Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 07.02.2022, Az.: 5 A 3610/18
Dublin III Italien; Unterkunft
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 07.02.2022
- Aktenzeichen
- 5 A 3610/18
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2022, 59525
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- Art 3 MRK
- Art 4 EUGrdRCh
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Dublin III Italien: Drohende Menschenrechtsverletzung durch verweigerten Zugang zu staatlichen Unterkünften nach Verlassen der Erstaufnahmeeinrichtung in Italien ohne Asylantragstellung; Auskunft des Bundesamtes
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 7. Mai 2018 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v. H. des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 v. H. des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand:
Der Kläger ist sudanesischer Staatsangehöriger. Er sich gegen die Ablehnung seines Asylgesuchs als unzulässig und die Anordnung seiner Abschiebung nach Italien und begehrt die Prüfung seines Schutzgesuchs durch die Beklagte in eigener Zuständigkeit.
Der Kläger reiste nach seinen Angaben am 20. Februar 2018 aus Italien kommend über Frankreich und Belgien in das Bundesgebiet ein und stellte am 27. Februar 2018 einen förmlichen Asylantrag. Da Anhaltspunkte für die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens – insbesondere EURODAC-Treffermeldung der Kategorie 2 (illegal Eingereister) – vorlagen, richtete die Beklagte am 5. März 2018 ein Aufnahmegesuch an Italien nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 - Dublin-III-VO -. Hierauf reagierten die italienischen Behörden nicht.
Mit Bescheid vom 7. Mai 2018 lehnte die Beklagte den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen, ordnete die Abschiebung des Klägers nach Italien an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig, da Italien aufgrund der illegalen Einreise des Klägers über die Dublin-Außengrenze sowie der Zustimmungsfiktion gemäß Art. 13 Abs. 1 i. V. m. Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Es könne nicht vom Vorliegen systemischer Mängel hinsichtlich Italiens ausgegangen werden. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Beklagte veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht auszuüben, seien nicht ersichtlich. Soweit der Kläger vorgetragen habe, dass er an Diabetes erkrankt sei, begründe dies kein Abschiebungshindernis i. S. v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Es sei nicht erkennbar, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers im Falle einer Überstellung nach Italien wegen seiner Erkrankung alsbald wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern könnte. Entsprechende Atteste habe der Kläger nicht vorgelegt. Er habe auch nicht behauptet, dass seine Krankheit in Italien nicht behandelt werden könne.
Gegen diesen ihm am 9. Mai 2018 zugestellten Bescheid hat der Kläger am 15. Mai 2018 Klage vor dem Verwaltungsgericht Osnabrück erhoben, das den Rechtsstreit zuständigkeitshalber an das erkennende Gericht verwiesen hat.
Der Kläger macht im Wesentlichen geltend, dass das Asylverfahren in Italien systemisch mangelbehaftet sei und ihm infolgedessen eine Verletzung elementarer Rechte drohe. Er sei zudem an Diabetes erkrankt und besonders schutzbedürftig.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 7. Mai 2018 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie macht geltend, dass die Ablehnung des Schutzgesuchs als unzulässig und die Abschiebung rechtmäßig sei. Der Kläger sei in Italien nicht von Zuständen bedroht, die seine Rechte aus Art. 3 EMRK oder Art. 4 GRCh verletzten, und habe es im Übrigen selbst zu vertreten, wenn ihm Italien keine Unterkunft mehr gewährleiste, weil er nach seiner Einreise in Italien nicht unmittelbar Asyl beantragt habe.
Einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat das Gericht mit Beschluss vom 20. November 2018 abgelehnt. Auf Antrag des Klägers hat das Gericht diesen Beschluss am 16. Dezember 2019 abgeändert und die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet, unter weil der Kläger voraussichtlich vom sogenannten „Bürgergeld“ ausgeschlossen sei und ihm ein Leben unterhalb des Existenzminimums drohe.
Im Weiteren Verfahrensgang hat die Beklagte die Einschätzung ihres Fachreferats vom 18. Dezember 2021 vorgelegt, nach der der Kläger infolge seiner illegalen Einreise und weil er keinen Asylantrag gestellt habe, keinen Zugang zu den staatlichen Aufnahmezentren und Leistungen haben werde. Das sei jedoch nicht dem italienischen Staat zuzurechnen, sondern eine Folge der Entscheidung des Klägers, kein Asyl zu beantragen und sich bewusst außerhalb des Asylsystems aufzuhalten. Auch Art. 3 EMRK begründe für sich genommen keine Verpflichtung, jeder Person innerhalb ihres Hoheitsgebiets eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen. Der Inhalt sämtlicher Akten war Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe
Die Entscheidung ergeht durch den Einzelrichter, dem die Kammer den Rechtsstreit mit Beschluss vom 14. Dezember 2020 zur Entscheidung übertragen hat (§ 76 Abs. 1 AsylG) und im erklärten Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
I. Die Klage ist zulässig. In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass gegen Entscheidungen des Bundesamtes, die Durchführung eines Asylverfahrens nach Maßgabe von § 29 AsylG abzulehnen, eine Anfechtungsklage statthaft ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.10.2015 – BVerwG 1 C 32.14 –, juris; Nds. OVG, Beschluss vom 6.11.2014 – 13 LA 66/14 –, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7.3.2014 – 1 A 21/12.A – juris; BayVGH, Beschluss vom 2.2.2015 – 13 a ZB 14.50068 –, juris).
II. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid der Beklagten ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Die Beklagte stützt ihre Entscheidungen auf § 29 Abs. 1 Nr. AsylG und § 34 a AsylG. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Nach § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden soll, die Abschiebung an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Da der Kläger seinen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes nach dem 1. Januar 2014 gestellt hat, sind nach Art. 49 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (vom 29.6.2013, Abl. L 180) – Dublin III-VO – die Vorschriften dieser Verordnung anzuwenden. Danach ist zwar zunächst Italien gemäß Art. 13 Abs. 1, Art. 22 Abs. 7 bzw. 25 Abs. 2 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.
Die Beklagte kann sich auf eine Zuständigkeit Italiens jedoch nicht berufen, weil der angeordneten Abschiebung des Klägers dorthin dauerhafte Hindernisse entgegenstehen (1.) und die Beklagte das Verfahren daher in eigener Zuständigkeit durchführen muss (2.).
1. Es steht nicht fest, dass die Abschiebung im Sinne von § 34 a Abs. 1 AsylG durchgeführt werden kann. Denn nach Auffassung des Gerichts ist eine Überstellung nach Italien gegenwärtig unzulässig, weil es auch und gerade unter Berücksichtigung der vorgelegten Erklärung des Fachreferats der Beklagten im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Kläger dort systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich brächten, und die Beklagte die angefochtene Abschiebungsanordnung getroffen hat, ohne vorher eine – substantiierte – Erklärung der italienischen Behörden einzuholen, eine solche Behandlung des Klägers wirksam auszuschließen.
Ein systemischer Mangel im Sinne des Art. 3 Abs. 2 der Dublin III-VO und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil der Großen Kammer vom 14.11.2013 – Rs. C-4/11, Puid –, NVwZ 2014, 129 Rn. 30) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil vom 4.11.2014 – Nr. 29217/12, Tarakhel –) ist eine Systemstruktur oder eine fehlende Struktur im staatlichen Asylverfahren, die als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung dazu führt, dass Fälle, die diese Systemstelle durchlaufen, Rechtsverletzungen verursachen (vgl. eingehend Lübbe, ZAR 3/2014, S. 107). Das ist etwa dann anzunehmen, wenn die reale, nämlich durch eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage belegte Gefahr besteht, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren, welches nicht mit grundlegenden Mängeln behaftet ist, verwehrt oder massiv erschwert wird, das Asylverfahren selbst an grundlegenden Mängeln leidet oder dass der Mitgliedsstaat während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in einer noch zumutbaren Weise befriedigen kann (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7.3.2014 – 1 A 21/12.A –, juris).
Art. 4 GRCh verbietet ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und hat mit seiner fundamentalen Bedeutung allgemeinen und absoluten Charakter (EuGH, Urteil vom 19.3.2019 – C-163/17 –, juris Rn. 78). Daher ist hinsichtlich in einem Mitgliedsstaat schutzsuchender Personen für die Anwendung von Art. 4 GRCh irrelevant, wann diese bei ihrer Rücküberstellung in den für ihr Asylverfahren zuständigen Mitgliedsstaat bzw. den Mitgliedsstaat, der ihnen bereits internationalen Schutz gewährt hat, einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wären, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. Die Gewährleistung von Art. 4 GRCh gilt auch nach dem Abschluss des Asylverfahrens, insbesondere auch im Fall der Zuerkennung internationalen Schutzes (EuGH, Urteil vom 19.3.2019 – C-163/17 –, juris Rn. 88 f.; BVerfG, Beschluss vom 7.10.2019 – 2 BvR 721/19 –, juris Rn. 19 f.). Hat ein Schutzsuchender oder eine als schutzberechtigt anerkannte Person hinreichend dargelegt, dass tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ihm nach einer Rücküberstellung in den zuständigen Mitgliedsstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, ist das mit der Rechtssache befasste Gericht – wie auch zuvor die mit der Sache befassten Behörden – verpflichtet, die aktuelle Sachlage aufzuklären und die deutschen Behörden haben gegebenenfalls Zusicherungen der Behörden des zuständigen Mitgliedsstaates einzuholen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 –, juris 15 f. und 18 f.). Das Gericht hat auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen (EuGH, Urteil vom 19.3.2019 – C-163/17 –, juris Rn. 90). Solche Schwachstellen erreichen allerdings erst dann die für Art. 4 GRCh bzw. für den ihm entsprechenden Art. 3 EMRK besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, Urteil vom 19.3.2019 – C-163/17 –, juris Rn. 91 f.). Dies ist im Allgemeinen insbesondere der Fall, wenn die rückzuüberstellende Person in dem zuständigen Mitgliedstaat ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basis- bzw. Notbehandlung erhalten würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 4.7.2019 – BVerwG 1 C 45.18 –, juris Rn. 12).
Dem Kläger droht nach der einschlägigen Berichtslage, aber auch nach der eigenen fachlichen Einschätzung der Beklagten im Falle einer Rückkehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Obdachlosigkeit sowohl infolge der mangelhaften Ausstattung als auch infolge der rechtlichen Gestaltung des italienischen Aufnahmesystems.
Asylsuchende haben zwar nach dem im Dezember 2020 in Kraft getretenen Gesetz 173/2020 nun auch Zugang zum Zweitaufnahmesystem SAI (ehemals SPRAR, dann SIPROIMI). Eine Aufnahme ist aber nur im Rahmen der zur Verfügung stehenden Plätze möglich, eine Erhöhung der Anzahl der Plätze ist nicht vorgesehen. Die Anzahl der Plätze reicht immer noch bei Weitem nicht aus, um der Nachfrage gerecht zu werden. Priorität haben vulnerable Personengruppen. Der Zugang für Asylsuchende wie Dublin-Rückkehrer ist daher faktisch fast unmöglich (vgl. SFH, Bericht vom 10. Juni 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2055104.html). Daneben bestehen weiterhin die faktischen Hindernisse, dass Anträge auf Aufnahme in einem SAI-Projekt nicht von der betroffenen Person selbst gestellt werden können, sondern nur durch deren anwaltliche Vertretung oder die zuständige Behörde, und dass es für die zur Verfügung stehenden Plätze keine Warteliste gibt. Infolgedessen wird, wenn ein Antrag auf Unterbringung bewilligt wurde und es keinen freien Platz gibt, die betreffende Person nicht auf eine Warteliste gesetzt, sondern muss einen Monat später einen neuen Antrag stellen lassen, und zwar so lange, bis ein Platz für die jeweilige(n) Person(en) frei wird. In der Zwischenzeit steht der Person/den Personen keine Unterkunft zur Verfügung (vgl. Auskunft der SFH an den VGH Kassel vom 29.10.2020, https://www.ecoi.net/de/dokument/2041470.html).
Sodann wäre die Unterbringung in einer SAI gemäß Art. 38 (1) der (bisher nicht abgelösten) SIPROIMI-Richtlinien auf sechs Monate befristet, ohne dass im Anschluss eine Unterkunft gewährleistet wäre (vgl. SFH, Bericht vom 10. Juni 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2055104.html). Nach einem Bericht von ACCORD vom 18. September 2020 (https://www.ecoi.net//dokument/2043979.html) kann die vorgesehene Aufenthaltsdauer von sechs Monaten in einem SIPROIMI-Projekt für anerkannte Schutzberechtigte um insgesamt sechs weitere Monate verlängert werden, um Integrationsmaßnahmen (percorsi di integrazione) abzuschließen, oder wenn außergewöhnliche Umstände aufgrund gesundheitlicher Gründe vorliegen, außerdem wenn vulnerable Gruppen gemäß Artikel 17 des Gesetzesdekrets 142 vom 18. August 2015 betroffen seien. Zu den vulnerablen Gruppen zählen danach Minderjährige, unbegleitete Minderjährige, Behinderte, ältere Menschen, schwangere Frauen, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, Opfer von Menschenhandel, Menschen, die unter ernsthaften Krankheiten oder psychischen Störungen leiden, Opfer von Folter, Vergewaltigung und anderer schwerer Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt, Opfer von Gewalt in Zusammenhang mit ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität sowie Opfer von Genitalverstümmelung (Decreto legislativo n. 142, 18.8.2015, Artikel 17). Dass danach auch der Kläger eine verlängerte Unterbringung beanspruchen könnte, ist nicht ersichtlich.
Neben die tatsächlichen Hindernisse für Antragsteller, eine menschenwürdige Unterkunft zu finden, tritt als rechtliches Hindernis, dass schon dieses Minimum an Aufnahmebedingungen Antragstellern wie dem Kläger, der nach der Abgabe von Fingerabdrücken seine Unterkunft verlassen hat, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit entzogen worden sein wird. Diese – gesetzlich im Aufnahmesystem Italiens vorgesehene – Praxis ist nach der aktuellen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (vgl. EuGH, Urteil vom 12.11.2019 – C-233/18 Haqbin –, juris Rn. 47) nicht mit Art. 20 Abs. 5 der Aufnahmerichtlinie vereinbar und steht dem Gebot des Art. 4 i. V. m. Art. 1 GRCh entgegen. Sie stellt damit einen systemischen Mangel im oben beschriebenen Sinne dar.
Nach Artikel 23 des Decreto legislativo Nr. 142/2015 kann die Aberkennung von Betreuungsmaßnahmen angeordnet werden, wenn der Antragsteller nicht zur Antragstellung oder zur Anhörung erscheint. Diese für die Aufnahmezentren CARA/CAS vorgesehene Regelung wird nach den Feststellungen der Schweizer Flüchtlingshilfe auch auf die SIPROIMI-Projekte sehr streng angewandt (vgl. SFH-Bericht vom Januar 2020, https://www.ecoi.net/de/dokument/2034578.html) und gilt auch nach deren Umbildung zu SAI fort (vgl. SFH, Bericht vom 10. Juni 2021, a. a. O.).
Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts Minden wird diese Regelung wie folgt angewandt:
„Ist ein Asylsuchender für mehr als 72 Stunden unentschuldigt abwesend oder bezieht er eine ihm zugewiesene Unterkunft gar nicht erst, wird sein Name durch den Betreiber der Einrichtung der zuständigen Präfektur gemeldet. Daraufhin entzieht der Präfekt dem Asylsuchenden das Recht auf Unterbringung, indem er dessen Namen, ohne ihm dies mitzuteilen, auf eine bei der Präfektur geführte Liste setzt. Mit dem Entzug der Unterkunft verliert der Asylsuchende auch den Zugang zu allen weiteren in der Unterkunft erbrachten staatlichen Leistungen. Dieses Verfahren wird zur Überzeugung des Gerichts nicht nur im Einzelfall, sondern regelhaft durchgeführt, wenn ein Asylsuchender seine Unterkunft unentschuldigt verlässt oder dort nicht erscheint. Eine Studie, die auf Angaben von 58 der 100 italienischen Präfekturen aus den Jahren 2016 und 2017 beruht, ergab, dass in diesem Zeitraum allein in den an der Studie beteiligten Präfekturen circa 40.000 Asylsuchenden das Recht auf Unterkunft entzogen wurde. Zwar kann der Präfekt die Wiederaufnahme von Asylsuchenden in die Unterkunft verfügen, wenn diese sich auf höhere Gewalt, unvorhersehbare Umstände oder schwerwiegende persönliche Gründe berufen. Jedoch haben sowohl ein solcher Antrag als auch ein sich ggf. anschließendes Gerichtsverfahren nur äußerst geringe Erfolgsaussichten und dauern sowohl das behördliche als auch im Falle einer abschlägigen Entscheidung des Präfekten das gerichtliche Verfahren in Abhängigkeit von der jeweiligen Region mehrere Monate. In dieser Zeit hat der Asylsuchende kein Recht auf Unterbringung.“ (vgl. VG Minden, Urteil vom 13.11.2019 – 10 K 2221/18.A –, juris Rn. 81 - 83)
Diese Einschränkungen sind nach der Rechtsprechung des EuGH mit der Verpflichtung des Art. 20 Abs. 5 Satz 3 AufnahmeRL, einen würdigen Lebensstandard für den Antragsteller zu gewährleisten, unvereinbar. Danach ist auch ein nur zeitweiliger Entzug von sämtlichen im Rahmen der Aufnahme gewährten Leistungen in Bezug auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung unzulässig, weil sie dem Kläger die Möglichkeit nähme, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (vgl. EuGH, Urteil v. 12.11.2019 – C-233/18 – Haqbin, juris Rn. 47, a. A. noch Nds. OVG, Urteil vom 9.4.2018 – 10 LB 92/17 –, juris Rn. 59).
Dem Kläger droht aus diesem systemischen Mangel auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Verletzung seiner Rechte. Soweit das Verwaltungsgericht Minden davon ausgeht, dass diese Praxis jedenfalls Asylsuchende betrifft, die eine verbalizzazione geäußert haben und dies durch einen EURODAC-Treffer der Kategorie 1 belegen, hat das Gericht keinen hinreichenden Anhalt dafür, dass nicht auch der Kläger von dieser Praxis betroffen ist, weil er gar keinen Asylantrag gestellt, sondern die Unterkunft einfach verlassen hat. Auch die Beklagte geht in ihrer Stellungnahme davon aus.
Es besteht mithin die ernsthafte Gefahr, dass der Kläger bei Rückführung nach Italien dort obdachlos würde, was mit seiner Menschenwürde und Art. 4 GRCh nicht vereinbar ist. Soweit die Beklagte dem entgegenhält, dass sich der Kläger aus eigenem Entschluss in seine Situation begeben habe, weil er nach seiner Einreise in Italien keinen Asylantrag gestellt hatte, greift dieser Einwand nicht durch. Denn der Kläger hat zwischenzeitlich (bei der Beklagten) einen Asylantrag gestellt, für den die Republik Italien nach der Dublin III-Verordnung zuständig ist. Wenn die Republik Italien ihm gleichwohl verwehrt, ihn als Schutzsuchenden zu behandeln, räumt sein früheres Versäumnis weder die ihm drohende Verletzung der Menschenwürde aus, noch wird diese dadurch zumutbarer.
Es stehen dem Kläger voraussichtlich auch keine anderweitigen Möglichkeiten zur Verfügung, eine Unterkunft zu erhalten. Sozialwohnungen werden teilweise schon formal erst nach mehrjährigem Aufenthalt und im Übrigen aufgrund langer Wartelisten vergeben.
Zwar gibt es in Italien für obdachlose Personen teilweise Notschlafunterkünfte, die von den Gemeinden bereitgestellt werden. Diese Einrichtungen sind jedoch nur in der Nacht geöffnet, normalerweise ab 22 oder 23 Uhr, und müssen früh morgens wieder verlassen werden. Diese Plätze können nicht reserviert werden, sie werden der Reihe nach vergeben. Sie sind auch für italienische Obdachlose zugänglich, es gibt keine spezifisch für Begünstigte von internationalem Schutz reservierte Plätze (vgl. Auskunft der SFH an den VGH Kassel, S. 2). Die Zahl der Plätze in Notunterkünften hat sich im Zuge der COVID-19-Pandemie halbiert (vgl. SFH, Bericht vom 10.6.2021 – a. a. O.–). Obdachlosigkeit und der in diesem Zusammenhang verweigerte Zugang zu sonstigen staatlichen Leistungen wie der Bereitstellung von Mahlzeiten (vgl. Auskunft der SFH an den VGH Kassel, S. 3) würden zu physischer und psychischer Verelendung des Klägers führen.
Eine drohende Obdachlosigkeit stünde auch dem Zugang zum Asylverfahren entgegen, weil die Polizeidienststellen häufig den Nachweis einer örtlichen Wohnung verlangen und Personen, die vom öffentlichen Aufnahmesystem ausgeschlossen sind, schon an der Antragstellung gehindert werden (vgl. SFH, Bericht vom 10.6.2021 – a. a. O. –).
Es ist auch nicht zu erwarten, dass der Kläger in der Lage sein würde, seinen Lebensunterhalt einschließlich der Kosten für eine Unterkunft durch Erwerbsarbeit zu erwirtschaften. Nach der Einschätzung der Schweizer Flüchtlingshilfe ist es für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus weiterhin äußerst schwierig, eine auskömmliche Arbeit zu finden. Die wenigen Arbeitsplätze außerhalb des Schwarzmarkts sind schlecht bezahlt und befristet, der Lohn genügt in der Regel nicht, um eine Unterkunft zu bezahlen (vgl. SFH, Bericht vom 10. Juni 2021, a. a. O). Erschwerend kommt hinzu, dass Auswirkungen der COVID-19-Pandemie die für den Kläger ohnehin in Ermangelung von Sprach- und Ortskenntnissen, einer höheren Schul- und Berufsausbildung sowie persönlicher Kontakte und der bereits zuvor angespannten Arbeitsmarktlage in Italien sehr geringe Chance auf den Zugang zu legaler Arbeit (vgl. zur bisherigen Situation schon VG Minden, Urteil vom 13.11.2019 – 10 K 7608/17.A –, juris Rn. 117) weiter verringern werden. Verweist man anerkannt Schutzberechtigte zur Sicherung des Existenzminimums in Italien auf die Hilfe von karitativen Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen (so etwa VG Karlsruhe, Urteil vom 14.9.2020 - A 9 K 3639/18 -,juris Rn. 61) und die Zumutbarkeit irregulärer Beschäftigungsverhältnisse sowie die Möglichkeiten des informellen Sektors für unqualifizierte Arbeitskräfte, muss auch Beachtung finden, dass insbesondere die für anerkannt Schutzberechtigte sensiblen Lebensbereiche und Arbeitsmarktsegmente durch das Infektionsgeschehen und die Gegenmaßnahmen der Regierung schwer belastet werden (so auch VG Köln, Beschluss vom 27.8.2020 – 8 L 1429/20.A –, juris Rn. 53, und VG Gelsenkirchen, Gerichtsbescheid vom 25.5.2020 – 1a K 9184/17.A –, juris Rn. 64). Während die Jugendarbeitslosigkeit in Italien inzwischen ohnehin bereits bei etwa 30% liegt, treffen die Infektionsschutzmaßnahmen in Italien dazu noch am stärksten die prekären Arbeitsverhältnisse unqualifizierter Arbeitnehmer im tourismus- und gastronomienahen Dienstleistungssektor, Handel und Weinbau („Kein Land für junge Leute: Wie die Coronakrise das Jobproblem in Italien verschärft“, Handelsblatt vom 27.7.2020), von denen jüngere, unqualifizierte Geflüchtete wie der Kläger in besonderem Maße abhängig sind. Dass sich die Situation in absehbarer Zeit spürbar entspannt, ist angesichts erneut steigender Infektionszahlen unter der Omikron-Variante des Sars-CoV-2-Virus nicht zu erwarten.
Selbst wenn der Kläger in der Lage wäre, seinen elementaren Lebensunterhalt im informellen Sektor zu decken, stünde der Beschaffung einer eigenen Unterkunft weiterhin entgegen, dass die meisten Vermieter die Vorlage eines Arbeitsvertrages und, wie auch die meistern Arbeitgeber, eines gültigen Aufenthaltstitels fordern, weil die Vermietung oder Beschäftigung sog. illegaler Ausländer strafbewehrt ist. Demnach spricht Überwiegendes dafür, dass der Kläger gezwungen wäre, zunächst auf der Straße zu leben und sich seinen Lebensunterhalt als Tagelöhner zu verdienen. Erkrankt er dabei, steht ihm unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen von einer Grund- und Notfallversorgung bei Krankheit oder Unfall abgesehen keine hausärztliche Versorgung und weitere medizinische Leistung zur Verfügung. Die allgemeine Gesundheitsversorgung des nationalen Gesundheitsdienstes setzt dagegen die Vorlage eines Wohnzertifikats und einer Aufenthaltsbewilligung voraus, die gerade Dublin-Rückkehrende häufig nicht vorlegen können, solange sie nicht Zugang zum Asylverfahren erhalten haben (vgl. SFH, Bericht vom Januar 2020 – a. a. O –).
2. Infolgedessen geht das Gericht davon aus, dass auf absehbare Zeit weder die Beklagte noch die italienischen Behörden willens und in der Lage sind, eine den materiellen Anforderungen im Sinne der Rechtssache Tarakhel genügende individuelle Garantieerklärung abzugeben bzw. einzuholen.
Es gilt insofern nichts Anderes als in der Situation, dass ein Übernahmeersuchen an einen nicht oder nicht mehr zuständigen Mitgliedsstaat gerichtet worden ist, dessen Aufnahmebereitschaft nicht positiv feststeht. Könnte sich der Schutzsuchende in einem solchen Fall nicht auf die Zuständigkeit der Beklagten berufen, entstünde die Situation eines „refugee in orbit“, in der sich kein Mitgliedstaat für die sachliche Prüfung des Asylantrags als zuständig ansieht. Hierdurch würde dem zentralen Anliegen des Dublin-Regimes, einen effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden, widersprochen (vgl. BVerwG, Urteil vom 9.8.2016 – BVerwG 1 C 6/16 –, juris, Rn. 23).
Die Beklagte ist nach alledem verpflichtet, den Antrag des Klägers im Wege des Selbsteintritts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO zu prüfen. Diese Bestimmung ermöglicht eine Zuständigkeitsübernahme für Fälle, in denen außergewöhnliche humanitäre, familiäre oder krankheitsbedingte Gründe vorliegen, die nach Maßgabe der Werteordnung der Grundrechte einen Selbsteintritt erfordern (vgl. VG Braunschweig, Urteil vom 24.1.2017 – 7 A 55/16 –, juris). Im Fall der Zuständigkeitsübernahme wird der betreffende Mitgliedsstaat zum zuständigen Mitgliedsstaat im Sinne der Dublin-III-Verordnung. Diese Befugnis zum Selbsteintritt steht zwar grundsätzlich im Ermessen des jeweiligen Mitgliedsstaates; dieses Ermessen ist hier jedoch durch vorrangiges Unionsrecht auf eine Pflicht zum Selbsteintritt reduziert.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.