört, die in dem Teil der Stadt präsent ist (manchmal sind auch mehrere Milizen in einem Viertel präsent). Laut Angaben eines Bagdader Polizisten könne man die mutmaßlichen Rechtsverletzungen der Milizen nicht ahnden; Es käme auch zu Straßenkämpfen zwischen den Milizen und die Polizei müsse neutral bleiben und würde daher nicht in die Kämpfe eingreifen (Niqash 19.1.2017).

Offiziell ist nach wie vor das sogenannte „Baghdad Operations Command“ (BOC) für die Sicherheit in der Stadt zuständig. Es umfasst etwa 70.000 Mitglieder, die aus Soldaten der regulären Armee, der Militärpolizei und der normalen Polizei sowie aus Geheimdiensten bestehen. Viele Bewohner haben jedoch den Eindruck, dass das BOC nicht in der Lage ist, seine Aufgabe zu erfüllen (Niqash 19.1.2017). Daher gibt es den Ruf danach, dass die PMF-Milizen auch offiziell für die Sicherheit zuständig sein sollen, bzw. den Druck, auch von Seiten verschiedener Parlamentsmitglieder, die Milizen stärker in Bagdads Sicherheitskonzept einzubinden, oder ihnen sogar die Sicherheitsagenden komplett zu übergeben und das BOC aufzulösen (IFK 25.7.2017; vgl. Niqash 19.1.2017).“

Eine gegenüber der übrigen sunnitisch-arabischen Bevölkerung gesteigerte Gefahr, Opfer eines Übergriffs durch PMF-Milizen zu werden, besteht dabei im Raum Bagdad für Angehörige des Stammes al-Mashhadani (alternative Schreibweisen: Muschahada, Maschhadan, Maschhadani, Mashadani). Dies gilt insbesondere für die nordöstlich von Bagdad gelegenen Stadt Tarmiyah. Nach einem Bericht von AL-Monitor aus dem Jahr 2018 handelt es sich hierbei um einen sunnitischen Stamm, der in einer direkten Abstammungslinie zum Propheten Mohammed stehen soll und schwerpunktmäßig im Irak beheimatet ist, in Teilen auch in Syrien. Der Stamm al-Mashhadani gilt als der größte Stamm in der Gegend von Tarmiyah (AL-Monitor, Artikel vom 27. August 2018, „IS targets rural area near Baghdad“). Unter der Diktatur Saddam Husseins erhielt der Stamm eine besonders bevorzugte Behandlung, um seine Loyalität für das Regime zu sichern, namentlich durch Bereitstellung von finanziellen Zuwendungen, Waffen und die präferierte Rekrutierung junger Stammesmitglieder in die Armee und Sicherheitsorgane sowie deren zügige Beförderung (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Irak: Lage von Angehörigen des Stammes Muschahada (Maschhadan), insbesondere Bedrohung durch die Ahl al-Haqq-Miliz; Lage von Angehörigen des Stammes Albu Nasir; Informationen zum Stamm Albu Adschil [a-10348], 27. September 2017, S. 1 der Druckversion m.w.N.). Nach dem Sturz Saddam Husseins verfolgten beispielsweise Mitglieder der Badr-Organisation im Jahr 2004 Angehörige des Stammes al-Mashhadani wegen deren vorangegangener Berufstätigkeit bei den Revolutionsgarden (The Independent, Artikel vom 13. Dezember 2005, „The al-Mashhadani family: living in terror and fighting to survive“). Ein weibliches Stammesmitglied, zugleich irakische Parlamentsabgeordnete, wurde im Jahr 2006 in Bagdad gemeinsam mit sieben ihrer Personenschützer von schiitischen Milizen entführt und zwei Monate festgehalten, um die Freilassung schiitischer Gefangener zu erpressen (The New York Times, Artikel vom 27. August 2006: „Sunni Arab Lawmaker, Freed by Captors in Iraq, Describes Her Ordeal“). Ebenfalls im Jahr 2006 entführten Mitglieder der Mahdi-Armee in Bagdad einen Angehörigen des Mashhadani-Stammes in Bagdad und töteten sechs Mitglieder des Stammes bei deren Versuch, den Entführten zu befreien (Seattle Times, Artikel vom 29. September 2006: „Deadly story familiar in Baghdad“).

Im neuen politischen System nach dem Sturz Saddam Husseins ist der Stamm al-Mashhadani gemäß einer Auskunft aus dem Jahr 2010 weiterhin vertreten, wobei die Chancen für politische Führungspersönlichkeiten umso stärker sind, ja unauffälliger sie sich unter dem Ba’ath-Regime verhalten haben (ACCORD, a.a.O., S. 2 der Druckversion). Im Jahr 2012 rief der ehemalige Sprecher des Stammes al-Mashhadani die irakischen Stämme dazu auf, die nationale Einheit zu wahren und politische bzw. sektiererische Konflikte zu vermeiden (Iraqi News, Artikel vom 24. Juni 2012, „Mashhadani calls tribes to contribute in consolidating national unity“). Ammar al-Hakim, der Führer der (vornehmlich schiitischen) Nationalen Allianz, traf sich im September 2016 mit dem Parlamentsabgeordneten Mahmud al-Mashhadani, um die Sicherheitslage sowie die politische Lage im Land zu besprechen. Im Juli 2017 erklärte Said al-Dschasim Al-Mashhadani, der „Stammesverantwortliche“ für die Truppen der PMF-Milizen in der Gegend von Tarmiyah, alle örtlichen Stämme würden mit den Sicherheitskräften zusammenarbeiten, um die Gegend von Terroristen zu befreien (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Informationen zum Stamm der Muschahada (Maschhadan): allgemeine Lage; Prominent in der Politik vertretene Mitglieder; Informationen zu Mahmud Dhiab Al-Maschhadani und Saifuddin Al-Maschhadani [a-10695], S. 5 der Druckversion). Im November 2017 erklärte darüber hinaus Scheich Said Al-Dschasim al-Mashhadani, der Vorstand des Rates der Stammesanführer der Stämme nördlich von Bagdad, sein Stamm sei bereit, sich an der Bekämpfung der verbleibenden Schläferzellen des IS zu beteiligen (ACCORD, a.a.O., S. 5 der Druckversion).

Allerdings schlossen sich auch deutliche Teile des Mashhadani-Stamms im Zentral- und Nordirak dem IS und al-Qaida an, wobei der Stamm hochrangige Mitglieder beider Organisationen stellte (ACCORD, a.a.O., S. 2; AL-Monitor, Artikel vom 27. August 2018, „IS targets rural area near Baghdad“). Scheich Mansour al-Mashhadani, ein einflussreicher Rekrutierer für al-Qaida und „spiritueller Anführer“ der Organisation, wurde beispielsweise im Jahr 2004 vom US-Militär wegen Verbindungen zu salafistischen Gruppierungen verhaftet und kam Gerüchten zufolge im Jahr 2006 bei einem Luftschlag ums Leben. Der zwischenzeitlich hingerichtete Khalid al-Mashhadani war zum Zeitpunkt seiner Inhaftierung im Jahr 2007 der hochrangigste Iraker in den Reihen von al-Qaida (AL-Monitor, Artikel vom 27. August 2018, „IS targets rural area near Baghdad“). Der im Jahr 2018 inhaftierte Jamal al-Mashhadani, ein ehemaliges Mitglied des Militärgeheimdienstes unter Saddam Hussein, trat zunächst al-Qaida bei, bevor er zu einer der Führungspersonen des IS aufstieg, die u.a. für das Chemiewaffenprogramm der Organisation sowie die öffentliche Misshandlung kurdischer Kriegsgefangener verantwortlich war; zudem agierte er als Gouverneur des IS in Kirkuk und im Nordirak (The New York Times, Artikel vom 30. November 2018, „ISIS Official Known for Caging Foes Is Captured by Iraq“). Im Falle des Todes des IS-Anführers Abu Bakr al-Baghdadi, so die Auskunft eines Terrorismusexperten gegenüber dem amerikanischen Nachrichtenmagazin CNN im Jahr 2015, wäre der im Jahr 2012 untergetauchte bzw. verschwundene Scheich Younis al-Mashhadani ein wahrscheinlicher Nachfolger Baghdadis, da er sich auf eine direkte Abstammungslinie zum Propheten Mohammed berufen könne (AL-Monitor, Artikel vom 27. August 2018, „IS targets rural area near Baghdad“).

Gerade die Gegend von Tarmiyah gilt dabei als Hochburg des IS, d.h. als „No-Go-Area“ sowie als Zentrum der Rekrutierung für salafistische Aufständische in der Nähe von Bagdad, was durch die weiten Flächen bzw. die landwirtschaftlich geprägte Struktur des Gebiets begünstigt wird. Auch der Umstand, dass Tarmiyah zwischen zwei von Bagdad aus nach Norden führenden Autobahnen liegt, davon eine nach Mosul, eine nach Kirkuk bzw. Erbil, macht das Territorium für Aufständische attraktiv, um sich in ländlichen Gebieten in der Nähe der Hauptstadt neu zu gruppieren (AL-Monitor, a.a.O.; Washington Post, Artikel vom 23. Juli 2019, „Iraqi forces clear farmland near Baghdad of IS militants“). Die Straße zwischen Tarmiyah und Bagdad ist aus diesem Grund durch eine unüberschaubare Vielzahl von Checkpoints der Armee und PMF-Milizen flankiert, deren Angehörige weitgehende Befugnisse haben, jedermann am Passieren zu hindern (vgl. AL-Monitor, a.a.O.). In Tarmiyah kommt es ferner regelmäßig zu Terroranschlägen auf Sicherheitskräfte und Zivilisten, auf welche die irakische Armee und die PMF-Milizen mit umfassenden militärischen Operationen reagieren (Kurdistan24, Artikel vom 16. Mai 2018, „Eight killed, 31 wounded in northern Baghdad suicide attack“; Garda World, Artikel vom 31. Januar 2019, „Iraq: Unidentified gunmen kill three in Tarmiyah area January 29“; Al Shahid, Artikel vom 20. Juni 2019, „Major operations launched in the ISIS hotspot of Tarmiyah, Baghdad“; Iraqi News, Artikel vom 21. Juli 2019, „Rapid Intervention Forces apprehend IS Emir in Tarmiyah“; Washington Post, Artikel vom 23. Juli 2019, „Iraqi forces clear farmland near Baghdad of IS militants“).

Schließlich besteht im Irak ein gesteigertes Risiko für Personen mit bestimmten sunnitisch-konnotierten Nachnamen, Diskriminierungen und Schikanen durch schiitische irakische Sicherheitskräfte ausgesetzt oder sogar getötet zu werden (so zutreffend: VG Aachen, Urteil vom 30.01.2019 – 4 K 4169/17.A, juris, Rn. 30 f. m.w.N.). Schiitische PMF-Milizen suchen sich ihre Opfer oft anhand des Namens aus, da es bei Irakern häufig keine anderen Hinweise auf deren Konfessionszugehörigkeit gibt (VG Aachen, a.a.O., Rn. 31), sofern nicht Indizien wie Autoaufkleber mit schiitischen Märtyrern oder Kennzeichen sunnitisch-dominierter Provinzen herangezogen werden (The New York Times, Artikel vom 6. September 2006, „To Stay Alive, Iraqis Change Their Names“).

Der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten gründet dabei in der Frage, wer nach dem Tod des Propheten Mohammed im Jahr 632 n.C. die Gemeinschaft der Muslime anführen sollte. Schiiten gehen davon aus, dass Imam ʿAlī ibn Abī Tālib (Ali), der Cousin und Schwiegersohn des Propheten, nicht nur über besondere politische Autorität verfügte, sondern auch über überragende religiöse Weisheit. Ihnen zufolge gibt es insgesamt zwölf, durch die Abstammung von Ali legitimierte Imame, welche die rechtmäßigen spirituellen und politischen Nachfolger des Propheten sind, wobei der verschwundene, zwölfte Imam eines Tages zurückkehren werde. Nach dem Tod Mohammeds unterstützte die Mehrheit der arabischen Stämme demgegenüber erfolgreich die unmittelbare Nachfolge des Abu Bakr, einem engen Vertrauten des Propheten und Vater seiner Frau Aisha. Sunniten gehen infolgedessen davon aus, dass vier rechtgeleitete Kalifen existieren, d.h. Abu Bakr und, ihm folgend, Omar, Othman sowie, nach Ermordung der beiden Vorgenannten, Ali. Nachdem Ali ebenfalls ermordet worden war, fiel sein jüngster Sohn Hussein ibn Ali, der dritte schiitische Imam, im Jahr 680 im Irak in der Schlacht von Kerbala gemeinsam mit zahlreichen Verwandten einem Massaker durch die Truppen des herrschenden sunnitischen Kalifen Yazīd ibn Mu‘āwiya (Yazid I.) zum Opfer. Sein Märtyrertod, dem jährlich im ersten Monat des islamischen Kalenders (Muharram) gedacht wird, bildet den zentrale Lehrsatz für diejenigen, welche die Auffassung vertreten, Ali hätte dem Propheten unmittelbar nachfolgen sollen und sich infolgedessen als Shiat Ali bezeichnen, d.h. als Partei Alis (siehe zum Vorgenannten: History Today, History Today Volume 56, Issue 6, June 2006, „Caliph Uthman Murdered“; The Economist, Artikel vom 29. Mai 2013, „What is the difference between Sunni and Shia Muslims?“; The Independent, Artikel vom 13. Juni 2014, „Iraq crisis: What is the difference between Sunni and Shia muslims, and why do they disagree?“).

Diese in der Frühzeit des Islam verorteten Konflikte entfalten auch im heutigen Irak unmittelbare Wirkungen, da selbst säkulare schiitische Eltern ihren Sohn niemals nach den verachteten sunnitischen Kalifen Abu Bakr, Omar oder Othman benennen würden. Entsprechendes gilt für den weiblichen Namen Aisha, d.h. der Frau Mohammeds, welche dabei half, während des (kurzen) Kalifats Alis eine Revolte gegen ihn zu organisieren (The Independent, a.a.O.). Für sunnitische Araber mit einem entsprechend konnotierten Namen besteht deshalb die Gefahr, an (rechtmäßig oder illegal errichteten) Checkpoints des Militärs oder schiitischer Milizen verhaftet oder noch an Ort und Stelle getötet zu werden, so beispielsweise im Juli 2006 im Bagdader Viertel Jihad, als schiitische Milizionäre am helllichten Tag bis zu 50 Personen aus ihre Autos und Häuser zerrten und diese nach einem Blick auf ihre Ausweispapiere erschossen (The New York Times, Artikel vom 6. September 2006, „To Stay Alive, Iraqis Change Their Names“). Auch aktuellen Berichten zufolge werden sunnitische Araber oftmals wegen ihres sunnitisch konnotierten Namens bedroht, an Checkpoints der irakischen Sicherheitskräfte misshandelt, verschleppt und/oder getötet. Zahlreiche befragte Personen haben dabei ausdrücklich angegeben, ihren Namen in einen schiitisch konnotierten oder zumindest religiös unverfänglichen Namen ändern zu wollen, um sich dem Zugriff schiitischer Milizionäre zu entziehen (Huffington Post, Artikel vom 4. Februar 2015, „Worried Their Names Can Be A Death Sentence, Some Iraqis Look To Change Them“). Das irakische Personenstandsgesetz stellt diesbezüglich jedoch erhebliche Hürden auf, welche die Gefahr beinhalten, dass eine zur Namensänderung bereite Person zusätzliche Aufmerksamkeit auf sich zieht. Denn es verlangt, dass der Betroffene sein Begehren in den Tageszeitungen veröffentlicht und dann zehn Tage wartet; erhebt niemand Einspruch, wird dem Gesuch um Namensänderung stattgegeben. Auch aus diesem Grunde floriert der Handel mit gefälschten Ausweispapieren, um an den diversen Kontrollstellen sunnitischer oder schiitischer Milizen Personalausweise mit dem jeweils „richtigen“ Namen vorzeigen zu können (The Huffington Post, a.a.O.; The New York Times, Artikel vom 6. September 2006, „To Stay Alive, Iraqis Change Their Names“; Stern, Artikel vom 7. August 2006, „Der falsche Name ist das Todesurteil“).

Diese Erkenntnismittel zu den Übergriffen schiitischer Milizen auf sunnitische Araber, denen eine Nähe zum IS bzw. zum Ba’ath-Regime unter Saddam Hussein zugeschrieben wird, insbesondere solche des Stammes al-Mashhadani in der IS-Hochburg Tarmiyah, finden ihre sachliche Entsprechung in den glaubhaften Schilderungen des Klägers im Rahmen seiner Anhörung beim Bundesamt. Die im Anhörungsprotokoll des Bundesamts im Einzelnen dokumentierte Aussage des Klägers enthielt hinreichende Realkennzeichen, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines real erlebten Geschehens sprechen. Er schilderte das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent, mit einem erheblichen quantitativen Detailreichtum nebst Nennung ungewöhnlicher Details, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen, unter Angabe räumlich-zeitlicher Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten sowie unter Thematisierung unverstandener Handlungselemente. Diesbezüglich wird im Einzelnen auf das ausführliche Protokoll der Anhörung nebst den schriftlichen Ergänzungen verwiesen.

Der Kläger ist nach dieser Maßgabe vorverfolgt aus dem Irak ausgereist. Selbst wenn man davon ausginge, dass die zahlreichen Bedrohungen, die dem Kläger wegen seiner sunnitischen Konfession, seines sunnitischen Vornamens sowie der Zugehörigkeit zum sunnitischen Stamm Al-Mashadani über einen Zeitraum von mehreren Jahren widerfuhren, jeweils für sich betrachtet nicht die nach § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG erforderliche Intensität aufwiesen, so erfüllen sie jedenfalls in ihrer Gesamtheit die Voraussetzungen der Nummer 2 der Norm. Die Vielzahl der Übergriffe und Bedrohungen, welche der Kläger in den letzten Jahren vor seiner Ausreise durch Angehörige der regulären irakischen Streitkräfte und solche schiitischer PMF-Milizen (Mahdi-Armee, Badr-Organisation, Asa’ib Ahl al-Haqq) erlebt hat, begründeten in seinem Lebensalltag ausweislich der Angaben beim Bundesamt eine schlichtweg unerträgliche Lage, geprägt von einer permanenten Bedrohungssituation sowie gravierenden Einschränkungen seiner Religionsfreiheit, seiner Berufs- und Bewegungsfreiheit und seines Rechts auf Achtung des Privatlebens. Die entgegenstehende Argumentation im Bescheid des Bundesamts vom 6. April 2017 ist sachlich wie rechtlich in jeglicher Hinsicht unvertretbar. Im Übrigen geht auch das Bundesamt mittlerweile davon aus, wie im Bescheid vom 5. Mai 2017 dokumentiert ist, dass dem Kläger im Falle einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK droht.

Darüber hinaus wird in Zusammenschau mit den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ersichtlich, dass die dem Kläger widerfahrenen und auch weiterhin drohenden Verfolgungshandlungen an seine Religion anknüpften, d.h. an seine sunnitische Konfession. Gefahrerhöhend hat sich hierbei für den Kläger niedergeschlagenen, dass er den eindeutig sunnitisch-konnotierten Namen „Othman“ trägt, zu einem sunnitischen Stamm gehört, der zahlreiche hochrangige Funktionäre von al-Qaida im Irak sowie des IS stellt, in der als IS-Hochburg bekannten Stadt Tarmiyah lebt sowie schließlich der Umstand, dass seine unmittelbare Familie bereits in das Visier der Mahdi-Armee geraten war, weil mehrere seiner Onkel sowie Cousins ebenso wie sein Vater Mitglieder der Ba’ath-Partei und Angehörige der Streitkräfte unter Saddam-Hussein waren.

Die dem Kläger widerfahrene (Vor-)Verfolgung ist auch flüchtlingsrechtlich beachtlich im Sinne des § 3c AsylG, weil sie von staatlichen Organisationen ausging. Dies gilt auch, sofern Angehörige von PMF-Milizen den Kläger bedrohten (siehe hierzu: VG Hannover, Urteil vom 12.11.2018 – 6 A 6923/16, juris LS 1, Rn. 41), zumal der schiitische Ministerpräsident Adil Abdul-Mahdi zu Beginn des Juli 2019 verkündete, dass alle PMF-Milizen nunmehr als untrennbarer Teil der regulären irakischen Streitkräfte operieren sollen. Hiermit genießen die Gruppierungen einen nochmals gesteigerten staatlichen Schutz, ohne dass hiermit gegenwärtig zugleich effektive Einflussmöglichkeiten des irakischen Staates auf das Wirken der Milizen einhergehen (VG Hannover, Urteil vom 25. Juli 2019 – 6 A 2971/17, juris; Spiegel Online, Artikel vom 3. Juli 2019, „Teherans trojanisches Pferd“; Deutsche Welle, Artikel vom 2. Juli 2019, „Iraqi PM orders Iran-backed militias into army command“; The Defense Post, Artikel vom 3. Juli 2019, „Popular Mobilization Force reform in Iraq: Reintegration or consolidation of militia power?“).

Die aus Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie folgende Vermutung erneuter Verfolgung entfällt nicht durch die Möglichkeit des Klägers, seinen Vornamen zu ändern. Abgesehen von den dargestellten Gefahren durch Veröffentlichung des Änderungsgesuchs in den Tageszeitungen wäre er jedenfalls aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Stamm der al-Mashhadani weiter bedroht.

Überdies steht dem Kläger vor der weiterhin drohenden Verfolgungsgefahr auch kein interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung (s. etwa: VG Hannover, Urteil vom 12.11.2018 – 6 A 6923/18, juris Rn. 52 ff.) an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen weist in einer Auskunft aus April 2018 darauf hin, dass interne Fluchtalternativen im Irak in Anbetracht der gegenwärtigen Sicherheitslage und humanitären Verhältnisse allenfalls in Ausnahmefällen gegeben seien (UNHCR, Auskunft vom 25. April 2018 gegenüber dem VG Sigmaringen zum Beweisbeschluss vom 19. Oktober 2017 – A 1 K 5641/16 –, S. 2). Insbesondere bietet sich für den Kläger keine zumutbare innerstädtische Fluchtalternative in Bagdad, denn die Möglichkeit, in ein sunnitisch geprägtes Stadtviertel zu fliehen, ist extrem begrenzt. So führt die Deutsche Orient-Stiftung in einem Gutachten aus November 2017 betreffend die innerstädtische Fluchtalternative eines von schiitischen Milizen verfolgten Sunniten aus, zumutbare Rückzugsorte seien realistischerweise kaum vorhanden. Im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzungen seien viele zuvor gemischte Stadtviertel ethnisch und konfessionell homogenisiert worden. Es werde geschätzt, dass bis zu 80 Prozent der Bevölkerung Bagdads schiitisch seien. Zudem übten schiitische Milizen, welche sich im Zuge der Rückeroberung sunnitischer Gebiete vom IS mit Vorwürfen massiver Menschenrechtsverletzungen konfrontiert sähen, weiterhin lokalen Einfluss aus. Soweit sunnitisch-arabisch geprägte Gebiete in Bagdad weiterhin existierten, sei im Übrigen auf die weiterhin sehr schlechte Sicherheitslage in der Stadt hinzuweisen (im Jahr 2016: 6.878 getötete Zivilisten, von Januar bis Oktober 2017: 3.112 getötete Zivilisten, jeweils bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 6,6 Mio. Menschen; Deutsche Orient-Stiftung, Auskunft zum Beschluss A 1 K 5641/16, 22. November 2017, S. 5 f.). Vor diesem Hintergrund entfällt die Verfolgungsgefahr für den Kläger auch nicht aufgrund des Umstandes, dass seine Familie mittlerweile im Bagdader Stadtteil Gazaliyah lebt. Dies gilt umso mehr, als die Familie in der Vergangenheit bereits aus Bagdad vertrieben wurde. Im Übrigen ist in Rechnung zu stellen, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr als ältester Sohn der Familie diese durch eine Berufstätigkeit unterstützen müsste und, wie das Beispiel seines Vaters zeigt, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Arbeit in Tarmiyah gezwungen wäre.

Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigen-schaft nach § 3 Abs. 2, Abs. 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG bestehen nicht.

Soweit das Verfahren eingestellt worden ist, folgt die Kostenentscheidung aus § 161 Abs. 2 VwGO, im Übrigen aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.