Sozialgericht Osnabrück
Urt. v. 01.06.2016, Az.: S 22 AS 285/13
Höhe der abzusetzenden Freibeträge vom Einkommen beim Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes
Bibliographie
- Gericht
- SG Osnabrück
- Datum
- 01.06.2016
- Aktenzeichen
- S 22 AS 285/13
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2016, 21025
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGOSNAB:2016:0601.S22AS285.13.0A
Rechtsgrundlagen
- § 1 Abs. 7 S. 1 ALG
- § 11 SGB II
- § 11a SGB II
- § 11b Abs. 2 SGB II
Tenor:
Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 14. März 2012 in der Fassung des Widerspruchbescheides vom 15. Februar 2013 verurteilt den Klägern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) im Zeitraum 01.11.2011 bis zum 30.04.2012 unter Berücksichtigung eines Freibetrages von 175,00 Euro auf Einkünfte aus Bundesfreiwilligendienst zu gewähren und nachzuzahlen. Die Berufung wird zugelassen. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger.
Tatbestand
Streitig ist die Absetzung von Freibeträgen auf Einkünfte und damit verbunden die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) im Zeitraum November 2011 bis einschließlich April 2012.
Die Kläger standen im obengenannten Zeitraum im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II beim Beklagten. Mit Bescheid vom 14. März 2012 änderte der Beklagte die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Kläger im Zeitraum November 2011 bis einschließlich April 2012. Die Bewilligung erfolgte vorläufig. Der Kläger zu 1. erhielt in diesem Zeitraum Einkommen aus Aufwandsentschädigung des Bundesfreiwilligendienstes (ab Februar 2012) sowie zusätzlich Einnahmen aus abhängiger Beschäftigung in einem Gastronomiebetrieb. Beide Einkunftsarten wurden vom Beklagten als Einkünfte aus Erwerbstätigkeit geführt. Es wurden ein Grundfreibetrag von 100,00 Euro sowie die weiteren Prozentualen Erwerbstätigenfreibeträge abgesetzt.
Hiergegen haben die Kläger am 13. April 2012 Widerspruch erhoben. Die Einkünfte aus Bundesfreiwilligendienst seien nicht anrechenbar. Es handele sich um Zweckbestimmte Einnahmen. Zumindest sei der erhöhte Grundfreibetrag von 175,00 Euro anzusetzen.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15. Februar 2013 zurück. Aufgrund der Vorschriften der Arbeitslosengeld II/ Sozialgeldverordnung (ALG II-V) ist der erhöhte Absetzbetrag bei Einkünften aus Bundesfreiwilligendienst dann nicht zu berücksichtigen, wenn gleichzeitig eine Erwerbstätigkeit vorliegt.
Hiergegen haben die Kläger mit Schriftsatz vom 19. März 2013, beim Sozialgericht Osnabrück am 19. März 2013 eingegangen Klage erhoben. Bei den Einkünften aus Bundesfreiwilligendienst handele es sich um zweckbestimmte Einnahmen. Zumindest sei der erhöhte Grundfreibetrag zu berücksichtigen.
Mit Bescheid vom 18. Mai 2015 setzte der Beklagte die Leistungen im Zeitraum November 2011 bis einschließlich April 2012 für die Kläger endgültig fest.
Die Kläger beantragen,
den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 14. März 2012 in der Gestalt seines Widerspruchsbescheides vom 15. Februar 2013 zu verpflichten, den Klägern Leistungen nach Maßgabe des SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte verweist auf die Begründung des Widerspruchsbescheides.
Die Verwaltungsvorgänge des Beklagten lagen dem Gericht bei der Entscheidung vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf diese sowie auf die Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Das Gericht konnte gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten ihre Zustimmung hierzu erklärt haben.
Die gem. § 54 Abs. 1 und 4 SGG zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Verwaltungsakt ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten.
Die Kläger haben Anspruch auf Berücksichtigung eines höheren Freibetrages auf das Einkommen aus Bundesfreiwilligendienst des Klägers zu 1. im Zeitraum Februar bis einschließlich April 2012 und damit auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II.
Streitgegenständlich ist der Bescheid vom 14. März 2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15. Februar 2013 in der Fassung der endgültigen Festsetzung vom 18. Mai 2015. Soweit der endgültige Bescheid vom 18. Mai 2015 nicht im Tenor erwähnt wird, handelt es sich insoweit um ein Versehen. Der Beklagte hat auch in diesem Bescheid keinen besonderen Freibetrag aus Einkünften aus Bundesfreiwilligendienst berücksichtigt. Die gerichtliche Entscheidung betraf jedoch gerade dies.
Der Beklagte hat die Bedarfe der Kläger in den Monaten November 2011 bis einschließlich April 2012 korrekt im Bescheid vom 18. Mai 2015 berücksichtigt. Insoweit nimmt die Kammer nach eigener Prüfung Bezug auf diese Entscheidung.
Sowohl die Einkünfte aus Bundesfreiwilligendienst als auch die Einkünfte aus Erwerbstätigkeit sind Einkommen in Sinne des § 11 SGB II. Bei den Einkünften aus Bundesfreiwilligendienst handelt es sich nicht um nicht zu berücksichtigendes Einkommen im Sinne des § 11a SGB II. Insbesondere handelt es sich nicht zweckbestimmte Einnahmen (vgl. Thüringer LSG, Urteil vom 23.09.2015, L 4 AS 17/15, insbesondere Rdn.: 36, zitiert nach ) oder Zuwendungen der freien Wohlfahrtspflege (Thüringer LSG, a.a.O.).
Die Absetzbeträge vom Einkommen aus Erwerbstätigkeit richten sich nach § 11b. Vorliegend richten sich die Absetzbeträge nach § 11b Abs. 2 SGB II, da der Kläger zu 1. im streitbefangenen Zeitraum Einkünfte von unter 400,00 Euro aus Erwerbstätigkeit erwirtschaftet hat.
Das Thüringische LSG hat in seinem Urteil vom 23.09.2015, L 4 AS 17/15 Folgendes ausgeführt, dem sich die erkennende Kammer nach eigener Prüfung anschließt:
Die Absetzbeträge vom Bundesfreiwilligendienst richten sich nach § 1 Abs. 7 Satz 1 ALG II-V. Danach sind von Einkünften aus Bundesfreiwilligendienst im Jahre 2012 175,00 Euro als Freibetrag abzusetzen. Mit der Verabschiedung des Bundesfreiwilligendienstgesetztes (BFDG) wurde zeitgleich § 1 Abs. 1 Nr. 13 ALG II-V mit Wirkung zum 03. Mai 2011 dahingehend geändert, dass außer den in § 11a SGB II genannten Einnahmen vom Taschengeld nach § 2 Nr. 4 BFDG ein Betrag in Höhe von 60,00 Euro nicht als Einkommen zu berücksichtigen ist. Hiermit wurde die seit dem 01. Januar 2009 geltende Regelung für den Jugendfreiwilligendienst auf den Bundesfreiwilligendienst ausgedehnt. Der Freibetrag bestand neben den gesetzlichen Absetzbeträgen nach § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3-5 SGB II. Einen Ausschluss der Anwendbarkeit der Regelung des § 1 Abs. 1 Nr. 13 ALG II-V weiter neben ausgeübter Erwerbstätigkeit enthielt die ALG II-V nicht. Nach der Begründung des Entwurfs zur 6. Verordnung zur Änderung der Arbeitslosengeld II/ Sozialgeld-Verordnung ersetzten die am 01. Januar 2012 in Kraft getretenen Regelungen des § 1 Abs. 7 ALG II-V die bisherigen Absetzbeträge nach § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3-5 SGB II und nach § 1 Abs. 1 Nr. 13 ALG II-V. Die Neuregelung erfolgte, da sich die bisher im Einzelfall festzustellenden Absetzbeträge nach § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3-5 SGB II in der Praxis als zu Verwaltungsaufwändig und bürokratisch bewiesen hatten. Mit der Neuregelung entfiel die Verwaltungsaufwändige Summierung von Taschengeld, Versicherungspauschale und der mit dem Freiwilligendienst verbundenen notwendigen Ausgaben. Eine beabsichtigte Einschränkung des finanziellen Vorteils gegenüber der Vorgängerregelung des § 1 Abs. 1 Nr. 13 ALG II-V lässt sich der Begründung zum Verordnungsentwurf nicht entnehmen. Vielmehr stellt nach der Begründung Satz 2 der Vorschrift sicher, dass durch die Pauschalierung keine Schlechterstellung im Vergleich zur bisherigen Rechtslage eintritt.
Die Kammer ist der Auffassung, dass vorliegend nicht der allgemeine Grundfreibetrag aus Erwerbstätigkeit von 100,00 Euro lediglich auf 175,00 beziehungsweise aktuell 200,00 Euro heraufzusetzen ist. Hierbei bliebe unberücksichtigt, dass die allgemeinen Freibeträge nicht ausschließlich einem Anreiz zur Aufnahme einer Tätigkeit dienen, sondern ebenfalls die notwendigen Ausgaben, die mit der Erzielung des Einkommens unabhängig von der Art verbunden sind, auch vom Leistungsempfänger getragen werden können. Es wäre denkbar, dass der Leistungsempfänger aufgrund zweier verschiedener Einkommensarten und damit verbundenen verschiedenen Einsatzorten deutlich höhere Ausgaben gem. § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 - 5 SGB II geltend machen könnte. Dies könnte jedoch aufgrund der zu geringen Gesamthöhe aufgrund der weiteren Vorschriften des § 11b SGB II nicht möglich sein. So wäre denkbar und ist vorliegend auch der Fall, dass das Einkommen aus Erwerbstätigkeit zusammen mit dem Einkommen aus Bundesfreiwilligendienst unter 400,00 Euro liegen. Würde andererseits das Einkommen insgesamt derartig hoch sein, dass die Absetzbeträge geltend gemacht werden könnten, würde die Zweckrichtung der Vereinfachung der Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II sowohl für Leistungsträger als auch für Leistungsempfänger konterkariert werden, indem Leistungsempfänger ihre Ausgaben nachweisen müssten und der Leistungsträger diese entsprechend berechnen müsste.
Darüber hinaus würde § 1 Abs. 7 Satz 4 ALG II-V dazu führen, dass von Einkünften aus Bundesfreiwilligendienst überhaupt keine Absetzbeträge geltend gemacht werden könnten. Gem. § 11b Abs. 2 ist der allgemeine Betrag von 100,00 Euro monatlich von Einkünften aus Erwerbstätigkeit abzusetzen. Auch die weiteren Absetzbeträge gem. § 11b Abs. 3 sind lediglich vom Einkommen aus Erwerbstätigkeit abzusetzen. Die Einkünfte aus Bundesfreiwilligendienst sind jedoch keine Einkünfte aus Erwerbstätigkeit (s.o.). Aufgrund der Formulierung in § 1 Abs. 7 ALG II-V geht auch der Gesetzgeber davon aus, dass der Bundesfreiwilligendienst keine Erwerbstätigkeit darstellt. Nach der Zweckrichtung des Bundesfreiwilligendienstes ist dieser ein Ehrenamt. § 1 BFDG führt aus, dass sich im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes Personen für das Allgemeinwohl, insbesondere im sozialen, ökologischen und kulturellen Bereich, sowie im Bereich des Sports, der Integration und des Zivil- und Katastrophenschutzes engagieren. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass Tätigkeiten im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes nicht an Mindestlöhne gebunden sind. Es handelt sich dabei nicht um eine geringfügige oder sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Die Einkünfte sind bis zu einem gewissen Lebensalter auch steuerlich privilegiert. Eine Absetzung von Freibeträgen für Erwerbstätigkeit scheidet daher aus (vgl. Thüringer LSG, Urteil vom 23. September 2015, L 4 AS 17/15, Rdn. 49, zitiert nach ).
Aufgrund des oben genannten ist § 1 Abs. 7 Satz 4 ALG II-V nicht anzuwenden. Die Kammer ist der Überzeugung, dass hier eine Benachteiligung derjenigen erfolgt, die eine dem Ehrenamt vergleichbare Tätigkeit im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes ausüben, im Vergleich zu denjenigen, die eine als Ehrenamt deklarierte Tätigkeit ausüben. Dies ist mit der Zweckrichtung des Bundesfreiwilligendienstes nicht vereinbar. Die Kammer ist der Überzeugung, dass sowohl ehrenamtliche Tätigkeiten als auch solche im Bundesfreiwilligendienst gleich zu fördern sind. Da es sich bei der ALG II-V lediglich um eine Verordnung handelt, steht der Kammer auch eine entsprechende Verwerfungskompetenz zu (vgl. BSG, Urteil vom 24.11.1998, B 1 A 1/96 R, Rdn. 14).
Die Absetzbeträge für Erwerbstätigkeit und Einkünfte aus ehrenamtlicher Tätigkeit bzw. auch aus Freiwilligendienst sind für jede Tätigkeit gesondert anzusetzen und können nebeneinander Anwendung finden (vgl. BSG Urteil, vom 28. Oktober 2014, B 14 AS 61/13 R).
Der Urteilstenor ist aufgrund des Vorgenannten dahingehend auszulegen, dass mit der Verurteilung auch die endgültige Festsetzung vom 18. Mai 2015 geändert werden sollte (vgl. zur Auslegung des Tenors Bolay in DK., SGG, 4. Auflage, § 136 Rdn. 9). Die versehentliche Unvollständigkeit hat keine Auswirkungen auf die Entscheidung. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes sind in Fällen des unvollständigen Tenors die Urteilsgründe heranzuziehen. Soweit sich aus ihnen ergibt welche Entscheidung getroffen werden sollte besteht die Möglichkeit des Antrages zur Urteilsberichtigung gem. § 140 SGG (vgl. BSG Beschluss vom 13.04.2000, AZ B 7 AL 222/99B).
Die Berufung war zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat und noch ungeklärt ist (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und orientiert sich am Ausgang des Verfahrens.
Rechtsmittelbelehrung: Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Georg-Wilhelm-Str. 1, 29223 Celle, oder bei der Zweigstelle des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen schriftlich oder in elektronischer Form nach Maßgabe der Niedersächsischen Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr in der Justiz vom 21.10.2011 (Nds. GVBl. S. 367) in der jeweils aktuellen Fassung oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Monatsfrist bei dem Sozialgericht Osnabrück, Hakenstraße 15, 49074 Osnabrück, schriftlich oder in elektronischer Form oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. Die Berufungsschrift muss innerhalb der Monatsfrist bei einem der vorgenannten Gerichte eingehen. Sie soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung der Berufung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben. Auf Antrag kann vom Sozialgericht durch Beschluss die Revision zum Bundessozialgericht zugelassen werden, wenn der Gegner schriftlich zustimmt. Der Antrag auf Zulassung der Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Sozialgericht Osnabrück, Hakenstraße 15, 49074 Osnabrück, schriftlich oder in elektronischer Form zu stellen. Die Zustimmung des Gegners ist dem Antrag beizufügen. Ist das Urteil im Ausland zuzustellen, so gilt anstelle der obengenannten Monatsfrist eine Frist von drei Monaten. Lehnt das Sozialgericht den Antrag auf Zulassung der Revision durch Beschluss ab, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Berufungsfrist von neuem, sofern der Antrag auf Zulassung der Revision in der gesetzlichen Form und Frist gestellt und die Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt war. Der Berufungsschrift und allen folgenden Schriftsätzen sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden. Dies gilt nicht bei Einlegung der Berufung in elektronischer Form.