Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 23.02.2022, Az.: 12 B 6475/21
Dublin; Haft; Litauen; Systemische Mängel; unmenschliche Behandlung
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 23.02.2022
- Aktenzeichen
- 12 B 6475/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 59816
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- Art 3 Abs 2 EUV 604/2013
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Es liegen ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Litauen seit dem Sommer 2021 systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung begründen könnten.
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 10.11.2021 - 12 A 6280/21 - gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28.10.2021 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Gründe
Den Antrag des Antragstellers,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage vom 10.11.2021 (Az. 12 A 6280/21) anzuordnen,
legt die Kammer gemäß § 88 VwGO nach dem erkennbaren Begehren als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3. des Bescheides vom 28.10.2021 aus, denn es geht dem Antragsteller darum, seine Rückführung nach Litauen zu verhindern.
Der so verstandene Antrag ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG statthaft. Er ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere fristgerecht gestellt. Da die Rechtsbehelfsbelehrung unter dem Bescheid vom 28.10.2021 auf die Möglichkeit der Klageerhebung vor dem örtlich nicht zuständigen Verwaltungsgericht Oldenburg hinweist, können Rechtsbehelfe gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO innerhalb eines Jahres nach Bekanntgabe, also bis zum 04.11.2022 eingelegt werden.
Der Antrag ist auch begründet. Das Verwaltungsgericht kann die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO anordnen, wenn das Interesse des betroffenen Ausländers, von einem Vollzug der Regelungen vorläufig verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an der gesetzlich angeordneten sofortigen Vollziehbarkeit überwiegt. Bei dieser Interessenabwägung kommt der Erfolgsaussicht der Klage im Hauptsacheverfahren maßgebliche Bedeutung zu. Hier überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers, weil nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage zumindest offen ist, ob die Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 28.10.2021 einer Prüfung im Hauptsacheverfahren standhalten wird und die Folgen einer sofortigen Vollziehung möglicherweise schwerwiegende Nachteile für den Antragsteller hätten, die nicht oder nur schwer rückgängig zu machen wären.
Es bestehen Bedenken, ob die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsanordnung vorliegen. Gemäß § 34a AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen anderen Staat, der auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Hier ist zwar davon auszugehen, dass nach den Regelungen der Dublin III-VO originär die Republik Litauen für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zuständig ist. Dies ergibt sich entweder aus Art. 3 Abs. 2 UA 1, Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO, weil der Antragsteller – was er bestreitet – vor seiner Einreise ins Bundesgebiet bereits in Litauen einen Asylantrag gestellt hatte und Litauen der Wiederaufnahme zugestimmt hat, oder aus Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO, weil der Antragsteller von Belarus aus illegal nach Litauen eingereist ist.
Es spricht jedoch einiges dafür, dass die Antragsgegnerin gemäß Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO die Zuständigkeitsprüfung dennoch hätte fortsetzen müssen, um einen anderen zuständigen Mitgliedsstaat zu bestimmen. Danach setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta (GRC) mit sich bringen. Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 –, juris Rn. 181 ff.) bzw. dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, Urt. v. 19.3.2019 – C-163/17 („Jawo“) –, juris Rn. 80 f.; Urt. v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. („Ibrahim u.a.“) –, juris Rn. 84.; Urt. v. 21.12.2011 – C- 411/10, C-493/10 –, juris Rn. 79 ff.) gilt zwar die Vermutung, dass in den Mitgliedstaaten die Behandlung von Asylbewerbern mit den Erfordernissen der EU-Grundrechte-Charta und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in Einklang steht. Das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens begründet jedoch nur eine Vermutung (vgl. EuGH, Urt. v. 19.3.2019 – C- 163/17 –, juris Rn. 83 f.), welche durch den substantiierten Vortrag von Umständen widerlegt werden kann, die eine besondere Schwelle der Erheblichkeit erreichen. Die Anforderungen hieran sind allerdings hoch. Die Vermutung ist insbesondere nicht schon bei einzelnen Regelverstößen widerlegt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 –, juris). Um das Prinzip gegenseitigen Vertrauens entkräften zu können, muss vielmehr ernsthaft zu befürchten sein, dass dem Asylbewerber aufgrund genereller Mängel im Asylsystem des eigentlich zuständigen Mitgliedstaats mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC droht. Der maßgebliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit muss sich auf der Basis einer Gesamtwürdigung sämtlicher Umstände ergeben und darf sich nicht nur auf einzelne Mängel des Systems beziehen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 –, juris Rn. 6; EuGH, Urt. v. 21.12.2011 – C- 411/10, C-493/10 -, juris Rn. 80; VGH BaWü, Urt. v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13, – juris Rn. 41). Diese Grundsätze konkretisierend hat der Europäische Gerichtshof in seiner „Jawo“-Entscheidung ausgeführt, dass Schwachstellen im Asylsystem nur dann als Verstoß gegen Art. 4 der EU-Grundrechte-Charta bzw. Art. 3 EMRK zu werten sind, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Die hohe Schwelle der Erheblichkeit kann nach dem Europäischen Gerichtshof dann erreicht sein, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. dazu insgesamt EuGH, Urt. v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 91 ff.). Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC kann auch in einer Inhaftierung eines Asylbewerbers liegen. Art. 3 EMRK verpflichtet die Mitgliedstaaten unter anderem, sich zu vergewissern, dass die Bedingungen der Haft mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sind und dass Art und Methode des Vollzugs der Maßnahme den Gefangenen nicht Leid oder Härten unterwirft, die das mit einer Haft unvermeidbar verbundene Maß an Leiden übersteigt, und dass seine Gesundheit und sein Wohlbefinden unter Berücksichtigung der praktischen Bedürfnisse der Haft angemessen sichergestellt sind. Die Beurteilung des Vorliegens eines Mindestmaßes an Schwere ist der Natur der Sache nach relativ. Sie hängt von allen Umständen des Falles ab, wie der Dauer der Behandlung, ihren physischen und mentalen Auswirkungen und in einigen Fällen dem Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers. Rufen die Haftbedingungen in ihrer Gesamtheit Gefühle der Willkür und die damit oft verbundenen Gefühle der Unterlegenheit und der Angst sowie die tiefgreifenden Wirkungen auf die Würde einer Person hervor, verstoßen sie gegen Art. 3 EMRK (vgl. EGMR, Urt. v. 21.01.2011 - 30696/09 - M.S. S./Belgien u. Griechenland, juris Rn. 216, 219, 221, 233). Für die Frage, ob die angegriffenen Haftbedingungen als erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK anzusehen sind, fällt der extreme Mangel an persönlichem Raum stark ins Gewicht. Daneben sind andere Aspekte der physischen Haftbedingungen - etwa der Zugang zu Bewegung im Freien, natürliches Licht oder Luft, die Verfügbarkeit von Belüftung und die Einhaltung grundlegender sanitärer und hygienischer Anforderungen - relevant (vgl. EGMR, Urt. v. 21.01.2011 - 30696/09 - M.S. S./Belgien u. Griechenland, Rn. 222; Urt. v. 10.01.2012 - 42525/07 und 60800/08 - Ananyev u.a./Russland, Rn. 143 ff., Urt. v. 20.10.2016 - 7334/13 - Mursić/Kroatien, Rn. 103 ff., und vom 11.03.2021 - 6865/19 - Feilazoo/Malta, Rn. 82 f.).
Nach diesen Maßgaben liegen ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Litauen seit dem vergangenen Sommer systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung begründen könnten. Als Reaktion auf den von Belarus provozierten massiven Anstieg illegaler Grenzübertritte von Migranten aus Drittstaaten hat Litauen im Juli und August 2021 sein Asylsystem verschärft. Daraufhin hat die Menschenrechtskommissarin des Europarates bereits am 10.08.2021 in einem Brief an die litauische Premierministerin ihre Sorge darüber zum Ausdruck gebracht, dass durch die Gesetzesänderung maßgebliche Verfahrensgarantien abgeschafft würden, dass es in der Praxis zu Push-Back-Aktionen komme und dass die Unterbringung der neu eingetroffenen Migranten und Asylbewerber das Risiko einer de-facto-Inhaftierung berge, und appelliert, den Verpflichtungen Litauens als Unterzeichnerstaat der EMRK nachzukommen (Council of Europe, The Commissioner vor Human Rights, CommHR/DM/sf 030-2021). Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) hat in einer Stellungnahme zu den Asylrechtsänderungen vom 27.09.2021 neben verschiedene anderen Aspekten (u.a. Kritik an Rechtsschutzeinschränkungen und Refoulement) herausgearbeitet, dass es für Asylbewerber unter den aktuellen rechtlichen Bedingungen wahrscheinlich ist, während der gesamten Verfahrensdauer ohne formale Haftanordnung in geschlossenen Einrichtungen gehalten zu werden (UNHCR observations on draft Amendments to the Law of the Republic of Lithuania on Legal Status of Aliens (No 21-29207), S. 5). In einer Presserklärung vom 11.10.2021 hat der UNHCR mitgeteilt, dass die Mehrheit der Asylbewerber einschließlich vulnerabler Gruppen weiterhin in geschlossenen und stark überfüllten Einrichtungen ohne angemessenen Zugang zu grundlegender Versorgung untergebracht sei. Für einige sei das seit über drei Monaten der Fall und habe ernsthafte Auswirkungen auf ihr Wohlbefinden. Mit den kommenden Winterbedingungen werde sich die Situation weiter verschärfen (UNHCR, Acknowledging the extraordinary situation in Lithuania, UNHCR raises concerns about legislative response and accommodation conditions, Press statement form UNHCR’s Representation für the Nordic an Baltic Countrys on situation in Lithuania). Am 21.12.2021 hat auch der UN-Ausschuss gegen Folter in seinem vierten periodischen Bericht zu Litauen die aktuelle Entwicklung kritisiert und Litauen zu Gegenmaßnahmen aufgefordert. Er geht ebenfalls davon aus, dass Asylbewerber sich ohne Zugang zu Rechtsschutz in anhaltender de facto-Haft befinden und zeigt sich besorgt angesichts von Berichten über Überfüllung, Mangel an Heizung, warmem Wasser und Trinkwasser, minderwertige Nahrung, eingeschränkten Zugang zu medizinischem Service und Mangel an Privatsphäre, Sanitäreinrichtungen und Hygiene in Asylbewerberunterkünften (United Nations, Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment, Committee against Torture, Concluding observations on the fourth periodic report of Lithuania, CAT/D/LTU/CO/4, S. 3 f). Der Kammer liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass Asylbewerber, die im Rahmen von Verfahren nach der Dublin III-VO nach Litauen zurückgeführt werden, anders untergebracht und versorgt werden. Leider hat die Antragsgegnerin auf wiederholte Nachfragen des Gerichts zu ihren Erkenntnissen hinsichtlich der Unterbringung von Asylbewerbern lediglich auf ihren Bescheid vom 28.10.2021 verwiesen, der jedoch keine Informationen über die Situation seit Sommer 2021 enthält, sondern nur referiert, es gebe insgesamt 206 Unterbringungsplätze für Asylbewerber und anerkannte Flüchtlinge. Dass diese Kapazität angesichts der über 4000 illegalen Migranten im Jahr 2021 nicht ausreicht, liegt auf der Hand. Abschließend ergibt sich auch aus dem Vorschlag der Europäischen Kommission für einen Beschluss des Rates über vorläufige Sofortmaßnahmen zugunsten von Lettland, Litauen und Polen vom 01.12.2021 (COM(2021) 752 final, 2021/0401 (CNS)) bereits deshalb keine veränderte Betrachtungsweise, weil dieser Beschluss bislang vom Rat nicht gefasst worden ist.
Demnach bestehen im Hauptsacheverfahren mindestens offene Erfolgsaussichten für die Klage gegen die Abschiebungsanordnung. Angesichts der Schwere der dem Antragsteller möglicherweise drohenden Rechtsbeeinträchtigungen, die nicht oder nur schwer rückgängig zu machen wären, überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Vollzugsinteresse (im Ergebnis ebenso: VG Braunschweig, Beschl. v. 22.12.2021 – 6 B 507/21 – V.n.b., Abdruck S. 6 ff.; VG Düsseldorf, Beschl. v. 22.12.2021 – 12 L 2301/21.A -, juris Rn. 41 ff.; die unveröffentlichten ablehnenden Beschlüsse des VG Oldenburg vom 27.10,2021 - 11 B 3168/21 - und vom 05.11.2021 - 11 B 3367/21 - und des VG Osnabrück vom 22.11.2021 - 5 B 108/21 - und vom 31.01.2022 - 5 B 10/22 - setzen sich ebenso wie die Antragsgegnerin nicht mit den aktuellen Erkenntnismitteln auseinander).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtkostenfrei.